Kultur und Anarchie II

 Gu Hongming, Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, 1917

Im Ernst, für jeden der sich die Mühe nimmt, die moralische Kultur und gesellschaftliche Ordnung Ostasiens zu studieren, ist es unverständlich, inwiefern die Kultur der gelben Rasse an sich eine Gefahr für die Völker Europas sein soll. Den Europäern und besonders den gedankenlosen praktischen Engländern, die daran gewöhnt sind, die Höhe der Lebenshaltung als Maßstab an die Kultur eines Volkes anzulegen, muss ja gewiss das tatsächliche Leben der Chinesen und der heutigen Völker des Ostens sehr schmutzig und wenig wünschenswert erscheinen. Aber die Höhe der Lebenshaltung als solche ist nicht der richtige Maßstab für die Kultur einer Nation. Wir wissen z. B., dass heutzutage die Lebenshaltung in Amerika eine weit höhere ist als in Deutschland. Aber wenn vielleicht der Sohn eines amerikanischen Millionärs, der die einfache und verhältnismäßig niedrige Lebenshaltung der deutschen Universitätsprofessoren ansieht, über den Wert der Bildung an einer solchen Universität Zweifel hegen mag, so wird doch sicher kein gebildeter Mensch, der beide Länder bereist hat, zugeben, dass das deutsche Volk weniger kultiviert sei als das amerikanische.

Man mag die Höhe der Lebenshaltung mit Recht als Vorbedingung der Kultur bezeichnen, keineswegs aber ist sie an sich schon Kultur. Die Höhe der Lebenshaltung eines Volks mag aus wirtschaftlichen Gründen sinken, doch lässt sich damit noch nicht beweisen, dass auch die Kultur dieses Volkes im Sinken sei. Eine Missernte in Irland oder eine lange dauernde Handelskrise in England kann unter Umständen die Lebenshaltung dieser Länder beträchtlich herunterdrücken, aber man kann aus diesem Umstand allein unmöglich den Schluss ziehen, dass die irische oder die britische Nation in ihrer Kultur gesunken sei.

Doch wenn die Höhe der Lebenshaltung nicht Kultur ist, was ist dann Kultur? Es ist ebenso schwierig, genau auszudrücken, was Kultur ist im Leben der Völker, als einen präzisen Ausdruck dafür zu finden, was wahre Bildung ist im Leben der Einzelnen. Dr. Macgowan sagt über den Einfluss der Kultur auf die breite Menge des Volks in China unter anderem folgendes: 

»Ein besonders hervorstechender Zug an diesen Leuten ist ihre Fähigkeit, zusammenzuarbeiten, was eines der Hauptmerkmale kultivierter Menschen ist. Organisation und Zusammenarbeiten fällt ihnen leicht infolge ihrer angeborenen Achtung vor Autorität und Gesetz. Ihre Lenksamkeit ist nicht die eines geistig gebrochenen unmännlichen Volkes, sondern sie entspringt der Gewohnheit der Selbstbeherrschung und dem Umstand, dass sie seit langem in lokalen Angelegenheiten Selbstverwaltung geübt haben. Auf diese Weise lernen sie dem Staat gegenüber Selbstvertrauen. Wenn man die ärmsten und ungebildetsten dieser Leute auf eine einsame Insel im Meer versetzen würde, so würden sie sich eben so rasch zu einer politischen Organisation zusammenschließen, wie Leute, die ihr Leben lang unter dem Schutz einer vernünftigen Demokratie gestanden haben.«