Gu Hongming, Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, 1917
Man muss nun zugeben, dass in der Tat gegenwärtig ein Kampf der Kulturen Europas und des fernen Ostens sich abspielt. Dieser Kampf scheint mir jedoch nicht ein Kampf der Kultur der gelben Rasse und der Kultur der weißen Rasse zu sein, man könnte ihn eher bezeichnen als einen Kampf zwischen der ostasiatischen Kultur und der mittelalterlichen Kultur Europas. Wer sich mit dem Geist der modernen Einrichtungen Europas beschäftigt hat, muss bemerken, dass im Lauf der letzten hundert Jahre in Europa unter dem Sammelnamen des Liberalismus sich das Bewusstsein von einer neuen moralischen Kultur und einer neuen gesellschaftlichen Ordnung entwickelt hat, die von der alten mittelalterlichen Kultur und gesellschaftlichen Ordnung gänzlich verschieden sind.
Unmittelbar vor der Französischen Revolution sprach es der Franzose Du Clos aus: il y a un germe de raison qui commence á se developper en France. Es ist allgemein anerkannt, dass die liberalen Ideen zuerst richtig verstanden und verbreitet wurden durch die französischen philosophischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, aber es ist seltsam, dass es bis auf den heutigen Tag noch nicht erkannt, ja kaum geahnt wird, wie viel die französischen Philosophen ihrem Studium chinesischer Bücher und chinesischer Einrichtungen verdanken, deren Kenntnis damals durch die jesuitischen Missionare nach Europa gebracht wurde. Wer sich die Mühe gibt, die Werke eines Voltaire, Diderot und besonders L'esprit des lois von Montesquieu zu lesen, wird bemerken, welchen Antrieb diese Kenntnis chinesischer Bücher und Einrichtungen, wenn nicht der Entstehung des germe de raison, so doch zum mindesten der raschen Entwicklung und Ausbreitung dessen, was wir heute liberale Ideen nennen, gegeben hat. Jener germe de raison, der sich schließlich zu liberalen Ideen weiter entwickelte, hatte, wie heute allgemein bekannt ist, jenen durchgängigen Zusammenbruch der mittelalterlichen Einrichtungen im Europa des 18. Jahrhunderts zur Folge. Ich kann mir nicht versagen, darauf hinzuweisen, welche Ironie des Schicksals darin liegt, dass die römisch-katholischen Missionare, die nachChina hinauszogen, um die heidnischen Chinesen zu bekehren, ihrerseits das Werkzeug wurden, um die Ideen der chinesischen Kultur nach Europa zu tragen, Ideen, welche den Zusammenbruch eben jenermittelalterlichen Kultur bewirkten, zu welcher die Chinesen zu bekehren jene Missionare sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten.
Ich war zu einer Abschweifung genötigt, um auf mein Thema zu kommen. Dieser Kampf der Kulturen, oder besser gesagt, des modernen Liberalismus und der Mittelalterlichkeit, ist das moralische Problem der ostasiatischen Frage. Es lässt sich nicht als ein Konflikt der weißen und der gelben Rasse definieren, sondern ist ebenso gut ein innerer Kampf, den die Völker Europas mit sich selbst auskämpfen, um sich vollständig freizumachen von ihrer überlebten mittelalterlichen Kultur. Die chinesische Frage ist mit einem Wort ein Teil des Kulturkampfes der Gegenwart.
Die Quelle der mittelalterlichen Kultur Europas ist die christliche Bibel. Die Bibel, als Werk der Weltliteratur betrachtet wie die Ilias Homers und die Aeneis Virgils ist ein sehr bedeutendes Buch und wird der Welt niemals verloren gehen. Die moralische Größe des Alten Testaments und die einnehmende Persönlichkeit Jesus Christus, verbunden mit der Geradheit und Einfalt seiner Lehren, das alles ist in Fleisch und Blut der besten Menschheitstypen übergegangen, die Europa hervorgebracht hat, ja noch mehr, es wird stets einen kräftigen Einfluss haben auf alle die, die der Weltliteratur überhaupt zugänglich sind. Aber die Sache steht anders mit dem gewöhnlichen Mann. Denn die Durchschnittsmenschen Europas müssen, um die Kraft der Bibel voll zu empfinden, in demselben intellektuellen Zustand sein wie die Menschen, die die Bibel hervorbrachten.
Nun aber ist es wohl allgemein anerkannt, dass der germe de raison, von dem Du Clos redet, in weitgehendem Maße den intellektuellen Zustand der europäischen Durchschnittsmenschen verändert hat. Für solche Leute wird die Bibel schwierig zu verstehen, wenn nicht überhaupt unverständlich, und infolge davon muss sie notwendig aufhören, die Quelle wahrer moralischer Kultur zu sein. Der verstorbene Professor Huxley sprach es einmal auf einer Schulmännerversammlung aus, dass, wenn die britischen Inseln überhaupt keine Religion hätten, es ihm nicht einfallen würde, den religiösen Gedanken durch Vermittlung der Bibel einzuführen.
Mit einem Wort, wir glauben, dass die eine wahre Kultur des modernen Liberalismus, wenn vielleicht auch nicht so streng, so doch viel breiter ist, als die mittelalterliche Kultur Europas, die aus der Bibel floss. Jene alte Kultur appelliert hauptsächlich an die Gefühle von Furcht und Hoffnung im Menschen. Die neue moralische Kultur appelliert an die gesamten geistigen Kräfte, an seine Vernunft ebenso sehr als an seine Gefühle. In der alten Kultur bestand in Beziehung auf die menschliche Natur die Anschauung, dass alle Menschen in Sünden geboren seien, d. h., dass die menschliche Natur radikal böse sei. Die Anschauung der modernen moralischen Kultur ist, dass die menschliche Natur radikal gut ist und wenn sie richtig entwickelt und in Anspruch genommen wird, ganz von selbst moralische Wohlfahrt und gesellschaftliche Ordnung in der Welt herbeiführen muss. Die Methode der alten Kultur begann mit dem Satz: »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«; die Erziehungsmethode der modernen Kultur sagt: »Die höhere Erziehung besteht darin, die geistigen Kräfte der menschlichen Natur zu entfalten.« Die Sprache der alten Kultur, die aus der Bibel stammt, ist bildlich, sie benützt Symbole und Gleichnisse. Die Sprache der modernen Kultur ist konkret wissenschaftlich. In der Sprache der einen heißt es: »Wer rechtschaffen wandelt, der soll das Heil Gottes schauen.« In der andern Sprache heißt es: »Wer gute Regierung in seinem Staat zu haben wünscht, muss damit beginnen, sein Haus in Ordnung zu bringen. Um das zu erreichen, muss er damit beginnen, in richtiger Weise auf sein persönliches Benehmen zu achten.«
Damit haben wir einen Überblick auf den Unterschied der mittelalterlichen und der modernen Kultur Europas. Die Wirkung der beiden Kulturen auf das Leben der Menschen und ihre gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen muss ebenfalls verschieden sein. Die Wirkung der einen ist blinder passiver Gehorsam gegenüber der Macht und Autorität. Die Wirkung der andern ist das, was Dr. Macgowan als Eigentümlichkeit der Chinesen bezeichnet, nämlich: Selbstvertrauen der Bevölkerung gegenüber dem Staat. Das Resultat der mittelalterlichen Kultur war mit einem Wort: Feudalherrschaft. Das Resultat der modernen Kultur des Liberalismus wird eine Regierung durch freie Einrichtungen sein.