Gu Hongming, Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, 1917
Nun sind ja die europäischen Schriftsteller daran gewöhnt, von der christlichen Kultur als einer höheren zu sprechen, wenn sie diese mit der sogenannten konfuzianischen Kultur vergleichen. Das Ziel der beiden Kulturen ist zweifellos dasselbe: die moralische Rechtschaffenheit des Menschen, und die Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung in der Welt. Wenn aber wahr ist, was ich soeben von der alten und neuen Kultur Europas gesagt habe, so muss man auch wohl zugeben, dass eine auf die Gefühle von Furcht und Hoffnung begründete Kultur möglicherweise stärker und strenger sein mag, während eine Kultur, die an die ruhige Vernunft des Menschen appelliert, ganz sicher wenn nicht höher, so doch breiter sein wird. Sie mag schwieriger zu erreichen sein, aber wenn sie erreicht ist, hat sie größere Dauer.
Tatsächlich scheint mir die wirkliche Gefahr nicht nur für die Völker Europas, sondern für das Schicksal und die Zivilisation des gesamten Menschengesschlechts eben darin zu bestehen, dass die Völker Europas Schwierigkeiten haben, die neue moralische Kultur sich anzueignen, nicht aber in der Kultur der gelben Rasse. Die Bevölkerung Europas, die größtenteils den Sinn für die Kraft und Heiligkeit der mittelalterlichen Kultur verloren hat und der neuen Kultur noch nicht genügend teilhaftig ist, um sie als beherrschende Kraft zur Aufrechterhaltung bürgerlicher Ordnung zu benützen, muss gegenwärtig in Ordnung gehalten werden, nicht durch eine moralische Kraft irgendeiner Art, sondern durch die rohe physische Kraft der Polizei oder des sogenannten Militarismus. Carlyle sagt: »Der Zustand des modernen Europas ist Anarchie plus einem Gendarmen.« Ein französischer Schriftsteller sagt noch besser: »C'est la force en attendant le droit«.
Aber die enormen Kosten, die nötig sind, um den Militarismus in Europa in diesem ungeheuren Umfang aufrechtzuerhalten, werden verderblich für das wirtschaftliche Wohlbefinden der Bevölkerung. Um diesem Verderben zu entgehen, haben, wie mir scheint, die Völker Europas zwei Wege vor sich: entweder mit allen Kräften die Erreichung der neuen Kultur zu erstreben, oder zum Mittelalter zurückzukehren. Aber die Völker Europas sind nicht gewillt, zum Mittelalter zurückzukehren. Der große Fürst Bismarck hat es ausgesprochen: »Nach Canossa geh'n wir nicht.« Und selbst wenn sie wollten, so wäre es für die Völker Europas gar nicht mehr möglich, zu dem wirklichen mittelalterlichen Geist der Vergangenheit zurückzukehren. Wollten sie dahin zurück, so würden sie entweder bei den Extravaganzen der Heilsarmee oder bei der Betrügerei des jesuitischen Ultramontanismus ankommen. Wer sich davon überzeugen will, wie zerstörend die Extravaganzen der Heilsarmee eines Tages in Europa werden könnten, sollte die Geschichte des chinesischen Taipingaufstandes lesen. Die chinesischen Christen, die bei jener Revolution eine Rolle spielten, hatten ihre nationale moralische Kultur, die sich an die Vernunft wendet, verloren und waren in eine Stimmung der mittelalterlichen europäischen Kultur zurückgefallen, die sich an die Leidenschaften der Furcht und Hoffnung in den Herzen der Menge wendet. Die Ergebnisse waren: verwüstete Provinzen und der Verlust von einer Million Menschenleben. Was den jesuitischen Ultramontanismus anlangt, so ist er noch schlimmer als die Extravaganzen der Heilsarmee. Der geistige Schwindel des Ultramontanismus ist ein
Verbrechen an der menschlichen Natur. Die Reaktion gegen solch ein Verbrechen wird nach Carlyles Worten immer zu ausgedehnten Leiden, Aufstand und Wahn führen, zu heißer Wut sansculottischer Insurrektion, zu kalter Wut der wieder eingesetzten Tyrannen, zu brutaler Erniedrigung der Millionen, zur satten Frivolität der Einzelnen, zu jenem schrecklichen Schauspiel, da der Thron des Bösen Ungerechtigkeit zum Gesetz macht. Mit einfachen Worten: das praktische Resultat des Jesuitismus mag bezeichnet werden als die Heilsbotschaft der Kenntnis davon, auf welcher Seite das Brot mit Butter bestrichen ist. Die gesellschaftliche Ordnung, die auf eine solch niedrige geistige Verfassung gegründet ist, kann nicht von Dauer sein. Auf Louis Napoleon folgte der Zusammenbruch und die Kommune von Paris. Wer weiß, was das Schicksal der Völker Europas sein würde, wenn sie versuchen wollten, zum Mittelalter zurückzukehren und dabei beim jesuitischen Ultramontanismus ankämen? Ich habe schon gesagt, dass die Kultur der gelben Rasse niemals eine Gefahr für die Völker Europas werden kann. Die Gefahr liegt, wie mir scheint, in der unwissenden und ziellosen Art, in der die übersättigten Einzelnen Europas ihre Regierung bestimmen, mit dieser Kultur umzugehen. Die Presse in Europa und besonders in England ist einig darin, für China die sogenannte Kanonenbootpolitik zu fordern und schrieb einst gleichmütig über Chinas Aufteilung. Aber ich möchte wissen, ob es je einem eingefallen ist, zu berechnen, wie viel es die Völker Europas kosten würde, Ordnung herzustellen und die 400 Millionen Menschen von China unter Polizeireglement zu halten, wenn erst einmal die Herrschaft der Mandarine zertrümmert ist und die Bevölkerung rabiat wird, wie vor einigen Jahren in Armenien.
General Gordon sagte einmal: »Man muss sich gegenwärtig halten: ein
unzufriedenes Volk bedeutet Truppenvermehrung.« Was man auch immer sagen mag
über die Hilflosigkeit und die Missbräuche der gegenwärtigen
Mandarinenherrschaft in China: ihre Herrschaft ist doch immer eine moralische,
nicht eine polizeiliche. Militarismus ist notwendig in Europa, aber nicht in
China. Die Kanonenbootpolitik ist in Vergangenheit und Zukunft nur schädlich
für alle Beteiligten, Fremde ebensowohl wie Chinesen. Meiner Meinung nach
würde die Errichtung einer internationalen Schule für das höhere Studium
chinesischer Geschichte und Literatur in Schanghai und gleichzeitig die
Entsendung einer großen Anzahl von chinesischen Studenten nach Europa und
Amerika mehr dazu beitragen, selbst die fremden Handelsinteressen zu fördern,
als die mächtigste Flotte, die europäische Nationen heraussenden können. Wenn
einmal Militarismus notwendig wird in China, dann müssen die Chinesen entweder
selbst eine Militärmacht werden oder durch Militärmacht von außen
niedergehalten werden. In jedem Fall aber wird die ganze Welt für diese neu
hinzukommende militärische Belastung zu bezahlen haben.