Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
Städte haben ihre Zeiten, Zeiten der Schöpfung, Zeiten
des Verfalls. Es gibt keine Stadt - selbst die ewige Stadt ist nicht
ausgeschlossen -, die zu allen Zeiten etwas bedeutete. Doch gibt es Unterschiede
unter den Städten. Es gibt solche, die sind nur Produkt einer bestimmten
Konstellation. Ihr verdanken sie ihre Größe und Blüte. Alle Gebäude, Straßen
und Plätze sprechen von der Größe dieser Zeit. Andere Zeiten kommen. Der
Weltenstrom gräbt sich ein anderes Bett. Die Stadt verfällt, wird zur Ruine.
Es gibt Städte im Wüstensand, an denen die Weltgeschichte endgültig vorübergegangen
ist. Wieder andere werden von mehreren Zeitaltern heimgesucht. Troja ist solch
ein Ort, an dem aufeinanderfolgende Jahrhunderte ihre Stockwerke auf den Ruinen
der Vergangenheit getürmt. Aber es gibt auch Städte, die Jahrhunderte
verschlafen haben. Sie zeigen Lücken. Verschiedene Zeiten sind über diese Lücken
weg einander nahegerückt, wie oft in den geologischen Schichten eines Platzes
einzelne Zeitalter ausgefallen scheinen, und Neues unmittelbar auf Ältestes stößt.
Peking ist eine Stadt von mehreren Zeiten. Aber sie sind
einander gefolgt, und das von ihnen Gestaltete ist in einem einheitlichen Ganzen
zusammengewachsen, das heute noch lebt, wenn es auch mitten in einer neuen Veränderung
begriffen ist. Peking heißt: die nördliche Hauptstadt. Es war immer
bezeichnend für die politische Situation einer Zeit in China, an welchem Ort
die Hauptstadt lag. Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung gewannen von Westen
her die Zhou-Leute das Reich. Ihre Hauptstadt lag im westlichen Teil von China,
und ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, die Grenzen der Kultur gegen
westliche Barbaren zu sichern. Die Dynastie wurde schwach, die Barbaren drangen
vor, die Hauptstadt wurde ins Zentrum des damaligen China verlegt. Das war der A
fang zum Untergang des alten Feudalstaates. Der Weststaat Qin, der in das frühere
Gebiet der Zhou einrückte, erlangte mit der Zeit die Oberherrschaft. Später
wurde der Norden entscheidend. Dorther drängten die Hunnen, Mongolen und
Mandschuren. Die Hunnen wurden durch den Bau der großen Mauer abgehalten. Ein
Jahrtausend später drangen die Mongolen in China ein. Die Sungdynastie zog sich
mit ihrer Hauptstadt immer weiter nach Süden zurück. Endlich wurde sie
hinweggefegt. Der Mongolenkhan wurde Herrscher in China. Er gestaltete sein
Feldlager, das im Mittelpunkt zwischen der Mongolei und China lag, zur
Hauptstadt aus. Marco Polo besuchte
den Mongolenkhan in Cambaluc. Das war das erste Peking. Es lag etwas nördlicher
als die heutige Stadt. Der Glockenturm und der Trommelturm, die heute an der nördlichen
Peripherie liegen, bildeten damals den Mittelpunkt. Sie sind noch immer im
Gebrauch. Auf dem einen hängt die große Glocke, deren dumpfer Ton um die Zeit
der Nachtwachen über die Stadt hinweht. Nichts ist erhabener, als wenn um
Mitternacht der Ton dieser Glocke erwacht. Sie ist umgeben von Sagen. Sie konnte
nicht richtig gegossen werden, ehe des Glockengießers Töchterlein durch das
Opfer ihres Lebens die tückischen Mächte bannte, die den Guss verhindern
wollten. Noch jetzt hört man ihre feine Stimme aus dem Metall klagen, wenn der
große Holzbalken auf die Glocke stößt. - Die große Trommel auf dem
Trommelturm gibt das Zeichen, wenn die Tore der Stadt geschlossen werden. Sie kündet
die Nacht an. Steil geht die Treppe durch einen dunklen Tunnel nach oben. Rings
um den Turm führen etwas schräg nach unten abfallende Galerien, von denen häufig
die Geländer teilweise in die Tiefe stürzen. Oben im Gebälk girren die
Tauben, und weit hinaus schweift der Blick über die Dächer und Bäume von
Peking und die Ebene, die im Norden und Westen von den Grenzhügeln
abgeschlossen wird. Dort schwingt sich über die Kämme der Berge und durch die
Schluchten der Täler die große Mauer...
Die Mongolen wurden von einem früheren Mönch verjagt als
ihre Zeit vorüber war. Im Herzen von China, am Yangtse, in Nanking, wurde die
neue Hauptstadt gegründet. Nicht lange blieb sie dort. Der dritte Herrscher des
Minghauses, Yongle war ein gewissenloser Mann, der seinem Neffen Thron und Leben
raubte. Aber er war von starkem Kaliber. Er sah mit genialem Blick die Lage. Er
wusste, dass es um die Macht der Ming gar bald getan sein werde, wenn sie im Süden
bleiben würden, weit entfernt von dem Grenzwall, der aufs neue ausgebaut werden
musste gegen die noch immer nachdrängenden nordischen Scharen. So verlegte er
die Hauptstadt wieder nach Norden in die Nähe des alten Mongolenlagers. Das war
das zweite Peking. Aus jener Zeit stammt die Anlage der meisten Paläste, Tempel
und Mauern, der sogenannten inneren, nördlichen Stadt. Damals wurde noch für
die Ewigkeit gebaut. Was sind das für Mauern, die im Geviert die Stadt umschließen!
Aus riesengroßen Backsteinen sind sie gebaut und so breit, dass bequem drei
Wagen oben auf ihnen nebeneinander fahren können. In ihrer ganzen Ausdehnung
sind sie sorgfältig gepflastert und mit Zinnen und Schießscharten versehen.
Man braucht einen ganzen Tag, wenn man zu Fuß die Mauer umschreitet. Was der
Bau dieser Mauer für eine Leistung war, konnte man daraus ermessen, dass, als kürzlich
ein kleines Stück einer weit bescheideneren inneren Mauer niedergelegt wurde,
monatelang daran gearbeitet werden musste. Man konnte das Material an Steinen
und Ziegeln, das frei wurde, kaum verwerten. Man musste mit dem Abreißen schließlich
aufhören, weil es zu kompliziert und teuer geworden wäre. Was muss da erst das
Aufbauen für ein Werk gewesen sein! Man kann ruhig sagen, dass trotz aller
modernen Technik sich heutzutage gar nicht mehr die Geldmittel beschaffen ließen,
um solch gigantische Bauwerke zu errichten, wie sie in jenen Tagen aus der Erde
stiegen.
Aber auch die Mingdynastie ging schließlich wie so viele
ihrer Vorgängerinnen unter an der Üppigkeit und Gewissenlosigkeit der Männer
auf dem Thron. Innerer Aufruhr erhob sein Haupt. Die Unruhen, die so entstanden,
benützte der ostmongolische Volksstamm der Mandschus, um sich in Chinas innere
Kämpfe zu mischen. Und nachdem der letzte bedauernswerte Herrscher der Ming auf
der Flucht vor dem Eindringen der Rebellen an einem Lebensbaum auf dem
sogenannten Kohlenhügel hinter dem Palast sich erhängt hatte, da stürmten die
mandschurischen Scharen herbei und rächten das untergehende Haus der Ming an
den Empörern. Diese wurden vertrieben und getötet, und die Mandschuhäuptlinge
bestiegen den Drachenthron. Die Hauptstadt blieb Peking. Die neue Dynastie, die
sich die »Große Reine« (Da Qing) nannte, gebärdete sich als
Rechtsnachfolgerin der »Großen Klaren« (Da Ming) Dynastie. Darum wurden deren
Erdaltäre nicht zerstört. Die Gräber im Norden von Peking ließ man
unversehrt, und auch der letzte Herrscher fand mit seinem treuen Eunuchen, der
mit ihm gestorben war, ein Grab in der Nähe seiner Ahnen. Der Kaiser Qianlong
ließ der verflossenen Dynastie mitten in der Geisterstraße, die zu den Gräbern
führt, eine große Steintafel errichten, auf der er ihr Geschick beklagt, während
vier Hunde auf Säulen ringsumher trostlos gen Himmel heulen. Die Paläste und
ihre Schätze wurden vom Sieger übernommen. Alles wurde ausgebaut und erneuert.
