Shanghai
6. und 7. Jänner 1863

  Joseph Maria von Radowitz (Briefe aus Ostasien)

Nächtliche Studie

Ich habe schon davon geschrieben, dass unsere erste Hauptaufgabe, die Ratifikation des Vertrages vom 2. September 1861, durch die Dickköpfigkeit und Trödelei der chinesischen Mandarine sich über die Gebühr langsam entwickelte. Mit Anfang des Jahres 1863 waren wird endlich soweit, dass der Kommissar (der dreimal hintereinander gewechselt worden) sich präsentierte und dass die wirklichen Verhandlungen beginnen konnten. Da wir die Aufgabe hatten, nicht nur für Preußen, sondern für sämtliches Deutschland, inklusive Reuß-Greiz, Ratifikationsurkunden zu übergeben und zu verlangen, so war zu erwarten, welche Schwierigkeiten daraus sofort für die Verhandlungen beginnen würden; denn obgleich Neulinge im Himmlischen Reiche, waren wir doch schon zu der Erkenntnis gelangt, dass das chinesische Mandarinentum die Ehre, mit so vielen Hoheiten und Durchlauchten, den Selbstherrschern so zahlreicher fremder Staaten, in autographische Verbindungen zu treten, nicht richtig verstehen würde. 

Wirklich fanden die chinesischen Staatsmänner sich außerstande, ebenso viele Urkunden uns wiederzugeben, als wir im Namen der deutschen Landesväter ihnen überreichen sollten. Nach längerem Hin- und Herkonferieren wurde von uns vorgeschlagen, nur die preußischen Dokumente auszuwechseln, trotzdem aber den Vertrag für das »ganze Deutschland« gültig zu erklären. Aber en vertu de nos instructions, dictées par les sentiments du plus haut respect, vis-á-vis des Souverains Conféderés de l'Allemagne mussten wir verlangen, dass eine Erklärung im Ratifikationsprotokolle aufgenommen werden sollte, aus welcher hervorginge, dass die von uns offerierten Dokumente der deutschen Souveräne nicht hätten ausgetauscht werden können, weil der chinesische Bevollmächtigte für diesen Fall noch keine Instruktionen besessen habe und sich solche aus Peking vom Himmelssohne erbitten werde.

Darüber waren wir seit Weihnachten in Verhandeln mit dem »Großrichter der Provinz Jiangsu, Großschatzmeister und Kaiserlichem Kommissar« Lian [?], samt seinem beigeordneten Mandarin Weng-Feng. Endlich, vorgestern (am 5.) war es soweit, dass ich zunächst mit Herrn Lemaire, dem französischen Interprète du Consulat, der unsere Hauptstütze ist, dem besagten Lian [?] auf den Leib rücken konnte, um alles für den feierlichen Akt mit ihm abzumachen.

Wir zogen in zwei Staatspalankinen, jeder von vier in den respektiven Landesfarben gekleideten Kulis getragen, zum Hong (Staatswohnung) des Kommissars. Die Passage durch die Straßen der chinesischen Stadt Schanghai ist ein schmutziges und halsbrecherisches Vergnügen. Die Straßen oder vielmehr Rinnen sind gerade breit genug, um l 1/2 Menschen nebeneinander gehen zu lassen und werden völlig verstopft, wenn ein Palankin sich darin bewegt. Unbegreiflich wie hier menschliche Geschöpfe nicht nebeneinander, sonder auf- und untereinander vegetieren. 

Die Wohnungen der Mandarine sind dafür desto weitläufiger ausgedehnt. Der Hong unseres Freundes ist zugleich der oberste Gerichtshof, was durch eine Kollektion schauerlicher Drachen- und Ungeheuerabbildungen an jedem freien Stück Wand dem Publikum eingeschärft wird. Außerdem befanden sich nicht weit vom ersten Eingangstor als lebendige Illustration der Gerechtigkeit einige Delinquenten in dem Kang, d.h. mit dem Kopf und beiden Händen durch ein mehr oder minder schweres Holzgestell gesteckt, das sie auf der Schulter tragen, stehend oder kniend, je nachdem das Gewicht sie zu Boden drückt. An dieser Maschine hängt eine Tafel, auf der die Untat ihres Inhabers erzählt ist, und nach deren Gesichtern zu urteilen scheinen die Halskragen von Holz eine unbequeme Toilette zu sein. 

