Kanton 1863

Pagode zwischen Kanton und Whampoa 1858Joseph Maria von Radowitz (Briefe aus Ostasien)

Von unseren weiteren Fahrten im Süden kann ich heute schon wieder auf einer anderen Station berichten. Am 9. früh gingen wir an Bord eines amerikanischen Dampfers "Hankow", der die Linie zwischen Kanton und Hongkong regelmäßig befährt. Die Fahrt von Hongkong bis zur Hauptstadt von Süd-China ist mit dem Dampfer eine Lustpartie von 6 Stunden, während Segelschiffe oft ebenso viele Tage dazu brauchen. Auf unserem Schiff waren nur wenige Europäer, dagegen einige hundert Chinesen, die den Raum unter Deck ausfüllten und sich dort mit ihren Opiumpfeifen und Teetassen häuslich gruppierten. Die chinesische Reisegesellschaft ist hier nicht ohne Bedenken. Die Passage auf dem Ausfluss des Kantonstromes, zwischen den Inseln und Sandbänken, die den Weg nach Macau, Danton und Hongkong versperren, ist stets durch Angriffe von 126 127 Piratenbooten bedroht, so dass kein Segelschiff ohne Kanonen sie durchläuft. Dampfer sind natürlich weniger dem ausgesetzt, angehalten und ausgeraubt zu werden: dagegen gibt es für sie eine andere Gefahr, die von den Passagieren selbst ausgeht. Darum ist jetzt alles an Bord bewaffnet und in den Kajüten hängen geladene Gewehre. 

Wie auf einem schönen Binnensee fährt man aus der Reede von Hongkong in das äußere Bassin der Kantonflussmündung. In den eigentlichen Fluss kommt man bei der berühmten Bocca Tigris, einer von schroffen Felsen und Batterien eingefassten Passage, die einst die Chinesen für ein uneinnehmbares Bollwerk hielten, bis die englischen Kanonen sie von ihrem Irrtume überzeugten. Dann gewinnen die Ufer einen grünen, lachenden Anstrich. Allenthalben ist hier Vegetation: überall Reisfelder, Zuckerrohr- und Bambuspflanzungen, dazwischen kleine Dörfer und Kanäle, im Hintergrund Hügel- und Bergreihen mit hohen Bäumen, vor allem aber eine Reihe von hohen Pagoden, die der ganzen Gegend den echt chinesischen Stempel aufdrücken. Hier ist das gemalte China der Lackbilder und Porzellanvasen, nach denen man sich das Reich der Mitte wie einen großen Garten vorstellt, alle Häuser mit Glockentürmen, alle Menschen rein gewaschen, in Seide gekleidet, mit ganz schiefen Augen und aufgehobenen Zeigefingern herumhüpfend und klingling! klingling! rufend ... 

Kanton zeigt sich schon von ferne als ein Konglomerat von Booten, Dschunken und Schiffen, und einer Masse von Holzhäusern, Tempeldächern, Pagoden, Wachtürmen, befestigten Batterien. Die Engländer haben bei den verschiedenen Angriffen und Bombardements die Teile der Stadt, wo früher die europäischen Faktoreien standen, in Trümmer gelegt, und auch jetzt liegen dem Ufer zunächst hinter den Myriaden von Booten nur noch Ruinen und Schutt. Die Europäer wohnen der chinesischen Stadt gegenüber auf der Insel Honan, wo auch wir im Hause des Konsuls Herrn v. Carlowitz unser Unterkommen fanden. Aber alles ist rein chinesisch, d.h. klein, eng, hölzern, unbequem und schmierig. Europas Kultur ist in Kanton noch nicht zum Durchbruch gekommen ... 