Die kaiserliche Stadt der Ming wurde für die Bannerleute, die Krieger der neuen
Dynastie, mit Beschlag belegt. Die Chinesen mussten ausziehen und wurden südlich
vor der Stadt in der sogenannten äußeren oder Chinesenstadt angesiedelt. Auch
diese Stadt wurde mit einer, freilich etwas dürftigeren, Mauer umzogen, die
neben den bewohnten Vierteln auch weite Strecken bebauter Felder in ihrem Innern
fasst. Das war nun das dritte Peking. Dieses Peking war Weltstadt, nicht bloß
chinesische Hauptstadt. Hier war die Stelle, wo die Herrschaft über die
Bannerscharen und die Chinesen ausgeübt wurde. Beide blieben getrennt. Denn
wenn die Chinesen auch den Zopf der Eroberer und ihre Kleidung übernehmen
mussten, so fand doch keine Verheiratung zwischen den Stämmen statt. Die
Mandschuren, deren Garnisonen rings im Lande verteilt waren, hielten sich von
Landbau und Gewerbe fern. Sie blieben Krieger und lebten von dem Tributanteil,
den ihr Herr und Gott, dessen Sklaven sie waren, ihnen zuteilte. Die Chinesen,
der produktive Teil der Bevölkerung, wurden durch kaiserliche Beamte regiert,
die ebenfalls in Peking ihre höchsten Behörden hatten.
Die Mandschus haben es sich stets angelegen sein lassen,
den Konfuzianismus zu pflegen. Im Norden der Stadt steht der wundervolle
Konfuziustempel mit seinem strengen, bildlosen Ernst. In der Nähe ist das
Guoqijian, die Halle der Klassiker, ein quadratischer Raum in rundem Teich
(Zirkel und Winkelmaß symbolisierend), in dem die großen Kaiser persönlich
die Lehre verkündigt haben.
Aber auch die Mongolen waren da. Man wusste sie zu sichern
durch die Aufnahme ihrer Religion. Eine ganze Reihe von Tempeln des Lamaismus,
wie der Gelbe Tempel (Huangsi) und der Tempel der Harmonie und Eintracht (Yonghegong),
stehen in Peking und haben die Brücke gebildet nach der Mongolei und nach Tibet
hin. Mehr als ein lebender Buddha oder Großlama haben in Peking geweilt, und
einer ist sogar hier gestorben, wovon die Skulpturen auf schönen Marmorpagoden
in diesen Tempeln noch erzählen. Diese lamaistischen Heiligtümer beunruhigen
oft die Besucher Pekings. Der Lamaismus ist eine Form des Buddhismus, die voll
von Magie und schrecklichem Zauber ist. Die Kräfte der Natur sind durch Göttergestalten
verkörpert, die in ihrer rücksichtslosen Grausamkeit entsetzlich sind. Die
langen Posaunen, die durch den ganzen Hof reichen, tönen grässlich. Pauken und
Triangel und Muschelhörner sind aus einem verschlossenen Raum zu einem
monotonen Gesang hörbar. Die Phantasie hat Spielraum, sich auszumalen, was da
hinten an entsetzlichen Dingen geschieht. In Wirklichkeit wird einfach Messe
gelesen. Die Menschenschädel, die im Kult verwendet werden, die
tiergestaltigen, blutrünstigen Ikone, die oft ihre weibliche Schakti als Symbol
der Schöpfertätigkeit bei sich haben, sehen fürchterlich aus. Der Dämonen
mit den großen Masken, die erschrecken, der Teufel, der m Neujahr erst
geschlagen, dann verbrannt wird: alle diese spukhaften Geheimnisse zeigen eine
Form der Wüstenmagie, die nicht vereinbar erscheint mit dem milden, erhaben
ruhigen Buddhismus, von dem sie eine Sekte sind. Die Fremden aber, die diesen
Dingen verständnislos gegenüberstehen, wundern sich, wenn große, starkgebaute
Mongolen in ihren bunten Kutten sich andächtig zu Boden werfen im
Weihrauchdampf vor diesen Spukgestalten. Diese Fremden lassen sich mit lüsternem
Grauen die Vorhängchen aufheben von den Götterpaaren, deren intime
Zeugungsarbeit dem Blick der Unberufenen verhüllt ist, und wenn sie besonders
religiös sind, so entsetzen sie sich über den Gräuel chinesischen Heidentums
und suchen aus wissenschaftlichem Interesse im stillen eine Nachbildung dieser
entsetzlich pikanten Dinge sich zu verschaffen. In Wirklichkeit haben wir es
hier mit keiner chinesischen Religion zu tun. Der Chinese steht diesen Kulten
nicht minder fremd gegenüber als der Europäer. Es war die Staatsklugheit der
Herrscher des Mandschu-Hauses, die selber Anhänger des reineren
Mahayana-Buddhismus waren, dass sie die Wüsten- und Gebirgsstämme der Gobi und
Tibets dadurch an sich fesselten, dass sie ihrem Glauben diese Tempel bauten.
Wie Karl der Große den Papst beschützte, um durch ihn die Priester in der Hand
zu haben, so pflegten diese Herrscher den Kult jener Stämme, um die
geheimnisvollen Gegenden des mittleren Asiens mit ihrem Reich verbunden zu
erhalten. Diese Tempel in Peking waren jahrhundertelang wirksamere Bollwerke
gegen die Wüstensöhne, als es die große Mauer gewesen war.
Aber auch die Mohammedaner - sie sind meist Turkvölker aus
den westlichen Gebieten und in früheren Zeiten als Krieger im Lande angesiedelt
worden - haben hier ihre Tempel und Heiligtümer gehabt. Gegenüber der roten
Mauer der verbotenen Stadt der Kaiserpaläste stand früher ein hoher zweistöckiger
Torbau. Ursprünglich war er mit Marmorskulpturen verkleidet gewesen, aber lange
schon waren sie abgefallen, so dass die morsche Ziegelmauer darunter hervorsah.
Hinter diesem Tor war ein geheimnisvolles Durcheinander von Bäumen und Gebüschen,
aus denen große, zermürbte Dachbalken eines in Trümmern liegenden Gebäudes
hervorragten. Trat man näher, so sah man in den Trümmern eine Marmortafel, von
prächtigen Drachenornamenten umrahmt, auf der in türkischer, mongolischer,
mandschurischer und chinesischer Schrift die Stiftungsurkunde des Kaisers
Qianlong stand, der den hier wohnenden Moslim die Moschee gebaut hatte. Drüben
über der Straße ragt ein Hügel über die purpurne Mauer der verbotenen Stadt
hervor. Darauf steht ein kleiner Aussichtspavillon, der nach Westen schaut. Hier
lebte die Lieblingsgemahlin des Kaisers, die »duftige Gemahlin« (Hsiang Fe)
genannt. Sie war als wertvollstes Beutestück aus einem Kriegszug gegen unbotmäßige
Mohammedanerstämme mitgebracht worden. Immer hatte sie Heimweh nach ihrem
fernen Westen. Aber der Kaiser liebte sie. So baute er ihr den Aussichtspavillon
und die Moschee. Ihr Bildnis in romantischer Ritterüstung wurde von dem
kaiserlichen Hofmaler Lang Shining, der in Wirklichkeit Castillione hieß und
ein Italiener war, in öl gemalt und ist jetzt noch im Pekinger Hofmuseum zu
sehen. Sie hat ein tragisches Schicksal gehabt. Alle Liebe des Kaisers konnte
sie nicht schützen gegen die Stricke und Netze der Hofintrige, die sich um sie
spannen. Als der Kaiser einst zum Opfer auf dem Himmelsaltar in die südliche
Vorstadt ausgezogen war und dort fastend und betend mehrere Tage verharrte,
machte man ihr den Vorwurf, sie habe den Kaiser getötet. Als der Herr der Welt
und Himmelssohn zurückkam, da fand er seine geliebte Gemahlin tot; denn ihre
Feindinnen hatten dafür gesorgt, dass die Strafe für den grässlichen Mord,
dessen sie angeklagt war, sofort vollzogen wurde. - Heute ist die kleine Moschee
mit ihren Geheimnissen verschwunden. Eine breite Asphaltstraße zieht sich an
der Mauer vorbei. Der Eingang zum Präsidentenpalast ist hier, und auf dem alten
Hügel weht das fünffarbige Reichsbanner der chinesischen Republik. Dort, wo
der Tempel stand, ist jetzt ein Polizeibüro modernen Stils aus grauen Ziegeln
erbaut. - Die Mohammedaner sitzen jetzt hauptsächlich in der Ochsenstraße, und
ein deutscher Missionar in langem Bart übt liebevollen Herzens eine zwar kümmerliche,
aber gutgemeinte Armenpflege. Bekehrt hat er noch keinen von ihnen; denn die
Mohammedaner in China missionieren nicht und lassen sich nicht missionieren.
Aber er spricht mit ihnen von Gott und allem Guten und hat sie daran gewöhnt,
dass sie sich ziemlich regelmäßig zum Empfang der Almosen einfinden, die er
gewissenhaft allwöchentlich unter sie verteilt.
