Meyers Konversations-Lexikon, 1875
Die Urteile über die Zukunft des Reichs der Mandschu sind geteilt.
Die Russen und ihre Beamten, wie Sacharow, Radloff u. a., sind der Ansicht, ihre Macht neige sich dem Ende zu, und stützen diese Meinung auf den trostlosen Zustand der Westprovinzen, auf die ununterbrochenen Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit, die jetzt selbst in der Nähe der Haupstadt abnimmt, und auf die sehr ungünstige Finanzlage.
Karl v. Scherzer, der 1869—70 China zum zweitenmal im Gefolge der Gesandtschaft besuchte, welche den im Januar 1872 endlich ratifizierten neuen Handelsvertrag mit der österreichisch-ungarischen Monarchie abschloss, hält Handelsverkehr im Innern des Landes für unmöglich, "weil Bevölkerung und Behörden nicht durch den Anblick der Batterien fremdländischer Kriegsschiffe eingeschüchtert werden können".
Dr. Gumpach, Professor am Kollegium für fremde Wissenschaften in Peking, nennt die Chinesen in einem 1872 erschienenen, gegen Burlingame gerichteten Buch "ein halbbarbarisches, eingebildetes, unwissendes Volk", welches auf gleichem Fuß mit Europäern zu behandeln Torheit wäre.
V. Richthofen, der seit 1868 die inneren Teile von China bereiste, ist dagegen der Meinung, die Kultur der Chinesen sei nicht verbraucht, sondern nur noch unentwickelt; es sei ihnen noch eine bedeutende Rolle vorbehalten.
Robert Hart, Generalinspektor der chinesischen Zölle, ist der Ansicht, dass China sich heben könne, wenn es sich mit den fremden Mächten gut stelle, ihre Erfindungen sich aneigne und einen liberalen Zolltarif einführe, der die Ausbeutung der Kohlenlager usw. erlaube.
Die Regierung zeigt sich abgeneigt gegen Eisenbahnen und gute Straßen; das Volk dagegen erkennt ihren Nutzen und wünscht sie, es wird aber von den Mandarinen vielfach irre geleitet und zeigt sich in seiner Masse den Fremden noch feindselig. Die Regierung ist neuer Verwickelungen mit den Vertragsmächten gewärtig; darauf deuten nicht bloß die zahlreichen Küstenbefestigungen hin und das Bestreben, die Armee kämpftüchtiger zu machen; auch das mit Japan abgeschlossene Schutz- und Trutz-Bündnis, dessen Existenz erst Ende 1871 bekannt wurde, ist ein Beweis dafür. Neuerlich find aber die Beziehungen zu Japan sehr gespannt geworden, seitdem letzteres am 9. April 1874 Truppen nach Formosa sandte, um die dortigen Eingebornen für die Unbilden zu züchtigen, welche sie japanesischen Schiffbrüchigen zufügten. Formosa ist auf der Westseite von China kolonisiert, und dies es fürchtete, die japanesische Invasion könne zu dauernder Okkupation eines Teils dieser fruchtbaren Insel führen, deren Umfang nahezu dem der Schweiz gleichkommt. Es kam zu heftigen diplomatischen Erörterungen, beide Teile rüsteten auch energisch zum Krieg, und da die Bevölkerung in China wie in Japan sich auf Seite der Regierung stellte, so lässt sich gegenwärtig das Ende der Verwickelung noch nicht absehen. Im eigentlichen China mit seiner Bevölkerung von mehr als 300 Millionen gilt zur Zeit noch der Wille der Regierung, und ein Verfallen dieses Teils des Reichs steht jedenfalls nicht in naher Aussicht.
Die Abneigung der Chinesen gegen alles Fremde, besonders wenn dasselbe politischen Einfluss gewinnen und als ein Staat im Staat sich gebärden will, zeigte sich in dem Blutbad Von Tientsin. Für die gefährlichsten unter allen Fremden galten die Franzosen, deren Vertreter ihren Schutz nicht bloß ihren Landsleuten angedeihen lassen, sondern auch auf die zum Katholizismus bekehrten Chinesen ausdehnen wollten. Um ihnen den Aufenthalt in China zu verleiden, wurde der Pöbel der Stadt Tientsin durch allerlei Vorspiegelungen, auch durch die Angabe, dass die französischen Missionäre chinesische Kinder raubten, gegen die Franzosen aufgereizt. Infolge dessen wurden am 21. Juni 1870 der französische Konsul und sein Sekretär, die zur katholischen Mission gehörigen barmherzigen Schwestern, Jesuiten und Lazaristen und einige andere Franzosen, Männer und Frauen (aus Irrtum auch drei Russen), getötet, während den übrigen Franzosen nichts Übles zugefügt wurde.
Bald darauf (22. August) wurde der Gouverneur von Nanking, Ma, von einem
chinesischen Studenten ermordet, weil er die Fremden begünstige, und in den
ersten Tagen des Oktober fanden in den Seestädten mehrere Angriffe auf Fremde,
auch Ermordungen statt. Im Regentschaftsrat in Peking war davon die Rede, alle
Franzosen aus dem Land zu jagen, ja sogar auf fanatische europäische
Niederlassungen einen Angriff zu machen. Prinz Kong, des letzten Krieges sich
erinnernd, stimmte für Erhaltung des Friedens und setzte durch, dass ein
Mandarin nach Paris geschickt wurde, um das Bedauern der chinesischen Regierung
über das Blutbad von Tientsin auszudrücken, und dass die Behörden dieser
Stadt, welche der Schandtat ruhig zugesehen hatten, abgesetzt und einige Leute
aus den untersten Volksklassen hingerichtet oder ins Gefängnis geworfen wurden;
doch verlangte die chinesische Regierung im Juni 1871 in einem Rundschreiben
Änderungen derjenigen Bestimmungen in den mit den fremden Mächten
abgeschlossenen Verträgen, welche die Stellung der Missionäre betrafen, um
ihre eigene Gerichtsbarkeit gegen die Zudringlichkeit derselben zu wahren.
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