Kultur und Anarchie V

 Gu Hongming, Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, 1917

Militarismus ist notwendig in Europa, weil die Völker missvergnügt sind. Er ist der Ritter und Schützer der Kultur. Seine wahre Tätigkeit besteht, in der mittelalterlichen Sprache Tennysons ausgedrückt, darin: »Die Heiden zu zerbrechen und den Christus hochzuhalten«, d. h. Rohheit und Anarchie niederzuschlagen. Aber der Militarismus Europas wird neuerdings verwendet nicht gegen Anarchie und Rohheit, sondern gegen eine wahre Kultur, gegen die gute Regierung des chinesischen Volks. Je mehr der Militarismus Europas auf diese Weise missbraucht wird, um so schwerer wird die Last werden, die seine Kosten verursachen.

Der einzig mögliche Weg für die Völker Europas, um dem Ruin zu entgehen, der aus der Last ihres Militarismus entspringt, ist daher der Kampf um die Erreichung dessen, was wir die neue moralische Kultur genannt haben. Wie lang es dauern wird, bis die Völker Europas dies Ziel erreichen, ist unmöglich zu sagen. Tatsächlich scheint es, als habe der Liberalismus Europas um das Ende des 19. Jahrhunderts Rückschritte gemacht. Lord Beaconsfield sagte von dem englischen Liberalismus seiner Zeit: er finde mit Überraschung, dass er eine Oligarchie geworden sei. Der Liberalismus des heutigen Europas scheint mir ebenfalls eine Oligarchie geworden zu sein: eine Oligarchie gesättigter Einzelner. Der europäische Liberalismus des 18. Jahrhunderts hatte Kultur, der Liberalismus von heute hat seine Kultur verloren. Der Liberalismus der Vergangenheit las Bücher und verstand Ideen, der moderne Liberalismus liest höchstens Zeitungen und benützt die großen liberalen Phrasen der Vergangenheit als Schlagworte für seine selbstischen Interessen. Der Liberalismus des 18. Jahrhunderts focht für Recht und Gerechtigkeit, der Pseudo-Liberalismus von heute ficht für Rechte und Handelsprivilegien. Der Liberalismus der Vergangenheit kämpfte für die Sache der Menschheit, der Pseudo-Liberalismus von heute sucht die investierten Interessen von Kapitalisten und Finanzleuten zu fördern. 

Wenn wir uns vorstellen, wie einer der großen Liberalen des 18. Jahrhunderts, die das grausame Werk des Königsmords, ja beinahe die Zerstörung des Königtums überhaupt zu vollbringen hatten, von den Toten auferstünde, so würde er über den Pseudo-Liberalismus unserer Tage wohl mit den Worten von Shakespeares Brutus ausrufen: 

»Wie, soll nun einer derer, die den ersten von allen Männern dieser Welt erschlugen, bloß weil er Räuber schützte: sollen wir mit schnöden Gaben unsre Hand besudeln und unsrer Würden weiten Kreis verkaufen für so viel Plunders, als man etwa greift? Ein Hund sein lieber und den Mond anbellen als solch ein Römer!«

Aber wir wollen nicht ganz verzagen. Ich glaube, dass das unmittelbare Ergebnis der gegenwärtigen Kolonialpolitik ein Wiedererwachen des echten Liberalismus in Europa sein wird. Mr. Guizot sagt in seinen Vorlesungen über europäische Kultur von dem Zweck und Nutzen der mittelalterlichen Kreuzzüge für die Christenheit folgendes: 

»Für die ersten Chronisten und folglich auch für die ersten Kreuzfahrer, deren Anschauungen jene nur ausdrückten, waren die Mohammedaner nur Gegenstände des Hasses und der Verachtung. Es ist klar, dass die, welche so von ihnen sprachen, sie nicht kannten. Die Geschichte der späteren Kreuzzüge redet eine ganz andere Sprache. Sie zeigt, dass die Christen auf die Mohammedaner nicht mehr so ungeheuer hoch herabsahen, dass sie bis auf einen gewissen Grad in ihre Gedanken eingedrungen waren, dass sie mit ihnen zu leben anfingen, dass Beziehungen und selbst eine Art von Sympathie zwischen ihnen entstanden. Auf diese Weise«, 

fährt Mr. Guizot fort, 

»wurde der Geist der beiden Parteien, namentlich aber der Kreuzfahrer, befreit von den Vorurteilen, welche die Frucht der Unwissenheit waren. Ein Schritt war so getan zur Befreiung des Menschengeistes.«