Noch andere Stämme sind gelegentlich in Peking
aufgetaucht. Es sind Steininschriften in der Nähe gefunden worden, die heute
niemand mehr lesen kann. Und die Europäer, die gegenwärtig in dem südöstlichen
Winkel der Mandschustadt vom Hatamen (dem östlichen Tor der Südmauer) bis zum
Qianmen (dem »vorderen« d. h. zentralen Südtor) im Gesandtschaftsviertel
wohnen, sorgen dafür, dass auch in dem vierten Peking, dem republikanischen,
die Völkermischung nicht fehlt. Wenn in den heißen Sommernächten die Fremden
auf dem luftigen Dach des Hotels de Pekin unter den Klängen einer Jazzband ihre
Negertänze ausüben, so ist das für chinesisches Empfinden nicht so sehr
verschieden von den kultischen Tänzen im Tempel Yung Ho Gong im Norden der
Stadt. Dort tanzen die Mongolen im Winter, und ihre Lamas sind verhüllt und
maskiert, dass fast nichts mehr von ihrer ursprünglichen Gestalt zu sehen ist,
und die Muschelhörner und Schädeltrommeln machen den Takt dazu. Hier tanzen im
Sommer die Europäer, und ihre Damen sind enthüllt und dekolletiert, so dass
fast nichts mehr von ihrer ursprünglichen Gestalt nicht zu sehen ist, und die
Negersaxophone und Holzklappern machen den Takt dazu. Freilich ihre Götter sind
verschieden. Dort sind es geheimnisvoll zauberhafte Wesen jenseits von Zeit und
Raum, hier ist es der platte, nüchterne Gott Mammon mit dem Dollar in der Hand.
- Es ist aber noch ein Unterschied vorhanden. Das alte China hat die Tänze der
Lamas niemals mitgetanzt. Doch Jung-China fängt teilweise schon an, Geschmack
zu gewinnen an Foxtrott und Onestep, und die schlanken chinesischen Herren mit
den feinen Händen und die zierlichen, wenn auch zunächst noch meist etwas
dezent gekleideten chinesischen Damen im Bubikopf können sich recht gut neben
ihren europäischen und amerikanischen Freunden sehen lassen.
Aber das alles ist nur Oberfläche. Andere Dinge sind es,
die für das vierte Peking von entscheidender Bedeutung sind. China hat seit
alter Zeit nach dem Meer und nach dem Süden Beziehungen gehabt. Dort lag
Kolonialland. Auch heute noch findet im Osten und Süden kolonialer Austausch
statt. Vom Meer her wurden die fremden Kolonien an Chinas Küste angelegt, die
heute der Schmerz und die Scham jedes vaterländischen Chinesen sind, weil sie
mit politischer Unterdrückung und persönlicher Arroganz der Kolonisten Hand in
Hand gehen. Der Typ dieser Kolonisation sind England und Japan, die Länder des
Imperialismus. Übers Meer hin geht aber auch von China aus eine Kolonisation.
Still und friedlich infiltriert sie die englischen, holländischen und
amerikanischen Besitzungen im Südosten von Asien. Schon heute ist der
chinesische Kaufmann und Arbeiter dort unentbehrlich. Diese Probleme werden der
Menschheit mit der Zeit noch ganz neue Aufgaben stellen; denn auch hier hat das
alte China ganz wie von selbst den neuen Weg gefunden. - Peking, die
Nordhauptstadt, liegt diesen Vorgängen ferner. Hier ist der Ort der
Auseinandersetzung mit dem Festland, dem Norden und Westen. Solange diese
Auseinandersetzung nötig und möglich ist, solange wird Peking bestehen. Zu
Beginn der Revolution, als alles sich nach Amerika hin zu orientieren schien, da
sah es einen Moment so aus, als ob Peking zurücksinken würde in eine Periode
des Schlafs und des Verfalls. Heute ist dieser Moment schon vorüber. Freilich
nicht mehr die Mongolen und Mandschuren sind es, die in Betracht kommen: heute
ist Russland an die Stelle dieser Mächte getreten. Russland stützt und fördert
China in 1-nem Kampf um die Unabhängigkeit. Darum wird Peking eine neue
Bedeutung gewinnen als eines der Zentren, wo Weltpolitik getrieben wird. Es ist
leicht, sich über den Bolschewismus aufzuregen, wie England das tut, und -
oberflächlich. Hier liegen Weltprobleme vor: Neuerstarken und Vordringen der
kontinentalen Masse gegen die ozeanische Aggression. Wer hier zu schauen
versteht, kann Blicke in die Zukunft der Menschheit tun.
Doch ehe wir das moderne Peking, in dem Vergangenheit und
Zukunft ineinander spielen, näher ins Auge fassen, wollen wir noch einmal zurückkehren
in das Peking der Vergangenheit, dessen Trümmer heute eher zugänglich sind,
als es seine frühere Abgeschlossenheit war. Freilich ist mit dieser Zugänglichkeit
auch immer verbunden, dass, wie das Morgengrauen in den Zauber der Mondnacht,
die neue Zeit in die Reste des Alten hineinfällt.
Wie viel ist schon geschrieben worden über den
Himmelsaltar im äußersten Winkel der Südstadt! Er liegt den Besuchern jetzt
offen; anders als zur kaiserlichen Zeit, da nur in der Tiefe der Neujahrsnacht
das große Geheimnis des Himmelsopfers hier am Mittelpunkt der Welt vollzogen
wurde, inmitten der uralten heiligen Bäume des Hains, auf dem marmornen Rund
der dreistufigen Terrasse, während an den drei hohen Masten die großen roten
Lampen glühten und prasselnd die Lohe aus dem Brandopferofen in dem äußeren
Mauergebiet gen Himmel schlug. Der Altar war überdeckt von Teppichen und
Laternen. Die Tafeln, auf denen die Namen des Himmels und der kaiserlichen
Ahnen, die als heilige Familie um den höchsten Gott im Kreis sich scharten,
geschrieben standen, die Tafeln mit den Namen der himmlischen und irdischen Kräfte,
die auf den unteren Umgängen von Prinzen und Ministern verehrt wurden, waren
hervorgeholt worden aus der blaudachigen Rotunde im Norden. In dieser Nacht nach
dem heiligen Fasten warf sich der Kaiser verehrend zu Boden: er, der
Himmelssohn, der sonst stets mit dem Gesicht nach Süden thronte, dieses einzige
nach Norden gewandt - dem hehren Ahn und Vater von Himmel, Erde und Menschen zu
Ehren, von dem er Stellung und Amt überkommen hatte.
An diesem Altar ist alles ganz abstrakt geistig: die
Kreisform, die das Bild des Himmels ist, die drei Umgänge, zu denen dreimal
neun Stufen empor führen, der runde Stein in der Mitte, den neun Steinplatten
im Kreise umgeben, während neun mal neun Platten die ganze Fläche decken. Die
Tore, die nach den vier Himmelsrichtungen zu vom Altarbezirk nach außen führen,
sind mit steinernen Wolkengebilden geschmückt. Die rote Mauer, die den
innersten Kreis umgibt, ist rund, mit blauen Ziegeln gedeckt, darum geht eine
andere, quadratische Mauer ebenfalls mit blauer Ziegelbedeckung. Nur eine gerade
Linie ist in diesem Gewirr von Mauern und Toren, Marmorstufen und Platten: es
ist die feine gerade Linie, die zwischen den Mauersteinen der Platten und Stufen
vom Mittelpunkt aus nach Norden weist: eine Mauerspalte nur, eine Richtung, eine
Tendenz. In dieser Richtung, die dem Kaiser seine Stellung andeutet, liegt das
ganze Geheimnis der Verehrung der himmlischen, unfassbaren Macht, die alles
Irdische beherrscht.
Auf dieser Linie liegt im Norden die dreistufige Rotunde
mit dem blauen glasierten Ziegeldach, die als Himmelstempel bekannt ist und das
Wahrzeichen von Peking geworden ist. Es ist der Tempel, in dem der Herrscher um
Erntesegen flehte. Hier ist in der reichen Symbolik des Baus schon das
Ineinander von Himmel und Erde angedeutet, das alles Wachsen und Werden ermöglicht.