Ein großer Teil der Bevölkerung hat hier kein anderes Heim als das Boot, und zwar vom kleinsten Format an bis zu größeren, hausähnlichen Dschunken. Der breite Fluss ist über und über bedeckt von dieser population nageante, die nach amtlichen Zählungen etwa 250.000 Menschen beträgt in etwa 65.000 Booten. Davon liegen aber nur die wenigsten fest vor Anker, während die anderen beständig durcheinander fahren und gleichzeitig als Schifferboote für die Stadtleute zum Transport und Übersetzen dienen. In dieser Wasserzigeunerschaft besorgt fast ausschließlich der weibliche Teil der Familie das Ruderhandwerk, während der männliche am Lande Arbeiterdienste sucht. So führten oft Großmutter, Mutter und Enkelin gemeinschaftlich mit Ruder und Steuer das Boot. 

Am berühmtesten unter den zahlreichen Klassen und Formen von Schiffen sind die Kantoner Blumenboote (Flowerboats). Sie sind dasselbe wie die Flowerhouses am Lande, d.h. Lokale zu Lustbarkeiten und nächtlichen Festen, ausgestattet mit chinesischem Luxus. In langen Reihen nebeneinander vor Anker liegend und durch kleine Zwischenbrücken verbunden, bilden sie vollständige Straßen und gewähren des Abends mit ihrer tausendfältigen bunten Illumination, dem Glanz der reich vergoldeten, mit unzähligen Spiegeln und Glaslampen erhellten Säle, dem bunten Gewimmel der Männer und Weiber und dem ununterbrochenen Getöse der Blechmusik, der Gitarren und Gesänge, das bizarrste Schauspiel. Jeder wohlhabende Chinese beschließt sein Tagewerk auf einem solchen Boot, im Kreise trauter Freunde und noch trauterer Freundinnen, denen es obliegt, den Lärm hervorzubringen, welchen der Chinese "sing-song" nennt und für Musik hält. 

Die "sing-song-girls" sind auf das reichste ausgeputzt, mit wunderbaren Frisuren und rot angemalt, so dass ihre oft hübschen und feinen Gesichterchen aussehen wie frische Ziegelsteine. Aber dieser Zinnoberteint und der kleine Huf in einem lackierten Schuhfutteral macht sie den Chinesen erst schätzenswert. 

Bei allen solchen Gelegenheiten, wo sie völlig unter sich sind, benehmen sich die Chinesen mit Anstand und Feinheit. Ich habe auf den Flowerboats unter dem großen Trubel der singenden und trinkenden Gesellschaft niemals etwas wahrgenommen, das die Grenzen der Sitte überschritten hätte; die Leute haben einen inneren Instinkt für das, was sich schickt. Gegen Europäer, die sich in ihre Gesellschaften mengen, sind sie von großer Artigkeit und wenn man selbst freundlich mit ihnen ist, erdrücken sie einen mit Zuvorkommenheiten. So ging es mir gestern Abend auf verschiedenen Booten, wo die Gastgeber, welche das Boot für den Abend gemietet hatten, mich gar nicht wieder aus der Tür lassen wollten, bloß weil ich sie auf dem Fuß zeremonieller Höflichkeit behandelte, was die Europäer vielfach nicht tun. 

Den Mandarinen in Geschäften gegenüber muss man es auch nicht tun, weil diese die Höflichkeit nur als Prätext benutzen, um niemals zur Pointe der Sache zu kommen; den Chinesen im Privatleben aber kann man nicht artig genug behandeln. 