Die eigentliche Wohnung von Lian [?] erreicht man, nachdem man vier Höfe passiert hat, jeder mit einem weiten Holztore versehen, das ebenfalls von bunten Ungeheuern, Laternen und allerhand Schnörkeln wimmelt und von je zwei mächtigen steinernen Drachen zu beiden Seiten gehütet wird. In jedem Hofe befindet sich eine Anzahl schmieriger Chinesen, von denen einzelne offizielle Jacken und Kappen, auch wohl mit den niederen Mandarinknöpfen (goldene oder Glaskugeln) tragen. Im letzten ist eine Versammlung von auserlesenen Individuen. Hier wird der Erwartete durch ein, je nach seinem Range mehr oder minder großes Geschrei und Blasen auf diversen Nachtwächterhörnern sowie Anschlagen an Kupferplatten und Gongs empfangen. Bei Militärmandarins wird auch aus kleinen Böllern oder in Ermangelung derselben aus langen Luntenflinten geschossen.

Wenn man aus einem Palankin herausgekrochen ist, wartet man an der Türe, bis der Hausherr, der Etikette gemäß, daselbst zum Empfange erscheint und sein Tschin-Tschin macht. Tschin-Tschin ist im allgemeinen jeder Gruß und jede Höflichkeitserzeigung in Wort und Gebärde, letztere darin bestehend, dass beide Hände geballt und aneinander geschlossen aufgehoben und dabei eine bis zehn Verbeugungen gemacht, auch viel gegrinst wird. Eine Hauptsache ist, dass der Kopf bedeckt bleibt, wie auch während der ganzen Dauer des Besuches niemals die Kappe abgenommen werden darf. An letzteres kehren sich die Europäer natürlich nicht; wir grüßen vielmehr bei offiziellen Besuchen die Mandarine nach unserer Art, was ihnen allerdings unsägliches Mitleiden mit dem niederen Grade unserer Bildung und Erziehung einflößt. 

Der Hausherr ergreift darauf den Gast bei der Hand und führt ihn in die Emfpangslokalität. Don wird wieder Tschin-Tschin gemacht und sich niedergelassen: der vornehmste Gast sitzt links auf einem erhöhten Sitze und der Hausherr rechts daneben auf einem korrespondierenden Platze. Die anderen gruppieren sich auf Stühlen, die in zwei Reihen Spalier bilden nach den Hauptplätzen hin und immer durch kleine Tische getrennt sind. Die linke Seite ist stets die Ehrenseite. So sind alle chinesischen Empfangszimmer eingerichtet und alle zeichnen sich durch Mangel an Komfort und Eleganz, selbst an gewöhnlichster Bequemlichkeit aus, dadurch auffallend unterschieden von den Wohnungen der Paschas der Levante. Alle Sitze, mit Ausnahme der Ehrenplätze, sind von Holz und roh gearbeitet. Hin und wieder findet man ein deplaziertes  europäisches  Meuble  als  Schaustück.  Namentlich scheinen die Chinesen europäische Bilder, natürlich von der gemeinsten Sorte, zu schätzen und bei dem ernsthaften Großrichter wie bei dem Gouverneur findet man die »Adele«, »Rosamunde«, »Das Schwesternpaar«, »Der kleine Soldat«, »Pluto, der treue Hund« und ähnlichen Unsinn von bunten Farbendrucken als hochgeschätzte Bildergalerie aufgehängt. In einem sogenannten flower house, den eigentümlichen chinesischen »Hotels«, habe ich auch mitten unter Drachen und Konfuziussprüchen »Ihre Königliche Hoheit die Frau Kronprinzessin von Preußen« in einer Berliner bunten Lithographie vorgefunden, die von den Chinesen sehr bewundert wurde.

Platz zu nehmen ist keine leichte Sache, da die Höflichkeit verlangt, dass es keiner zuerst tut und nur nach einer Unzahl von Tschin-Tschins und Verbeugungen der Vornehmere sich bereit finden lassen soll, voranzusitzen. Die Zeremonie mit dem Platzergreifen pflegen wir Europäer in der Regel abzukürzen, besonders aber dann, wenn man die Absicht hat, den betreffenden Mandarins gegenüber etwas brüsk und ungezwungen aufzutreten, wie es gerade mein Fall mit Lian [?] war. Ich hatte mich demgemäss auch mit überraschender Schnelligkeit bereits auf dem Ehrenplatze etabliert, während er noch damit beschäftigt war, mit Lemaire die ersten Tschin-Tschins auszutauschen. 