Ein ähnliches Stufenrund wie beim Altar liegt in der quadratischen Ummauerung,
die durch ihre Form das Irdische bedeutet; denn die Erde ist quadratisch, wie
der Himmel rund. Die Geländer sind unten mit Wolken, darüber mit Phönixen
(Erde), darüber mit Drachen (Himmel) verziert. Das Balkenwerk des Tempels ist
ebenfalls mit Drachen und Phönixen geschmückt. Die Farbe des Himmels ist blau,
die Farbe des irdischen Wachstums ist grün. Die innige Vereinigung von Himmel
und Erde ist dadurch angedeutet, dass die Drachen in grünen und die Phönixe in
blauen Feldern schweben, und die Drachen unten, die Phönixe oben sind. Der
Himmel hat sich unter die Erde gestellt. Da die Bewegung des Himmlischen, Schöpferischen
aufwärts und die des Irdischen, Empfangenden abwärts gerichtet ist, so kommen
diese Kräfte in Verbindung und Vereinigung. Auch im Innern der runden Halle ist
dieses Widerspiel. Das runde Dach ist getragen von einem quadratisch angelegten
Balkenwerk, das auf vier große Säulen gestützt ist und in seinen Richtungen
die vier Jahreszeiten bedeutet, außen herum führen die zwölf Säulen der zwölf
Monate. Im Kreis umher stehen die Throne, auf denen beim Opfer die Tafeln der Göttlichen
aufgestellt waren. Wenn man diese Symbole, die auf die älteste Vergangenheit
zurückgehen, alle durchmeditiert, so sieht man die wirkende Natur vor Augen
liegen, und man versteht, dass Konfuzius einst gesagt hat: »Wer den Sinn der
Großen Opfer verstünde, für den wäre die Regierung der Welt so leicht, als läge
sie auf seiner flachen Hand.«
Heute ist das alles Vergangenheit. Yuan Shikai hat noch
einmal den schwachen Versuch gemacht, die alten Bräuche künstlich zu beleben.
Es ist ihm schlecht bekommen. Seither brütet der blaue Himmel über dem
ungeheuren Feld, die Wolken ziehen, und der Regen fällt, Schnee wirbelt, und
die Winde wehen. Leise, leise geht die Zeit und bröckelt leise, leise an den
Resten der Vergangenheit, bis sie einst stürzen werden, wenn ihre Zeit vorüber
ist. Jetzt ist der Tempel ein Nationalmonument. Die Anlagen werden instand
gehalten von den Eintrittsgeldern, die die fremden Besucher zahlen; auf dem
weiten Raum vor dem Tempel werden am Baumfest im Frühling von der Jugend
Zypressen gepflanzt, die langsam heranwachsen und die Ebene füllen. Im Süden
ragen die Masten der Radiostation, und aus der Ferne tönt der Pfiff der
Eisenbahn herüber. Eifrige Beamte sammeln Geld, um auf dem Gelände um den
Himmelsaltar demnächst eine Weltausstellung zu eröffnen.
Während der Himmelsaltar mit seiner Anlage noch immer die
Seele jedes empfänglichen Menschen mit Verehrung erfüllt ist der
Ackerbautempel über die Straße drüben vollkommen der Zerstörung
preisgegeben. Hier lag das Feld, wo der Kaiser unter den Klängen der heiligen
Flötenmusik mit eigener Hand den Pflug durch die Furchen führte und seine
Minister ihm nachfolgten in der ursprünglichsten und heiligsten Handlung. Hier
war unter schwarzglasiertem Ziegeldach der Tempel des großen Jahres, des
Jupitersterns und aller himmlischen Bilder, durch die die Zeit dem Menschen
erschien, die Zeit, die für den Ackerbau so wichtig ist. Jetzt ist eine Kaserne
in den Tempelräumen. Die heiligen Haine, in denen früher unberührt die Gräser
und Kräuter unter hohen Lebensbäumen wuchsen, wie es der Mutter Erde gefiel,
sind zum öffentlichen Belustigungspark gemacht. Die Kräuter und Gräser sind
ausgerissen. Auf den viereckigen Terrassen, auf denen den Wolken und Bergen, dem
Regen und Wind geopfert wurde, die in geheimnisvoller Stille unter seltsam
geformten Kiefern träumten, sind jetzt Mattenverschläge errichtet, und an
Sommernachmittagen kommen die Familien und trinken auf diesen Altären einen
schlechten Kaffee und Sodawasser. Volksfestgedränge hat die heilige Stille
totgeschlagen.
In den Außenbezirken der vier Himmelsgegenden lagen die
Altäre, auf denen die großen kosmischen Kräfte verehrt wurden : im Süden der
Himmel auf rundem Altar, im Norden die Erde auf quadratischem Altar, im Osten
der Sonnengott und im Westen die Mondgöttin. Das ist urältestes Erbteil und
stammt aus einer Zeit, die noch der Zhou-Zeit vorangeht - denn unter den Zhou
war die Sonne weiblich und stand im Süden und der Mond männlich und stand im
Norden, im Osten aber stand der Donner (männlich) und im Westen der See
(weiblich) -• Heute sind alle diese Altäre verfallen. Der Sonnenaltar, von
dichten Bäumen umschattet, liegt in einer stillen Gegend träumerisch da, und
wenn man auf der Stadtmauer dem Sonnenaufgangstor zuwandert, so sieht man ihn in
der Ebene still und abseits, als läge er auf einem ausgestorbenen Planeten. Die
Gebäude der anderen beiden Heiligtümer (Erd- und Mondaltar) sind zu Kasernen
umgewandelt.
Zu den tellurischen Gottheiten gehörten die Geister der
Ackerkrume und der Hirse. Ihr Altar stand nahe beim Palast; denn Ackerkrume und
Hirse (She ji) waren die Gottheiten des Landes und der Gesellschaft, der sie
besaß, besaß das Reich. Fünffarbene Erde war zu einer Terrasse gehäuft: Im
Zentrum gelb, im Osten blau, im Süden rot, im Westen weiß, lm Norden schwarz.
Ein Stück dieser heiligen Erde bekamen früher die Lehnsfürsten für ihren
Altar- Fiel ein Herrscherhaus, so wurde vom Sieger sein Altar vermauert und vom
Himmelslicht abgeschlossen. Blumen blühen um den Altar der Ackerkrume und der
Hirse. Uralte Leben^bäume wachsen vor der Mauer, in denen alte Vögel krächzet
ein Teich trennt diese heilige Stätte vom Kaiserpalast mit seinen roten Mauern
und Zinnen und goldgelben, glänzenden Dächern, die sich in seinen stillen
Wassern spiegeln. In den Gängen zwischen den Zypressen drängt sich die Jugend
Pekings, die Studenten und Studentinnen, Familien mit Söhnen und Töchtern, und
auch die kleinen Sängerinnen fehlen nicht. Hügel sind angelegt und Teiche, und
kleine Hallen an den Teichen, in denen man Gelage feiern kann. Vögel schwimmen
auf den Teichen, Kraniche stelzen am Ufer, und rotbemalte Gänse schnattern.
Goldfischanlagen stehen in einer Laube: Viele verschiedene Gefäße sind
aneindergereiht, in denen die seltsam phantastischen Tiere schwimmen mit den
Kugelaugen und langen Schleierschwänzen. Photographen sind zur Hand.
Kegelbahnen und Restaurants laden ein. Man kommt und gerat, man ruht und
plaudert und verträumt den Nachmittag, man. trifft sich hiermit seinen
Freunden, oft sind Ausstellungen, oft Massenversammlungen, oft wissenschaftliche
Klubs und oft Partien mit Schauspielerinnen. Am Eingang steht der frühere
Kettelerbogen, mit seinen durch die Zeit schon etwas üb erholten Inschriften. Für
Lenin wollen die Studenten ein Monument errichten. So herrscht ein buntes Leben
am Altar der Ackerkrume und der Hirse. Die alte Zeit ist hier schon ganz
vergessen. Er ist zum Zentralpark umgewandelt worden.
Doch nun ist es Zeit, dem Kaiserpalast und seiner Anlage
sich zuzuwenden. In Europa gibt es auch prächtige Schlösser, die etwa einen
weiten Platz beherrschen, dessen Gestaltung so abgestimmt ist, dass sie zum
Ganzen passt. Aber in Peking beherrscht der Palast nicht einen Platz. Er ist
eine Stadt für sich, und die ganze Millionenstadt Peking ist in den Plan dieser
Palaststadt hineinkomponiert. Drei Ringe sind dem Palast vorgelegt: die
Chinesenstadt im Süden, durch einen breiten Mauerwall davon getrennt die
Mandschustadt, durch eine weitere Mauer umschlossen die Kaiserstadt, in der die
Banneroffiziere und Hofbeamten wohnten, und endlich durch Wall und Graben von
jedem unbefugten Betreten geschützt die heilige purpurne verbotene Stadt der
eigentlichen Paläste. Wenn man diese großartigste Komposition in Beziehung auf
Raumgestaltung einer ganzen Stadt verstehen will, so muss man im Geist nach Süden
wandern bis zum südlichen Tor der Chinesenstadt. Von da aus zieht sich eine
meilenlange gerade Achse direkt nach Norden. Im Dunst der Ferne taucht am Ende
der Straße das Südtor der Mandschustadt in seinen Umrissen nur eben auf. Der
Weg führt am Himmelsaltar zur Rechten und am Ackerbautempel zur Linken vorüber.