Ich habe auch schon die Läden der Stadt durchwandert, die das Beste enthalten, was chinesische Kunst und Industrie hervorbringen können: Fundgruben von Porzellan, Lack, Elfenbein, Seide, Kuriositäten aller Art, bei deren Anblick das kauflustige Fremdenherz in gefährliche Entzückung gerät. Das Äußere dieser Straßen ist schon verführerisch und bestechend, im Gegensatz zu den schmutzigen Engpässen, die sonst chinesische Wege heißen. Es ist hier wieder ein Stück "gemaltes China". Die Straßen sind nicht breiter wie die engsten in Europa; aber reinlich gehalten, blank geputzt, die Häuser bemalt, lackiert, vergoldet, geschnitzt, geräuchert, von bunten Hausgöttern mit brennenden Lichterchen bewacht; von den Dächern herabhängende oder quer gelegte schmale Schilder mit goldenen Charakteren auf lackiertem Grund, Laternen in allen Farben und Formen. Auch die Menschen, die sich dazwischen herumtreiben oder in den offenen Unterbauten der Häuser sitzen, passen zu diesem Bild: sie schreien nicht, drängeln nicht, sehen reinlich aus in ihren seidenen oder wollenen weiten Gewändern und den kleinen Kappen mit rotem Knopf, und der Zopf hängt ihnen hinten und verziert sie, wie die lackierten Schilder und Schnörkel die Häuser. Und tritt man in das Innere der Kaufhalle, so findet man dieselbe Eleganz, oft Luxus und Reichtum; ich erwähne nur das berühmte Magazin von U-tsching, wo durch zwei Etagen hindurch eine Fülle des schönsten Porzellans in allen erdenklichen Formen, sowie eine Sammlung der schwarzen geschnitzten Möbel aus schwerem Siamholze aufgestapelt ist ... 

Die Tempel von Kanton 

In China gibt es Tempel dreifacher Art: Konfuziustempel, Buddhisten- und Taoistentempel. Die Buddhisten und Taoisten haben auch Klöster. Die chinesischen und die buddhistischen Tempel werden vom Volke völlig gleich geachtet. Die letzteren sind meist reich dekoriert und überfüllt mit Opfertischen und Geräten; den Mittelpunkt bilden die drei Buddhabilder: (die "drei Kostbaren", Buddha, Dharma und Tanga, der vergangene, gegenwärtige und zukünftige Buddha); außer ihnen ist meist noch eine unbeschränkte Zahl von Götter-, Göttinnen-, Genien- und Geisterbildern vorhanden. 

Das merkwürdigste buddhistische Etablissement von Kanton ist das große Kloster auf der Insel Honan. Hier leben 150 Bonzen in klösterlicher Weise nach der strengsten Vorschrift des Buddha: Zölibat, Bußübungen, Fasten usw., alles aber mehr theoretisch als wie in der Praxis durchgeführt. Ein Komplex von Tempeln, Kapellen und Häusern dient ihnen zum Aufenthalt. Im Garten wunderbare Gräber und Aschenhäuser und eine unheimliche schwarzgeräucherte Kapelle, in welcher die Leichname der verstorbenen Priester (aber nur diese) verbrannt werden. Außerdem beherbergt die geheiligte Stätte einen Steinbau, in dem seit Jahrhunderten ein Geschlecht heiliger Schweine blüht, beneidenswert für alle Brüder- und Schwesterschweine der Welt; denn sie erreichen unter der Pflege der Bonzen ein Alter, eine Dicke und eine Unbeweglichkeit, die den anderen nicht beschieden sind. Wir sahen sie uns mit Andacht an und hatten auch den Vorzug, einer Abfütterung Ihrer Heiligkeiten mit beiwohnen zu dürfen, die uns mit mehrmaligen Grunzen begnadigten. 

In Honan habe ich einem Klostergottesdienst, einer Art Vesper, mit beigewohnt, die in etwas unheimlicher Weise an das Ritual unserer Kirche erinnerte. Die Responsorien und Litaneien, welche die blassgelben, unsäglich apathisch aussehenden Bonzen mit klanglosen Stimmen ableierten -ferner ein Umgang im Tempel, die Kniebeugungen vor den grotesken Götzenbildern, der beklemmende Weihrauchduft -, alles kam mir vor wie eine dämonische Travestie und trieb mich wieder hinaus, unfähig, den starren Blick des goldenen Riesenbuddha und den Gesang seiner Anbeter weiter zu ertragen. 

