Shanghai
25. Jänner 1863 II

  Joseph Maria von Radowitz (Briefe aus Ostasien)

Der Vertrag zwischen Preußen und China vom 2. September 1862 wird ratifiziert

Am 14. Januar, also gerade acht Tage nach dem ersten verunglückten Versuche, fanden zum zweiten Male alle feierlichen Vorbereitungen zu diesem welthistorischen Akte statt. Um 1/2 3 Uhr nachmittags wälzte sich eine Suite von Palankinen, in denen v. Rehfues, ich, Wittgenstein, der Hamburger Konsul, der preußische Vizekonsul und Lemaire als Interpret in schönen Staatsfräcken mit Dreimastern (nur Wittgenstein als Militär) eingesperrt waren, durch die fußhohen Wasser- und Schmutzwogen der chinesischen Stadt zum Hong des chinesischen Kommissars. Einige Kulilängen vor dem ersten Palankine ließ sich der interprète du palais der diesseitigen Mission vorantragen, um der Sitte gemäß das nachfolgende Ereignis anzuzeigen und unsere Visitenkarten dem Kommissar zu behändigen.

Der Empfang mit Spektakel und Tschin-Tschins war wie gewöhnlich; nur der Haufe des Volkes noch größer und ihre Mäuler noch etwas weiter aufgerissen. In der Festhalle ein großer Tisch mit grünem Tuche überzogen, auf den ich vor allen das große, in rotem Pappkasten enthaltene Heiligtum, mit dem ich mich schleppte, niederlegte. Auf dem anderen Ende war bereits ein in gelbem Tuche eingeschlagenes Paket sichtbar, welches dieser ausschließlich der Kaiserlichen Familie reservierten Farbe nach zu urteilen das chinesische Ratifikationsinstrument enthalten musste. Ich erinnerte mich hierbei daran, wie das eigenhändige Ratifikationsschreiben, welches die Engländer im Jahre 1860 von seiten ihrer most gracious Queen nach Peking überbrachten, daselbst auf einem Altar in einem Tempel bewahrt und mit beständigem Weihrauche umduftet worden war; allerdings war dem ein blutiger Krieg vorhergegangen und ihre Ratifikation hatte ihnen ebenso viele Menschenleben gekostet als die unsrige uns Schweißtropfen!

Außer Lian und seiner zahlreichen Suite von kleinen Mandarins und Dienern, die sämtlich in ihren Festtags- bzw. offiziellsten Gewändern prunkten, war auch der Tautai (Gouverneur) von Schanghai anwesend, wie Lian meinte, als Zeuge, wie wir meinen, um die Kontrolle über den Großrichter auszuüben, dem sein hoher Chef Xie nicht unbedingtes Vertrauen in den Berührungen mit Fremden zu schenken scheint.

 Nachdem Herr v. Rehfues den Ehrensitz erklettert, wurde die Vorzeigung der Vollmachten vorgenommen. Dann wurden an dem großen Tische seitens des chinesischen Kommissars, der sich dabei vom Tautai und Wong assistieren ließ, eine Vergleichung der zur Auswechslung bestimmten Originaltexte des Vertrages vom 2. September 1861 in deutscher, französischer und chinesischer Sprache vorgenommen, wobei offenbar seine Instruktion dahin lautete, Blatt für Blatt und Siegel für Siegel zu untersuchen -- eine Prozedur, die ganz den misstrauischen Standpunkt der Chinesen charakterisiert. 

Als auch das beendet war, überreichten wir uns gegenseitig die betreffenden Urkunden mit obligaten Bücklingen und Tschin-Tschins und versicherten uns, dass nunmehr alles m Ordnung, der Vertrag für das gesamte Deutschland gültig und ratifiziert und unser Geschäft beendet wäre. 

Zum Schluss erfolgte die Vorlesung in deutscher und chinesischer Sprache des vorher abgefassten Protokolls und seine Unterzeichnung und Untersiegelung. Aber während wir ein in roten Samt und Goldschnitt gebundenes Dokument mit großer silberner Siegelkapsel, auf der das Wappen noch einmal in Gold aufgelegt, überreichten, empfingen wir zwei kleine, viereckige, polierte Holzschachteln, recht gewöhnlich aussehend und eingeschlagen in ein orangegelbes Tuch von grober Baumwolle. In den Holzbehältern lagen die Vertragstexte genau so, wie sie einst übergeben worden, nur mit diversen roten Papierfragmenten beklebt, auf denen irgendeine chinesische Hieroglyphe gemalt. Das Ganze wiederum charakteristisch chinesisch, d.h. ruppig.

Damit war der erste Teil der Vorstellung erschöpft: der zweite war das offiziöse Frühstück. Derselbe große Staatstisch mit demselben grünen Tuche verwandelte sich in ein Büfett, auf dem alle erdenkbaren kleinen chinesischen Teller mit Obst und Zuckerwerken Platz fanden. Auch fehlte es nicht an den chinesischen warmen Weinen. Natürlich wurden auf das glücklich beschlossene Werk, wie Lian sich ausdrückte: auf sein zehntausendjähriges Bestehen und die ebenso lange entente cordiale zwischen Preußen und dem Himmlischen Reiche die Gläser geleert und mit den Köpfen genickt. 

Aber als Herr v. Rehfues es für angezeigt hielt, durch Lemaire einen Toast auf den Kaiser von China vorschlagen zu lassen, fiel dieser vor Schreck über das Ungeheuerliche des Gedankens um und meinte, eine Profanation des Himmelssohnes würde die heiligsten Gefühle der Chinesen verletzen. Die Sache lief dann auf das Wohl von Lian selbst hinaus, der sich sehr geschmeichelt fühlte. Endlich nach den allerletzten Tassen Tee hielten wir unsere Aufgabe für definitiv gelöst und traten den Rückzug an, in derselben Weise, wie wir gekommen. 

Also begann, verlief und endete der feierliche Akt der Ratifikation des großen und merkwürdigen Bündnisses, welches den preußischen Adler mit dem chinesischen Drachen, die Nation des Schwertes mit der des Zopfes, das Volk des »Fortschrittes « mit dem der Stabilität - kurzum, zwei Menschen- und Kulturgruppen miteinander in Verbindung bringen soll, die sich bisher gegenseitig gänzlich unbekannt gewesen und noch längerer Zeit bis zur Intimität bedürfen werden, als die dermaligen Vermittler derselben an Ort und Stelle zu verweilen die Lust verspüren ...