Die leeren Räume, die sich an die Straße anschließen, sind besetzt mit
Mattenzelten, in denen Tee verkauft wird, Theatertribünen, Marktbuden. Tagaus
tagein ist hier ein geschäftiges Treiben. Dann schließen sich die festen Gebäude
.allmählich dichter zusammen. Wenn man die Himmelsbrücke überschritten hat,
wo vor Tagesanbruch Markt gehalten wird, auf dem gar manche Beutestücke nächtlichen
Diebstahls zum Verkauf kommen, dann verwandelt sich die Bretterstadt immer mehr
in die Stadt der Kaufleute. Goldverzierte Firmenschilder hängen senkrecht an
den einstöckigen Läden, die mit bunter Pracht und abends mit tausend
elektrischen Lampen ausgestattet sind. Das Gedränge wächst, je näher man der
Mandschustadt kommt. Autos, Rikschas, Pferdewagen chinesischer Art und die etwas
altertümlichen Glaskutschen der Beamten drängen sich. Dazwischen stehen die
Straßensprenger, die aus großen Kübeln Wasser auf die Straßen gießen, damit
der Staub, der dauernd in der Luft wirbelt, ein bisschen wenigstens
niedergeschlagen wird. Die Fußgänger bewegen sich in dichten Schlangen an den
Seiten der Straße. Auf den Fußsteigen sind alle paar Tage die fliegenden
Verkaufsstände aller Arten von Kleinhändlern aufgestellt. Aber das ganze
Getriebe, das oft so eng sich drängt, dass die Wagenketten viertelstundenlang
stehen bleiben müssen, ehe sie sich weiterschieben können, geht in Ruhe und
ohne Streit voran. Soldaten und Polizisten stehen alle paar Schritte in der
Mitte der Straße, um den Verkehr zu regeln. Nun kommen die Querstraßen der
feinen Geschäfte. Zur linken Seite die Dashalan, wo die hohen, goldenen
Seidengeschäfte stehen, dann die Gasse der Juwelenhändler, die außer
Nephriten, Perlen und Edelsteinen auch allerlei echte und falsche Kunstgegenstände
feilbieten, ferner die Laternengasse, wo es die hübschen chinesischen
Papierlaternen und Fächer gibt. Nach Westen geht der Weg dann ab zur Liulichang
(Glasmacherwerkstatt), in der sich jetzt die Kunsthandlungen drängen.
Aber lassen wir das alles für jetzt beiseite liegen, und
fahren wir unter dem buntbemalten hölzernen Durchgang hindurch, von wo die Straße
sich in zwei Bogen teilt, die rechts und links um die Bastion des Qianmen oder
Zhongyangmen (Vorderes Tor oder Hauptsüdtor) herumführen. Diese Bastion ist früher
mit dem Haupttor durch Mauervorsprünge verbunden gewesen, die aber wegen des
stark vermehrten Verkehrs an dieser Stelle niedergelegt werden mussten. Das
Haupttor mit seinem farbigen Aufbau schaut als Wahrzeichen weit hinaus ins Land
und grüßt durch die duftige Ferne die anderen Torbauten, die die Hochstraße
der Mauer unterbrechen. Rechts und links vom Tor sind die beiden kleinen
Tempelchen der Guanyin und des Guandi, die die Stadt beschirmen, während
weiterhin Wachtgebäude sich an die Stadtmauer anlehnen. Das Mitteltor ist stets
geschlossen. Es war dem Kaiser vorbehalten. Der Verkehr geht durch zwei
Doppeltore rechts und links, die durch die Mauer gebrochen sind.
Das Südtor kann als Eingang zur Palaststadt betrachtet
werden, denn von hier aus führt in der Verlängerung der bisherigen Nordsüdachse
die mit Marmor gepflasterte Straße weiter nach Norden. Nach einer kurzen Anlage
folgt ein roter Durchgang mit buntem Balkenwerk und gelbglasiertem Dach in den
ummauerten Bezirk. Dann kommt man an die große Marmorbrücke, vor der zwei
Drachen auf hohen Marmorflächen Wache halten, von da geht es durch einen mächtigen
zinnengekrönten Bau, dessen Ecken durch massive viereckige Türme befestigt
sind, immer weiter nach Norden von Hof zu Hof, von Halle zu Halle. Die Höhe und
Mächtigkeit der Bauten des Palastes kommt weniger zum Bewusstsein. Sie sind in
die ungeheuren leeren Räume hineingesetzt und wirken ohne zu überraschen.
Immer tiefer, heiliger, zurückgezogener wird die Gegend. So geht es fort, bis
endlich im Norden wieder ein Graben den Abschluss bildet hinter dem verborgenen
labyrinthischen Gewirre der Höfe und Plätze des kaiserlichen Wohnreviers. Überragt
wird das Ganze von dem dreigipfligen Kohlenhügel, dessen zerspellte Baumleichen
und verfallene Pavillons der Zeit des Untergangs geweiht erscheinen.
Die Zeit, derer man bedarf, um alle diese Höfe von Marmor
und die farbenleuchtenden Hallen zu durchschreiten, wirkt so, dass dadurch ein
ganz neues Raumgefühl der Horizontalen erzeugt wird, dessen stärkster
Gegensatz vielleicht der eng in die Höhe schießende, auf einen Blick überwältigende
gotische Dom ist. Im gotischen Dom: Streben, Bewegung, Übermaß, Höhe, Enge,
Raumlosigkeit, Unruhe, hinauf in immer steilere schwindelndere Lüfte, von der
Erde hinweg ins leere Blau des Abstrakten, des Jenseits, - hier im chinesischen
Palast: Erdbewusstsein, Ruhe, unendliche Räume in der Breite und Tiefe
gegliedert, die Zeit als Raum, das große, vornehme Wartenkönnen, behagliche
Wirklichkeit ausgebreitet auf der sicheren Erde, gelb und stark in Farben
leuchtend, darüber als Ahnung sich wölbend und Bedeutung verleihend der große,
erhabene, blaue Himmel: Einheit von Himmel und Erde, die Ewigkeit konkret in der
Zeit erscheinend, das Erhabene im Diesseits.
Gewiss, dieses Weltgefühl - letzten Endes das Weltgefühl
der Ebene - ist heute vergangen. Wir wollen nicht mehr den Reichtum des Raums in
der Weite des Weges und der Länge der Zeit sich entfalten sehen. Wir wollen
Zeit sparen, Räume überwinden, alles ist uns zur Stufe geworden und Mittel zum
Zweck und jeder Zweck selber wieder Mittel für etwas anderes. Darum wirkt diese
lebhaft tüchtige Wirklichkeit auf viele Menschen so aufregend. Sie haben nicht
mehr die Zeit dazu. So hat man ja auch den größten Irrtum begangen und Pekings
Straßen mit Straßenbahnen durchzogen. In Peking muss man Zeit haben und darf
nicht nach Sensationen jagen. Wer keine Zeit hat, mag nach Shanghai gehen und
dort sich von Mephisto unterweisen lassen, was zu einer Großstadt gehört von
Rollekutschen, lärmigem Hin- und Widerrutschen, ewigem Hin- und Widerlaufen
zerstreuter Ameis-Wimmelhaufen. In Peking gibt es andere Dämonen. Mephisto fühlte
sich hier gelangweilt und so wenig zu Hause wie auf der klassischen
Walpurgisnacht.
Wie groß diese Palaststadt eigentlich ist, das erkennt man
erst, wenn man bedenkt, was seit der Revolution aus ihren Teilen alles geworden
ist: zwei große öffentliche Museen, in denen die Schätze an Kunst und
Kunstgewerbe, die Jahrhunderte zusammengebracht haben, ausgestellt sind, der
Zentralpark, der Präsidentenpalast am »Mittleren Meer«, die Räume für die
Arbeiten des Ministerkabinetts am »Südlichen Meer«, der große Park mit
seinen Ausflugshallen und Bibliotheken, der runden Stadt, der großen
Marmorpagode und all den Tempeln am »Nördlichen Meer«, die Unzahl von Büros
und Unterkunftsräumen für alle möglichen Behörden, die Hallen und Höfe, die
für die Zwecke des Parlaments beansprucht wurden, die Räume für den Empfang
der fremden Gäste und neben dem allem noch der ungeheure Komplex, in dem die
Tausende von Hofbeamten, Eunuchen, Palastdamen, Dienerinnen, Kaiserinnen mit
ihrem ganzen Dienstpersonal untergebracht waren, die Hallen, die den Feuersbrünsten
der letzten Jahre zum Opfer gefallen sind, und die vielen, vielen Räume, die
noch immer zur Verfügung stehen: das zeigt die Weiträumigkeit dieser Anlage,
die auf der ganzen Erde in ihrer Art nicht ihresgleichen hat.