Als der bemerkenswerteste von den chinesischen Staatstempeln in Kanton ist mir der "Tempel der 500 Götter" erschienen. In einer weitläufigen Halle sitzt hier Kaiser Xianfeng (einer der letzten der gegenwärtigen Dynastie) in überlebensgroßer, goldener Figur, von ihm ausgehend in langen Flügelreihen fünfhundert gleichfalls überlebensgroße, vergoldete Gestalten, welche sämtlich in Götterrang  erhobene Verstorbene, von frühesten Zeiten bis zur jüngsten Vergangenheit, darstellen. Vor jedem der Idole steht eine Vase zum Weihrauch- und Kerzenopfer. Unter ihnen ist jedenfalls die kurioseste Figur diejenige eines Europäers und Christen, eines Portugiesen, dem trotz seiner Herkunft und seines Glaubens die Ehre widerfahren ist, zum Kaiserlich Chinesischen Staatsgott promoviert und als solcher angebetet zu werden. 

Außer diesem Pantheon gibt es Tempel mit schönen Namen wie: "Zum langen ewig grünen Lebensbaum", "Zur kindlichen Pflichterfüllung und Frömmigkeit" usw., in großen Dimensionen und reicher Ausstattung, desgleichen ein offizielles Heiligtum des Konfuzius und endlich einen Taoistentempel, enthaltend die "fünf Genien der Stadt", anmutige, etwa 30 Fuß große Damen mit wohlwollend breiten Nasen und langen Ohrläppchen. Ferner finden sich mehrere Pagoden, diese urtypischen Bauwerke des älteren Chinesentums, in und um Kanton, neunstöckig und zum Teil weit über 1.000 Jahre alt.

Ein jedes Haus und eine jede Hütte aber, jede Dschunke und jeder Sampan haben ihre besonderen Haus- und Schiffsgötter, vor denen allabendlich die Kerzen angesteckt und so viel Papier- und Weihrauchspenden verbrannt werden, dass der Dunst davon weit und breit die Atmosphäre erfüllt. Und nicht weniger wird der Tamtam gerührt, der Gongon geschlagen, aus Flöten und Geigen das Schauerlichste entlockt, werden Raketen und Schwärmer und Kanonenschläge losgelassen und jene infernalischen Firekrakers, kleine zusammenhängende Pulverhülsen, die einen Pelotonlärm verursachen aus den Vorhöfen der Unterwelt. So feiert der Chinese seinen gottgefälligen Abend und "tschin-tschin" die Unsterblichen, die froh sein können, dass sie nichts mehr zu hören und zu riechen brauchen. Ein besonderer Unstern wollte, dass wir grade den großen Feiertag der Hausgötter in Kanton erlebten; und da das Carlowitzsche Haus recht inmitten allen chinesischen Trubels und Lebens liegt, so genossen wir Vorfeier, Feier und Nachfeier in einer Weise, die mein Trommelfell noch lange spüren wird; Unsinniger Lärm ist nun einmal Lebensbedürfnis der Chinesen. Wer nie an Nerven geglaubt, der wohne zwei Tage in Kanton und verehre die Hausgötter!

Außer den Tempeln sind in Kanton die Yamens, die offiziellen Wohngebäude der Mandarine, durch die Großartigkeit ihrer Anlagen bemerkenswert. Da wir dem Vizekönig einen offiziellen, uniformierten Besuch machten, konnten wir einen der prächtigsten Yamens genau besichtigen und fanden in ihm die Raumverschwendung und die bunte Sinnlosigkeit der Malereien bewunderungswürdig. Der Vizekönig präsentierte sich als ein kleines, wohldenkendes Männchen im Konfuziusstil und empfing uns mit vielem Hokuspokus. Den Gegenbesuch dieses Greises nahmen wir am Tage darauf im Yamen des französischen Konsuls an, einem originellen und schönen chinesischen Wohnplatze. Franzosen und Engländer haben nach dem letzten Kriege ihre Konsuln in den besten Mandarinwohnungen etabliert. 

