Shanghai
Kein Obdach für den neuen Vertreter des Königs von Preußen im Chinesenlande, 15. August 1862

T. Allow, Chinese Boatman economizing Time and Labour, 1843 Joseph Maria von Radowitz (Briefe aus Ostasien)

Am gestrigen Nachmittag um 3/43 Uhr fiel der Anker des » Columbian« im Hafen von Schanghai und kurze Zeit darauf befanden wir uns am Ziele der Reise, die vor gerade 50 Tagen in Berlin ihren Anfang genommen hatte. Von Hongkong waren wir am 9.d.M. mit der Besorgnis m See gegangen, zum Schluss noch einem der argen Taifune zu begegnen, welche die hiesigen Gewässer verheeren. Ein solcher war am 27. Juli d. J. in den Gewässern zwischen Kanton und Hongkong und gleichzeitig auf der Küste ausgebrochen. Im Zeitraum von nicht fünf Stunden wurden etwa 40.000 Menschenleben vernichtet! Man kann diese Zahl nicht begreifen, wenn man nicht die massenhaften kleinen chinesischen Fischerboote kennt, die sich mit größter Kühnheit in die offene See wagen. Hunderte solcher gebrechlicher Fahrzeuge haben wir in Entfernungen von 15 bis 20 Seemeilen vom Festlande bei hoher See begegnet, einen großen Teil davon ohne Segel, als bloße Ruderboote. Außerdem lebt auf dem Wasser zwischen Kanton und Hongkong eine schwimmende Bevölkerung von über 200.000 Seelen, die nur auf Flößen und in Schiffen existiert. Man kann sich also vorstellen, welche Verheerungen ein starker Taifun unter diesen Unglücklichen anrichten muss. Und doch fragt niemand danach, wenn hier 40, 50, 100.000 Individuen auf einmal zugrunde gehen: die Übervölkerung des chinesischen Reiches, besonders im Süden, ist so ungeheuer, dass solche Zahlen einen unmerklichen Ausfall machen.

Die ersten beiden Tage unserer Fahrt waren ziemlich gut; am Abend des zweiten umzog sich der Himmel mit der unbegreiflichen und unbeschreiblichen Schnelligkeit, die hier allen großen Ausbrüchen vorhergeht. Wir waren demnach schon auf die Bekanntschaft mit dem mächtigen Herrn der Lüfte gefasst, im Augenblick wurden die Segel eingezogen und der Kampf vorbereitet. Aber wir blieben bloß Zuschauer und Bewunderer des gewaltigen Schauspiels, das nun losbrach. Hoch im Äther lieferten sich drei Gigantenwetter eine elektrische Schlacht mit einem Aufwande von Donnerschlägen und zuckendem Blitzfeuer, der für viele Jahre heimatlicher Augustgewitter ausgereicht hätte. Ein anwesender Franzose hielt das Ganze für die Vorfeier der »St. Napoleon«, aber er irrte sich im Datum. Außer diesem großen nächtlichen Feuerwerke genossen wir auf der ganzen Fahrt allabendlich den Anblick zahlreicher Meteore und leuchtender Lufterscheinungen. Glaubwürdige Schäfer auf einsamer Heide oder hellsehende Nachtwächter hätten darin reichen Stoff zu blutigen Kreuzen, goldenen Schwertern, glänzenden Lanzen und sonstigen prophetischen Himmelszeichen finden können, es war nur zu bedauern, dass keiner von uns sich auf Wahrsagen verstand.

Am 14. früh näherten wir uns der Mündung des größten Flusses der Welt, des Jang-tse-kiang. Seine erbsengelben, langsamen Wellen geben weit hinaus der klaren Meeresflut ein ungewaschenes Ansehen und verdrängen den Salzgehalt durch süßen Schmutz. Er sieht missvergnügt aus, wie abgestandener Tee und scheint jeden Fremden darauf vorbereiten zu wollen, dass ihm weiter hinauf trübe Erfahrungen bevorständen. Für uns hatte er darin nicht Unrecht, der gute, schmierige Jang-tse-kiang! Etwa 40 Meilen oberhalb seiner Mündung in die See nimmt er auf dem rechten Ufer den Wusung-Strom in sich auf, an welchem die liebe Stadt Schanghai liegt, allwo wir jetzt uns einen Zopf wachsen lassen.