Der Palast bildet das Herz der Stadt. Das Straßennetz führt
außen um ihn herum, und erst seit der Revolution ist der Verkehr von der
Oststadt zur Weststadt an einigen Stellen dadurch erleichtert worden, dass Straßen
quer durch das Palastgelände gehen. Durch die lange Abgeschlossenheit ist es
dazu gekommen, dass die beiden Stadtteile im Osten und Westen einen ganz
verschiedenen Charakter bekommen haben. Die Oststadt wird von Süden nach Norden
durchschnitten von der großen Hatamen Straße. An der Straße selbst sind meist
Läden und Geschäfte. Aber rechts und links gehen die Querstraßen ab, die ein
seltsames Gewimmel von Menschen und Tieren enthalten. Kleine, in sich
abgeschlossene Gehöfte werden gelegentlich von Europäern gemietet, die sich
darin mehr oder weniger chinesisch und meist recht gemütlich eingerichtet
haben. Wenn man in einer Frühsommernacht mit einigen guten Freunden im
blumenduftenden Höfchen eines solchen chinesischen Anwesens sitzt mit Blumenkränzen
im Haar bei einer Flasche guten Weins, dann lässt sich wundervoll über das
Leben reden. Der Mond scheint dazu über die Dächer her. Draußen tönen die
verschiedenartigen Rufe der Verkäufer, das Lachen der Kinder und der dumpfe Lärm
der Ferne. Schließlich schweigt die Nacht, nur einsam bellt noch ein Hund nach
dem Mond oder nach einem verfrühten Dieb.
Die Nächte von Peking haben Vergangenheit. Es blickt etwas
von Wüste und Unendlichkeit herein, wenn die Lichter des Himmels so mächtig
schimmern. Gespenster schleichen durch die schwarzen Schatten, die auf dem
Steinboden des Höfchens herumkriechen, wenn die Papierlaternen verflackert sind
und der Mond allein mit seinem Licht Häuser und Schatten langsam verdreht. Aber
die Gespenster sind nicht sehr böse: vielleicht ein Fuchs, der sich ein wenig wärmen
möchte an der Seele eines Menschen und sich, deshalb in ein hübsches Mädchen
wandelt, oder eine Leiche, die noch nicht lange genug tot ist und noch phosphorn
leuchtende Widerscheine im Dunkel aufblitzen läßt. Vielleicht sind es aber
auch nur die Leuchtkäfer, die um den Dachfirst irren, und der merkwürdige
Seufzer in jener schattendurchwirkten Ecke unterm Baum ist nur ein verirrter
Windstoß, der vom Herbst oder Spätwinter träumt, da er hervor darf und im
Staub der Straße wühlen. Die Gespenster sind nicht sehr böse, wenn man sie
nicht stört.
Peking ist eine gute Stadt, wenn auch ebensoviel Böses
dort geschieht in Heimlichkeit und Offenheit wie in den anderen Städten. Aber
der Ort ist gut. Wenn man einen Zweig in die Erde steckt, so treibt er Blätter
und Blüten, so fruchtbar ist der Boden. Es gibt viel Schmutz da. Die Hygiene
der Neuzeit ist noch nicht in jedem Winkel auf Bazillenjagd. Die Furcht vor den
Bazillen ist ja die moderne Form des Geisterglaubens. In Peking laufen noch
wirkliche Geister herum, da jagt man den Bazillen noch nicht nach. Es ist
geradezu unglaublich, welche Möglichkeiten sie haben, sich zu entwickeln.
Jahrhundertelang war auf den Straßen beinahe alles erlaubt - nicht nur den
Menschen, auch dem Vieh. Man konnte Spülwasser ausgießen, Reste wegwerfen; ein
Hund, eine Katze durften, wenn sie nicht anders konnten, sterben, - kurz, die
Straße nahm alles milde auf und deckte mit ihrem Staub alles Ekle wieder zu.
(Nur die Gerüche lassen sich oft schwer verdecken.) Wenn man nun den Mutwillen
des Windes bedenkt, der das von Zeit zu Zeit immer durcheinanderwirbelt und den
dunklen Staub dem Wanderer in Augen, Ohren und Nase bläst, da könnte
theoretisch kein Mensch am Leben bleiben bei all den Billionen von Bazillen.
Aber Peking ist eine gute Stadt. Die Sonne scheint jahraus jahrein, und mit
ihren wählen bezwingt sie auch die bösen Geister der Bazillen.
Natürlich gibt es kranke Leute in Peking, und viele
sterben. Aber das kommt auch anderswo vor, und die Sterblichkeitskurve ist nicht
schlecht. Am meisten hat der Mann auf der Straße Angst vor dem Rockefeller
Medical Institute. Das ist ein wundervoller alter Prinzenbau mit giftiggrünen
Ziegeln. Die Räume sind alle rein und aseptisch, und kein ungebetener Bazillus
darf sich hinter den Fliegengazen der Fenster herumtreiben. - Nur die regelmäßig
gefütterten Bazillen in den Tiergärten der Gelatineröhrchen haben es gut. Sie
dürfen sich ordentlich mästen, unter Aufsicht natürlich und höchst
manierlich. - Auch das Operationsmesser arbeitet rein, glatt und sicher und mit
allen Komfort der Neuzeit. Und doch, der Bettler auf der Straße und der
Kaufmann hinter dem Ladentisch sind noch immer arme, abergläubische Heiden und
wollen lieber in Frieden auf ihrem Holzbett sterben oder auf einem ruhigen
Misthaufen, wenn es nicht anders sein kann, als im »Schlachthaus«, wie sie den
Prachtbau nennen. Das sind natürlich Vorurteile; denn in den feinen Hospitälern
sterben auch nicht mehr Leute als ohnehin gestorben wären. Ja, manche werden
sogar unter den geschickten Händen der bewanderten Pflegerinnen und tüchtigen
Ärzte vom Tode gerettet, und alle, welche kommen, werden mindestens gewaschen
und desinfiziert. Aber die Leute haben nun die Antipathie. Schließlich gibt es
vielleicht keine größere Weisheit, als jeden auf seine Fasson selig werden zu
lassen, wie das in China bisher üblich war.
Es liegen hier recht schwere Fragen. Ich habe mich einmal
einem armen chinesischen Rikschakuli gegenüber vergeblich bemüht, ihm Europas
und Amerikas Fortschritt auf dem Gebiet der Heilkunde klarzumachen. Er sagte: »Bei
uns lässt man die Leute sterben, wenn sie nicht mehr leben können. Man macht
ihnen den Tod leicht, man trauert um sie und begräbt sie. Die so sterben sind
die Alten, die Siechen, die Krüppel, die Schwachen, die doch keine rechte
Freude am Leben haben. Die Starken und Zähen reißen sich durch, und wir leiden
ja nicht an Mangel von Lebenden, sondern eher an Überfluss. Ihr schützt und
pflegt die Untergehenden und erhaltet Menschen, die sich und anderen zur Qual
sind, nur damit eure Ärzte sich ihrer Geschicklichkeit rühmen können.
Gleichzeitig macht ihr Kanonen und Giftgase und teuflische Maschinen, und damit
tötet ihr in ein paar Jahren mehr Menschen, als ihr vorher jahrzehntelang wider
die Natur am Leben gehalten. Aber die ihr tötet, das sind die Starken und
Gesunden, die der Menschheit noch viel hätten nützen können, und die ihr
pflegt und rettet, sind die Krüppel und Elenden. Ist das nicht töricht?« Ich
ließ den Mann mit seinem Wagen weiterfahren, da ich in der Eile der Geschäfte
keine recht passende Antwort zur Verteidigung der europäischen Kultur bei der
Hand hatte.
Aber da wir gerade dabei sind, wollen wir uns auch von den
Schattenseiten des Lebens nicht ohne Worte abwenden. Bei den vier
Durchgangstoren des Ostens (Dong si bai lou), die an einer Straßenkreuzung
stehen, ist das Kloster des Segens und des Glücks (Longfusi). Dort ist alle
zehn Tage großer Markt. Peking hat eine ganze Anzahl solcher Märkte, und es
ist ganz belehrend und vergnüglich, sich im Gewühl herumzutreiben. Der Markt
von Longfusi ist von den Europäern »entdeckt« worden, und die chinesischen Händler
ihrerseits haben bald diesen Umstand auch entdeckt. So ist der eine Hof des
Tempels denn auch jederzeit erfüllt von Altertümern: Tassen, Vasen,
Nippsachen, Kästchen, Platten, Kohlenbecken, Schnupftabakfläschchen,
Heiligenstatuetten, Nephritgegenständen und tausend anderen wertvollen oder
wertlosen Dingen. Die Preise sind zum Teil reine Phantasiepreise, vage Wünsche
des Händlers, wie viel er vielleicht am liebsten für die Sache hätte. Aber
die Leute lassen alle mit sich reden. Es entspinnt sich ein Kampf um den Preis,
der Kennern auf beiden Seiten Freude macht. Es ist ein Kampf wie ein Trinkspiel.