Aber mehr als in den Anlagen des Yamens lässt sich die berühmte chinesische Gartenkunst in den reichen Landhäusern in nächster Nähe der Stadt bewundern. Han-qua und Pun-tin-qua, zwei chinesische Großhändler, zeichnen sich durch ihre Vorliebe für derlei Anlagen aus. Im Garten des letzteren verbrachte ich mit meinem chinesischen Freunde und Lackmann Ki-sching einen schönen Nachmittag. Eine Zusammenstellung von allerhand Pavillons, phantastischen Teehallen, kleinen Seen und Kanälen mit geschweiften Brücken, Dämmen, schwimmenden Inseln und Blumenbooten, - von künstlichen Felsen mit Wasserfällen und Springbrunnen, von Vogelhäusern in luftigsten Formen - dazwischen von grünen Anlagen und Beeten aller Art, Zierpflanzen und Miniaturbäumchen in sonderbaren Menschen- und Tiergestalten; langen Alleen von buntglänzenden Porzellanvasen mit seltenen Blumen, überdeckten Gängen, deren Wände mit Inschriften und grotesken Malereien behangen sind: das ist der Pun-tin-qua-Garten! Allerdings im Geschmack nicht durchweg künstlerisch schön und groß; aber in solcher Durchführung hat die Bizarrerie wenigstens Methode. 

Im Pun-tin-qua-Garten hatte ich übrigens noch mit Ki-sching ein angenehmes Begegnis. Als wir in den anscheinend menschenleeren Anlagen umherzogen, kamen wir auf einen freien Platz vor einer der offenen Hallen. Und hier fand sich ein kompletter chinesischer Damentee versammelt. Zehn bis fünfzehn junge und jüngste, in Seide gehüllte, von goldenen Spangen und unechten Steinen strahlende, schön frisierte, reizend bemalte Dämlein saßen und kauerten zwanglos gruppiert um ihre Teetassen, spielten mit Blumen und Goldfischen und schnatterten und lachten, ebenso wie alle ihre Schwestern in der übrigen Mitwelt. Einer jeden zur Seite oder zu Häupten figurierte die entsprechende Alte, die für die Wünsche der kleinhufigen Gebieterin zu sorgen hat. An blinkenden Messingpfeifen und an quiekenden Gitarren fehlte es nicht. 

Aber es blieb mir wenig Zeit, dieses seltene Stillleben zu genießen: schaudererregendes Geschrei entstand, als die Lieblichen des Freundes Ki-sching und meiner ansichtig wurden! In unseliger Verwirrung flogen die Teetassen und Blumen und Goldfische durcheinander und die zarten Schönen, so gut es auf dem unzulänglichen Piedestal gehen wollte, mit oder ohne Alte in die schützende Halle. Ki-sching eröffnete mir schnell, dass diese Damen nicht etwa zu den sing-song-girls gehörten, sondern sämtlich wohlerzogene chinesische Ladys seien, die sonst nie in Kontakt mit der Außenwelt treten, und sicherlich noch niemals einen "Fanquai" d.h. fremden Teufel zu Gesicht bekommen hatten. Somit hielten wir es für richtiger, den Verhältnissen weichend, einen allmählichen Rückzug anzutreten und von der Höhe einer benachbarten kleinen Pagode herab sah ich dann den niedlichen Kreis sich auflösen und langsam auf den Fußfragmenten davon trippeln. 

Das letzte Bild aus Kanton, welches ich Dir noch vorführen will, ist das merkwürdigste von allen. Ich erzähle diesmal nicht vom Leben, sondern vom Tode, den der Chinese ebenso sonderbar auffasst, wie er es mit dem Leben tut. 

