Kultur und Anarchie I

 Gu Hongming, Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, 1917

Für viele Leute bedeutet ohne Zweifel die sogenannte ostasiatische Frage nichts anderes, als die Gestaltung der unmittelbaren Zukunft des chinesischen Reiches. Aber für jeden, der sich ernstlich mit der Sache beschäftigt, muss es bald klar sein, dass die Frage damit nicht zu Ende ist. Denn hoch über den rein ökonomischen Fragen des Handels und der Finanz und den politischen Fragen des Friedens und des Krieges, die sich aus den internationalen Streitigkeiten um materielle Interessen erheben, enthält die ostasiatische Frage auch eine moralische Seite, und diese Seite der Sache ist unendlich wesentlicher und vielleicht sogar wirklicher als die politische Zukunft des chinesischen Reiches.

Wenn wir die christlichen Kreuzzüge im Licht dieses Jahrhunderts betrachten, so erscheinen sie uns als ausschweifende und törichte Unternehmungen der Völker Europas, um die Völker des Ostens böswillig zu beunruhigen. Aber wenn wir die intellektuelle und moralische Entwicklung der Völker Europas studieren, können wir nicht umhin zuzugeben, dass die christlichen Kreuzzüge dennoch einen wichtigen moralischen Zweck im Schicksal des Menschengeschlechts erfüllten. In dieser Bewegung, die dem Anschein nach nur aus Bigotterie und Habsucht hervorging, war dennoch ein wirklicher Wille Gottes; denn das endliche Ergebnis der mittelalterlichen Kreuzzüge war, wie wir heute wissen, der erste Anlass für den Zusammenbruch der mönchischen Kultur Europas. Nach den Kreuzzügen kam Martin Luther und die protestantische Reformation. Das Schlussergebnis der Kreuzzüge war, wie M. Guizot in seiner Kulturgeschichte sagt, ein Schritt zur Befreiung des menschlichen Geistes.

Wenn wir nun die gegenwärtige Bewegung der europäischen Nationen nach Ostasien zu, die man in Deutschland Kolonialpolitik nennt, betrachten, so kann ebenfalls kein Zweifel darüber sein, dass dieser moderne Kreuzzug, obwohl er dem Augenscheine nach nur krass materialistische und selbstsüchtige Handelsinteressen im Auge hat, dennoch ebenfalls einem wichtigen moralischen Zweck für die Kultur des Menschengeschlechtes dient. Die Szene in Kiel und die seltsame mittelalterliche Sprache des deutschen Kaisers, als er feierlich das »Deus vult« über den modernen Kreuzzug aussprach, erinnerte einen merkwürdig an die Szene in Clermont im Jahre 1095, Wer kann deshalb sagen, ob der moderne Kreuzzug der Kolonialpolitik nicht ebenso wie die mittelalterlichen Kreuzzüge der Christenheit schließlich dahin führen wird, die Kultur und den gesellschaftlichen Aufbau des modernen Europas zu beeinflussen, wenn nicht gar vollständig zu verändern. Es war wohl dieser Gedanke weit eher, als die Idee einer wahrscheinlichen künftigen Aggressivität der gelben Rasse, welcher den, wie es scheint, letzten mittelalterlichen Kaiser Europas zu seinem bekannten Bild von der gelben Gefahr inspirierte.