Man nennt nicht den Preis, den einem die Ware wert ist und über den man nicht
hinauszugehen gedenkt, sondern einen weit niedrigeren. Zweck des Handels ist,
sich irgendwo in der Mitte zu treffen. Das ist Sache der Nerven, der inneren
Kraft der imponierenden Persönlichkeit. Der Händler lässt alle Künste einer
primitiven Magie spielen, um den Gegenstand liebreizend und wertvoll erscheinen
zu lassen. Er hat manchmal wunderbaren Erfolg. Oft werden Fälschungen,
offenbare Fehler, Bruch und Verletzungen übersehen, von denen der Käufer sich
nachträglich gar nicht mehr erklären kann, wie das nur möglich war. Im
allgemeinen muss man möglichst die Ruhe wahren, nichts unter allen Umständen
haben wollen - erst wenn man innerlich frei ist, kann man richtig feilschen -,
und vor allem, man darf die Händler nie betrügen wollen. Wenn ein Europäer
nach Hause kommt in dem Hochgefühl, einen Händler gründlich übers Ohr
gehauen zu haben, wird er in der Regel mit der Zeit Gelegenheit haben, seinen
Irrtum zu bedauern. Natürlich gibt es auch hier keine Regel ohne Ausnahme. Ich
habe schon Käufer gekannt, die mit den von ihnen gekauften Waren einfach
abgereist sind, ohne zu bezahlen - diese Fremden waren keineswegs das, was man
unter Dieben zu verstehen pflegt -, aber auf der anderen Seite kann man auch
nicht behaupten, dass jedes redlich erworbene Altertum nun wirklich echt sei.
In der Nähe dieses Marktes ist an manchen Tagen
Schweinemarkt. Das ist nun freilich eine Hölle. Manche Menschen von Gefühl
machen an diesen Tagen lieber weite Umwege, als dass sie die Qualen der wehrlos
gefesselten umherliegenden Tiere mit ansehen, oder ihr Schreien hören, wenn sie
gestoßen, geschlagen, getrieben, getötet werden. Hier ist die Tierhölle, die
von den Höllen draußen vor dem Osttor im Tempel des Totengottes nicht
wesentlich verschieden ist. Auch die Hunde auf der Straße haben es nicht gut.
Sie werden selten persönlich gepflegt, sondern treiben sich, oft krank und räudig,
überall umher, wo sie einen Bissen erschnappen können, bis sie in einem Winkel
zugrunde gehen.
Dort begegnet man einem Zug von Kamelen. Im Winter tragen
sie einen dichten Wollpelz, der im Laufe des Frühlings in Fetzen sich löst,
bis sie im Spätsommer völlig nackt sind, worauf ihnen neuer Flaum wächst.
Diese Mauserung macht aus den Tieren oft die groteskesten Karikaturen. Sie haben
alle einen Missvergnügten, hochmütig höhnischen Zug um den Mund. Manche beißen
auch, und allen sieht man es an, dass sie keine liebevollen Wesen sind. Sie
haben viel zu dulden und dulden meistens stumm. Nur wenn man sie beladen hat und
sie aufstehen sollen, widerstreben sie. Sie werden am Nasenring gezogen, und
dann schreien sie entsetzlich. Auch wenn ihnen die Ledersohlen an die Füße genäht
werden, wenn sie beim Wüstenzug sich wund zu laufen beginnen, äußern sie sich
klagend. Sonst gehen sie still und heimtückisch ihren dürftigen Leidensweg.
Man hat schon häufig gefragt, ob das chinesische Volk
grausam sei. Eine solche Frage enthält eigentlich einen Fehler. Es gibt kein
Volk, das als Ganzes grausam wäre, ebenso wie es kein liebevolles Volk gibt. Höchstens,
dass Sitten und Gewohnheiten bestimmte Gleise haben. Hier ist nun allerdings die
Grenzlinie zwischen Liebe und Rücksichtslosigkeit anders gezogen als in Europa.
Der Chinese findet das europäische Familienleben herzlos und liebeleer. Söhne
von Brüdern schon stehen einander fremd gegenüber, und selbst Kinder gibt es,
die ihre Eltern nicht versorgen. Das ist in China ganz anders. Hier ist das Gefühl
gegen Eltern und Geschwister so warm und aufrichtig, dass es auch in der Lyrik
als Gehalt verwendet wird. Aber die öffentliche Hilfsbereitschaft, die einem
Menschen auf der Straße beispringt, den man gar nicht kennt, ist in China nicht
so entwickelt wie in Europa - eben wegen der hohen Entwicklung des Familiengefühls.
Wo ferner grausame Strafen herrschen, da werden die Sitten
roh, das sieht man ja am besten im Krieg - auch unter ganz zivilisierten Völkern.
So bewirkten die früheren grausamen Strafen in China eine Abstumpfung der Gefühle
gegen das Leiden anderer. Aber ebenso ist in den letzten Jahren, seit diese
Strafen abgeschafft sind, eine entschiedene Besserung eingetreten. Gerade die
Behandlung, die die internierten Deutschen während des Krieges erfahren haben,
zeigte viel mehr Rücksicht und Mitleid bei den Chinesen als bei den Europäern
in Ostasien.
Den Tieren gegenüber ist der Mann aus dem Volk nicht
grausam, aber oft gedankenlos. Selbstverständlich liebt und pflegt er die
Tiere, mit denen er zusammen ist und die ihm als Haustiere von Nutzen sind. Die
Haustiere werden im allgemeinen recht gut behandelt. Allerdings ohne
Sentimentalität. Die zarte Rücksichtnahme, die in Europa ältere Damen auf
ihre Hunde nehmen - in Qingdao war z.B. eine deutsche Lehrerin, die verwöhnte
ihre beiden Hunde sogar auf Kosten von Menschen -, ist in China im allgemeinen
nicht vorhanden. Tiere sind für die Chinesen unvollkommenere, niedrigere Wesen
als die Menschen, auf die man darum weniger Rücksicht nimmt. Hier wirkt der
Buddhismus etwas erweichend durch sein Mitleid mit allem, was lebt. Freilich
nicht der Salonbuddhismus, der an Feiertagen Vögel auf dem Markt kauft, um
ihnen die Freiheit zu schenken, während die Händler sie auf dem nächsten Dach
wieder einfangen, um sie aufs neue zu verkaufen. Aber der Buddhismus hat auch stärkere,
tiefere Anregungen, und eine Neubelebung des gemütstiefen Buddhismus wird
sicher gute Wirkungen auf die Sitten des Volks haben. Dass die Chinesen Gemüt
haben, also nicht grausam sind, sieht man am besten an der Art, wie sie mit
Kindern umgehen. Fast allgemein kann man finden, dass Kinder freundlich und
milde behandelt werden. Ein Volk, das Kinder liebt und mit Kindern lachen und
spielen kann, ist in seiner Seele gut. Die Kinder sind daher auch ihrerseits
harmlos, gutartig, oft begehrlich, aber nicht frech. Wenn die Begehrlichkeit zu
weit geht, dann werden sie beruhigt, indem man ihnen tausend schöne Dinge
verspricht. Namentlich die Kinderfrauen haben das in Übung. Das Kind nimmt die
Dinge wohl selbst nicht ernst. Aber es freut sich, zuzuhören, und darüber wird
es ruhig.
Tagtäglich führte mein Weg an der Mauer der Kaiserstadt
entlang nach Norden. Innerhalb der Mauern fließt ein Graben langsam und träge
nach Süden. Dichte Weiden stehen an seinem Ufer. Man kommt an alten Tempeln
vorbei, deren Götter gestorben sind und die nun zu weltlichen Zwecken dienen.
Ein steinerner Torlöwe mit abgeschlagenem Kopf steht irgendwo an einer Ecke.
Ein Arzt mit vielen Ehrentafeln, die ihm geheilte Patienten geschenkt haben, hat
sich an dem Kanal niedergelassen. Ein emsiges Leben geht an dem grünen, trüben
Wasser hin und her. In der Nähe des Kohlenhügels liegt in der Oststadt die
Reichsuniversität, an der ich Vorlesungen zu halten hatte. Ich denke mit großer
Freude zurück an meine chinesischen Kollegen, mit denen sich manches
interessante Gespräch während der Pausen entwickelte, und an die Studenten,
die zum größten Teil mit Eifer und Verständnis dem Gebotenen folgten. Ein
unscheinbares Gebäude ist diese Universität, ein kahler, düsterer, roter
Backsteinbau (andere Teile der Universität liegen südlich und westlich und
sind erfreulicher im Äußern). Aber in den 25 Jahren ihres Bestehens war sie
eine geistige Macht im öffentlichen Leben Chinas, wie wohl selten eine
Universität in ähnlichem Maße von sich sagen kann. Diese Macht wirkte im
Sinne der freien Gestaltung des Lebens, sozialer und politischer Reform und des
Neubaues des gesamten chinesischen Geistes. Die pekuniären Verhältnisse der
Dozenten sind dürftig. Die meisten müssen durch schriftstellerische Arbeit ihr
Brot verdienen, da die Geldzahlungen wegen des großen Elends der Staatsfinanzen
sehr unregelmäßig sind. Aber durch einen hohen Idealismus bewogen, bleiben die
Dozenten ihrem Beruf treu, und jeder empfindet es als Ehre, dem Lehrkörper
dieser Anstalt anzugehören.
