Shanghai
6. und 7. Jänner 1863 II

  Joseph Maria von Radowitz (Briefe aus Ostasien)

Nächtliche Studie

Danach hatte ich kaum Zeit, mich nach Hause schleppen zu lassen und dort den Palankin mit dem Pferde zu vertauschen, um auf dem französischen Konsulate mit Weng-Feng zusammenzutreffen, der zur Redaktion des Protokolles entsendet war. Das dauerte wiederum 2 Stunden, weil Weng-Feng über jede Phrase eine Debatte eröffnete und über jedes einzelne chinesische Zeichen nachdenklich wurde. Es gehört zu den schwierigsten Dingen, selbst die gelehrten Chinesen Sachen schreiben zu lassen, die ihnen fremd sind; da sie für jede in ihrem Horizont auftauchende neue Idee eine geraume Zeit zur Entdeckung der entsprechenden Schriftcharaktere notwendig haben.

Ehrenerklärung sei deswegen hiermit allen türkischen Schriftgelehrten gewährt, welche ich früher für das non plus ultra von Schwerfälligkeit gehalten habe: ich versichere jetzt, dass sie sämtlich muntere, behende und kulante Leute sind.

Endlich war auch Weng-Feng erledigt und wir besaßen nun das Dokument, das am folgenden Tage den feierlichen internationalen Akt zwischen uns und den chinesischen Autoritäten besiegeln sollte. Ich saß noch die halbe Nacht, um die deutschen Protokolle in diversen Ausfertigungen und die Berichte über das Ereignis vorzubereiten.

Am 6., gestern, waren wir zu allem fertig: die Staatspalankine in schönstem Putz, die Kulis mit frisch geflochtenen Zöpfen, Waldheim im neuen Winterkostüm, mit roter Nase und weißer Krawatte, ich selbst im Begriff, dem Malteser das richtige Höhen- und Tiefenverhältnis anzuweisen: von ferne wälzten sich zwei andere Palankinzüge heran, enthaltend den Hamburger Konsul und unseren Vizekonsul, im »Garten« ertönte das Säbelgerassel des prinzlichen Attaché: - da, ha! ein Brief ... (er tritt seitwärts an die Waschtischkulisse und entfaltet den Brief; Pause; hierauf sinkt er vernichtet zusammen und der Brief entgleitet seinen Händen. Ein Mann aus dem Parterre, der wissen will, was darin gestanden, holt ihn und liest folgendes:)

Mon cher Monsieur de Radowitz, Je viens de recevoir la visite de Weng-Feg, qui nous annonce que Lian [?] ne signera pas le protocole, ou que ses instructions ne lui permettent pas d'accepter le paragraphe relatif aux 22 documents Allemands. Dans ce cas il n'est pas necessaire de nous deranger pour la ceremonie. Veuillez vite me dire ce qu'il faut répondre. Quels animaux!!

Tout á vous Lemaire.

Der erste Wutausbruch war groß, aber die Sache war klar: wir standen vor einer chinesischen Erfahrung, wie sie alle durchmachen müssen, die hier etwas suchen: dass die Erfolge scheitern im Augenblicke, wo man ihrer sicher zu sein glaubt. Und zwar durch dies einfache Mittel des Wortbruchs und der Perfidie.

Unsere Antwort konnte nur darin bestehen, dass wir die Ratifikationsverhandlung und mit ihr jeden Verkehr mit den chinesischen Behörden vorläufig abbrechen und es nunmehr der Zeit überlassen müssen, ob die Mandarine nicht doch die Verantwortung für ihre Handlungsweise fürchten und wieder einlenken werden. Leider ist im gegenwärtigen Momente die Wasserkommunikation nach Peking abgeschnitten, da der Beihe bereits seit zwei Monaten in seinem regulären Wintereis sich befindet. Wir würden sonst direkt nach Peking zu gehen haben, ohne auf die hiesigen Mandarine zu warten.