Einige Meilen außerhalb der Stadtmauern von Kanton zieht sich eine mittelhohe Bergkette hin, die "white cloud mountains", Berge der weißen Wolke. Die Höhen felsig und baumlos, in den Tälern aber frisches Grün und Pflanzungen. Wenn man sich von ferne diesen Bergen naht, glaubt man eine märchenhafte, unermessliche Stadt amphitheatralisch über sie ausgebreitet zu sehen; näher erscheinen die Häuser wie prächtige Pforten zu Hunderttausenden von verborgenen Wohnungen. Und so ist es auch: Hier, im Innern der Felsen und der Erde wohnen, schöner wie je zuvor bei ihren Lebzeiten, die Körper der Abgeschiedenen; diese Stadt ist die Residenz des Todes und diese Palastpforten führen zu den Yamens und Hongs, in welchen die Söhne des Yao und Shun zu den heiligen Vorfahren versammelt sind. - Für eine würdige Wohnung der Toten zu sorgen, ist dem Chinesen eine der wichtigsten Pflichten. Düstere Gedanken knüpfen sich aber in seiner chinesischen Vorstellung nicht an den Tod. Das Grabmal erhält eine freie und fast heitere Form. Ein chinesisches Totenfeld sieht bizarr und regellos aus, nicht dunkel und ernst wie Gräberstätten der westlichen Völker.

Form und Größe der Gräber sind sehr verschieden, je nach dem Kostenaufwand. Die Mitte bei allen bildet ein einfacher Sand- oder Grashügel, zu dessen Füßen eine Tafel den Namen des Verstorbenen trägt. Darüber wölbt sich eine offene oder geschlossene Nische, umgeben von halbkreisförmigen Überbauten, die sich den Berg hinaufziehen, während eine oder mehrere Terrassen dem Ganzen zur Unterlage dienen. Tafeln mit Inschriften sind überall angebracht; die Bauten von Marmor oder von Stein, letztere weiß oder grau bemalt. Man denke sich Hunderttausende solcher Anlagen in meilenweitem Umkreise über die felsigen Höhen verteilt, so kann man sich ein Bild machen von der Eigenart diesen Totenlandes! 

Hoch oben in diesen Bergen liegt ein Stück Oase, mit mächtigen Bäumen und schattigem Obdach; und aus den grünen Wipfeln erheben sich die gezackten Dächer eines buddhistischen Klosters, in welchem alte Bonzen als die Hüter des Totengebirges ein stilles Leben führen, nebenbei sich aber freuen, wenn die Lebendigen da oben ein mitgebrachtes Picknickmahl verzehren. Also taten auch wir. Der Buddha aber, in dessen Haus wir hier einkehrten, war nicht das wenigst Merkwürdige: vielleicht in Anwandlung welthistorischer Ironie trug er ein Gesicht, bei dessen Anblick wir wie aus einem Munde riefen: Kladderadatsch! ... 

Und hier oben stand ich dann vor dem mit Drachen besetzten Klostertore und schaute auf eine weite Landschaft zu meinen Füßen: auf die Stadt Kanton mit ihrem buntgegiebelten Häusermeer, den starrenden Mauern, den zerfallenen Forts der Tataren und den glänzenden Götzentempeln der Chinesen; auf den Perlstrom und sein unermessliches Mündungsdelta, auf das Gewimmel grüner Inseln und schwimmender Boote; auf das ferne Whampoa und die himmelragenden Pagoden, die Wahrzeichen des Mittelreiches; auf die weiten, grünen Wellen des Landes nach Westen hin, mit seinen Feldern und Dörfern und Kanälen; dann aber auf das wunderbare Gräberfeld um mich herum und auf das lebendige Deutschland im toten Chinesentum: ich schaute auf den humoristischen Gott und seinen kahlgeschorenen Bonzen im stahlgrauen Mantel - beim Konfuzius: das alles war seltsam! -

Joseph Maria von Radowitz