Der moderne Kreuzzug Europas, den man Kolonialpolitik nennt, wird schließlich die Befreiung des Menschengeistes in Europa und Amerika vollenden. Die vollendete Befreiung des Menschengeistes wird dann zuletzt auch eine allgemein menschliche Kultur hervorbringen, eine Kultur, die nicht begründet ist auf eine Geistesverfassung, die sich nur an die Leidenschaften der Furcht und Hoffnung wendet, sondern auf eine Geistesverfassung, die sich wendet an die ruhige Vernunft des Menschen, die ihre Heiligkeit nicht ableitet von irgend einer Macht oder Autorität außerhalb, sondern, wie Menzius sagt: von der angeborenen Liebe der menschlichen Natur zu Güte, Gerechtigkeit, Ordnung, Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Innerhalb dieser neuen Kultur wird Freiheit für den Gebildeten nicht bedeuten, dass er tun kann, was er mag, sondern dass er tun kann, was recht ist. Der Sklave oder der noch nicht kultivierte Mensch tut nichts Böses, weil er in dieser Welt die Knute oder die Polizei fürchtet und das höllische Feuer in der nächsten. Aber der freie Mann der neuen Kultur ist der, für den weder Knute noch Polizei noch höllisches Feuer mehr nötig ist. Er tut recht, weil er das Rechttun liebt; er tut nichts Böses, nicht aus der Triebfeder einer knechtisch gemeinen Furcht, sondern weil er es hasst, Böses zu tun. In allen Dingen der Lebensführung macht er nicht das Gesetz einer äußeren Autorität, sondern das der inneren Vernunft und des Gewissens zu seinem Gesetz. Er kann leben ohne Herrscher, aber er lebt nicht ohne Gesetze. Daher nennen die Chinesen einen Gebildeten Junzi. Jun ist dasselbe Wort wie das deutsche König und bedeutet einen königlichen Mann.

Der Amerikaner Emerson erzählt von einem Gespräch, als er während seiner Reise in England mit Carlyle zusammen Stonehey besuchte. 

»Am Sonntag, einem Regentag, hatten wir viel zu bereden. Meine Freunde fragten, ob es Amerikaner gäbe, Amerikaner mit einem amerikanischen Gedanken. So herausgefordert, besann ich mich weder auf Caucusse noch auf Kongresse, weder auf Präsidenten noch auf Kabinettminister noch auf andere Dinge, die aus Amerika nur ein zweites Europa machen würden. Ich dachte nur an die einfachsten und reinsten Geister. Ich sagte: Gewiss, es gibt welche. Aber diejenigen, die ihn haben, sind Fanatiker eines Traumes, den ich kaum wage, euren englischen Ohren anzuvertrauen, da er für euch vielleicht nur lächerlich ist. Dennoch ist es der einzig wahre. So eröffnete ich die Lehre vom Nicht-Regieren und Nicht-Widerstand. Ich sagte: Es ist wahr, dass ich noch in keinem Land einen Menschen gesehen habe von genügendem Wert, um für diese Wahrheit einzutreten. Und dennoch ist es mir klar, dass mir kein geringerer Wert als dieser Achtung abnötigen kann. Ich kann ruhig mit ansehen, wie der vulgäre Gottesdienst, der den Kanonen gewidmet wird, zusammenbricht, und es ist so sicher, wie dass Gott lebt, dass das Gewehr, das keines anderen Gewehres bedarf, das Gesetz der Liebe und Gerechtigkeit, allein eine Umwälzung hervorbringen kann.«

Die künftige Kultur der Welt liegt als entwicklungsfähiger Vernunftkeim in diesem Gedanken Emersons. Ja noch mehr, dieser amerikanische Gedanke Emersons liegt der chinesischen Kultur zugrunde, oder besser gesagt, die konfuzianische Kultur der ostasiatischen Völker beruht auf ihm. Hierin nun liegt das moralische Problem der ostasiatischen Frage. Die Lösung dieses Problems liegt nicht bei den Kongressen oder Parlamenten, nicht bei Kaisern, Präsidenten, Königen oder Kabinettsministern, die Lösung liegt, um mit Emerson zu sprechen, bei den einfachsten und reinsten Geistern, die in Europa und Amerika gefunden werden. Die Dichter haben Hymnen gesungen von dieser neuen Kultur, der Deutsche Heine, der sich Ritter des Menschheits-Befreiungskrieges nennt, singt:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde will ich euch dichten;

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.