Nach Anfeuchtung mit heißem Tee (der ebenfalls nicht von einem zuerst, sondern gemeinschaftlich nach allgemeinen Verbeugungen, Zunicken usw. genommen werden soll) entspann sich die geschäftliche Diskussion, die volle zwei Stunden dauerte und sich meistens im Kreise herumdrehte. Ein Mandarin hat in der Regel nur einen Gedanken oder einen Grund, den er fortwährend wiederholt und allem entgegensetzt, was man ihm sagen kann; und wenn man glaubt, nach einiger Diskussion über irgendeine präliminäre Frage hinweggekommen zu sein, so findet man am Ende, dass der andere noch genau auf seinem alten Standpunkt steht und nur wiederholt, was er vorher gesagt hat und auch noch nachher sagen wird. 

Es handelt sich darum, ihm große Verwicklungen in Aussicht zu stellen, die auf seine Vorgesetzten fallen würden und deren Verantwortung er zu tragen habe; nur vor diesem Argument hat er Furcht. Gründe und Schlüsse gibt es im übrigen nicht. So war es auch hier. Lian [?] repetierte die erste Stunde seine alten Phrasen, wurde dann sichtlich müde (worauf wir erst anfingen uns wohler zu befinden) und erschrak allmählich über die ferneren Komplikationen der Sache, die wir ihm als Folgen seiner Weigerung in bezug auf das Protokoll veranschaulichten. So kamen wir denn allmählich zum Ziele; das Protokoll wurde in seinen Hauptpunkten mündlich abgemacht und Leon die Erklärung abgenommen, dass er nunmehr bei dieser Vereinbarung beharren werde. Die schriftliche Aufsetzung sollte nachher mit Weng-Feng geschehen. Die Ratifikation wurde auf den nächsten Tag, den 6., angesetzt — und wir waren endlich, wo wir sein wollten. Die Konferenz wäre damit beendet gewesen. Aber zu allen Besuchen und Zusammenkünften zwischen höher Gestellten, speziell zwischen europäischen Beamten und Mandarins, gehört, dass der Empfangende ein Frühstück anbietet. Leon hatte offenbar zu dieser Zeremonie keine Lust.

Lemaire machte mich darauf aufmerksam, dass ich unbedingt darauf bestehen müsse. Infolgedessen bat ich ihn, dem Gastfreunde zu eröffnen, ich sei von einem unerklärlichen Hunger und einem rätselhaften Durst befallen und erwarte deshalb eine sofortige Kollation von diversen Kuchen nebst entsprechendem Obste und vielfachen Getränken. Lian [?] behauptete nun, gerade im Begriffe gewesen zu sein, diese Dinge zu bestellen. Sie kamen auch schnell an, die gewöhnlichen horreurs auf kleinen Tellerchen und aus Rücksicht für uns Europäer sogar mit Messer und Gabel. Letztere bestrebt sich der Chinese auch zu handhaben, aber meist, um sich damit in die Finger und in den Mund zu stechen. — Getrunken wird der berühmte chinesische warme Wein, der zuerst schlecht, später ganz gut schmeckt, ferner angebliche europäische Weine von zweifelhafter Komposition, schließlich natürlich Tee und natürlich süperber Tee! Wir tranken Lian [?] seinen warmen Wein aus, der uns sehr wohl tat. 

Danach wurde der Rückzug genommen, nachdem Leon noch einmal hatte versprechen müssen, morgen alles bereit zu halten und darauf zu achten, dass die sämtlichen Anwesenden (die Stube ist nämlich beständig von Mandarins niederen Ranges und von Dienern angefüllt, die bei der ganzen Unterhandlung nicht vom Flecke weichen) sich in full dress befänden - was er alles verhieß und uns an die Palankine zurückgeleitete. Abzug mit erneuten Tschin-Tschins, erneutem Geschrei und erneuten Nachtwächtersignalen. Die vier Drachentore öffnen sich und binnen kurzem zwängt man sich wieder durch die unglaublichen Kanäle, in denen 300.000 Menschen, d.h. Chinesen, ihr Dasein fristen.