Hier beim Kohlenhügel geht ein Weg von der Oststadt in die
Weststadt hinüber. Man kommt durch ein Tor der alten Palaststadt. Dann führt
der Weg über eine geschwungene Marmorbrücke, die der Länge nach durch eine
hohe Mauer geteilt ist. Die südliche Hälfte gehört zu den Anlagen des Präsidentenpalastes.
Der nördliche Trakt ist dem Verkehr übergeben. Man hat von hier einen Überblick
über das lotosbewachsene »Nördliche Meer« (Beihai) mit seinen Gebäuden und
Uferhügeln, die hinten von dem großen Pagodenhügel abgeschlossen werden, von
dem die marmorne tibetanische Pagode herübergrüßt, die das Wahrzeichen des
Nordens von Peking ist.
Die Weststadt hat einen anderen Charakter als der Osten.
Merkwürdigerweise gehört auch Peking zu den Hauptstädten, in denen der Westen
die vornehmere Gegend ist. Selbst draußen vor dem Shunchimen, dem südwestlichen
Tor der Nordstadt, ist ein vornehmes Viertel. Hier liegen viele beliebte
Restaurants. Die Kunsthändlerstraße Liulichang erstreckt sich bis hierher, und
die pädagogische und medizinische Universität liegen ebenfalls in dieser
Gegend. In der Straße des steinernen Prinzgemahls liegt die pädagogische Mädchenuniversität.
An allen drei Anstalten hielt ich Vorlesungen und habe überall die besten
Erfahrungen gemacht. Insbesondere fand ich auch die Studentinnen der Mädchenuniversität
intelligent und interessiert und vollkommen auf der Höhe wissenschaftlichen
Betriebs. Manche von ihnen sind - ebenso wie die Studenten -politisch etwas
radikal, aber das ist ein Vorrecht der Jugend in vorwärtsschreitenden Nationen.
Eigenartig ist übrigens, dass wohl die weiblichen Studenten das Recht haben, sämtliche
Männeruniversitäten zu besuchen, dagegen an der pädagogischen Mädchenuniversität
männliche Studenten nicht zugelassen sind. Infolgedessen ist zum mindesten in
diesem Stück die Gleichberechtigung der Geschlechter in Peking eher zugunsten
der Frauen verschoben. Die Frauenfrage wurde in China sehr leicht gelöst. Aus
den strengsten Abhängigkeitsverhältnissen der patriarchalischen Ehe und
Familie haben die jungen Mädchen den Weg zu Freiheit und geistiger Betätigung
gefunden, viel leichter, als dies in unseren modernen Staaten vielfach der Fall
war. Auch hier hat sich das Sprichwort bewährt: »Die Letzten werden die Ersten
sein.«
In der Weststadt sind in der Verborgenheit abgelegener Straßen
uralte Gärten hinter Mauern versteckt. Die Bäume dieser Gärten überdachen
mit ihren Zweigen die Höfe und Häuser, so dass mitten in der grellsten
Sommerhitze hier schattige Kühle herrscht. Über moosige Stufen kommt man in
stille Räume voll grüner Schattendämmerung. Nicht viele Menschen versammeln
sich hier. Ein paar Freunde nur führen ein ruhiges Gespräch. Man betrachtet
Bilder, spricht über ein paar Gedichte, bleibt vor einer Bronze stehen, gibt
ein schönes altes Stück von Hand zu Hand und trinkt eine Schale Tee dazu.
Solche Konversationen waren der Anfang zur japanischen Teezeremonie. Aber in
Japan ist alles streng stilisiert, zu fester Form erstarrt. In China leben
solche Unterhaltungen noch. Sie nehmen Gestalt an je nach den Menschen, die da
sind, je nach den Tagen, die vorangegangen, je nach dem Wetter, nach der
Stimmung. China hat es fertig gebracht, seine Sitten lebendig zu machen, sie
sind ihm Kleider, die es trägt. In Japan sind die Sitten strenger, unfreier,
die Höflichkeit hat nicht die Grenze der inneren Freiheit, und darum wirkt
japanische Höflichkeit oft marionettenhaft, und man hält die Japaner für
falsch. Man tut ihnen damit großes Unrecht. Ihre Strenge, ihre
Selbstbeherrschung befiehlt ihnen zu grinsen, wenn das Herz blutet; denn ihr
Zentrum liegt außer der Persönlichkeit: es ist der Staat, der
Himmelsherrscher. Der Chinese aber, wenn er ein Edler ist, hat seinen
Schwerpunkt in sich selbst. Die Sitte muss ihm dienen zum harmonischen Ausdruck
seines Wesens. Nicht aber muss er der Sitte dienen zur Darstellung der ehernen
Gesetze ihrer Form. Vielleicht ist diese feinste, höchste Freiheit, die Höflichkeit
des Herzens, der Grund, warum man die Chinesen so lieben muss, wenn man sie
kennt. Ein Chinese ist so liebenswürdig wie ein Franzose, aber er ist frei von
dessen letzten Schranken absoluter Verankerung im Eigenen. Darum kennt er keinen
Fanatismus. Der Chinese ist kindlicher als der Franzose, der vielleicht zu alt
ist.
Zur Weststadt hinaus geht der Weg aufs Land. Die eine Straße
führt zum Tempel der weißen Wolke. Das ist ein taoistisches Heiligtum. Hier fühlt
man, dass der Taoismus doch noch etwas Lebendiges ist. Hier ist nicht Laotse der
magische Gott, sondern Männer aus späteren Zeiten haben hier gelebt, die es
erreicht haben, durch mystische Schau das innere Leben zu erlangen. Ein
geheimnisvolles Bild wird hier aufbewahrt; das zeigt die Kraftzentren des
Menschen in symbolischer Darstellung, die mit verschiedenen Körperzentren
koordiniert sind. Es zeigt, wie diese Kraftzentren sich äußern, um den
Kreislauf der Wasser des Lebens in Gang zu setzen, die wie Ströme von
Lebensatem den Körper durchfluten und ihn der höheren Gesetze teilhaftig
machen. Das Kloster hat Meditationshallen und einen Garten in stiller
Abgeschiedenheit, auf dessen künstlichen Hügeln man sitzen und hinaussehen
kann auf die weite Ebene, in der dunkle Gräberhaine, Obstgärten und Pagoden
zerstreut sind, wie man hinaussieht aus dem stillen Hafen in das weite Meer, auf
dem die kleinen Segelboote schwimmen. Bei so viel geheimen Kräften, die im
Kloster leben, ist es da wunderbar, dass Tempelräume da sind, in denen Lü
Dongbin die Zukunft kündet, und andere, in denen Frauen sich schüchtern ein
Kinderbild aus Ton vom Altar nehmen, das ihren Wünschen heimliche Erfüllung
bringt?
Am Horizont dehnen sich in ferner Schönheit die Westberge.
Sie sind belebt von Tempeln und Schlössern. Ihre Vorhügel waren in früherer
Zeit ausgestaltet von den Sommerpalästen der Kaiser. Ein Kanal führt von dem
Kaiserpalast in der Hauptstadt bis hinaus zur Marmorquellenpagode auf dem Hügel
an der gründurchsichtigen Sprudelquelle, die alle die vielen Teiche am Fuße
der Hügel füllt. Es muss eine ungeheure Pracht gewesen sein an Gärten, Türmen,
Tempeln, Palästen. Auch ein Palast in französischem Barock gehörte dazu. Märchengärten
und Feenschlösser lagen hinter festen Mauern an den Hängen hingebreitet. Heute
sind nur noch Reste da. Engländer und Franzosen haben der Pracht ein Ende
gemacht bei ihrem »Strafzug« in den sechziger Jahren. Die Tempel zerfallen,
Ruinen decken die Hügel, in den Gärten sproßt wildes Buschwerk zwischen den
bunten Porzellantürmen und an den Marmorteichen mit ihren kühn geschwungenen
Brücken.
Da und dort ist ein Stückchen später wieder ausgebaut
worden. Dazu gehört z. B. der Sommerpalast der verstorbenen Kaiserin-Witwe, in
dem sie ihre Ferien verbracht hat und ihren Lebensabend schließen wollte.
Seltsamer europäischer Ungeschmack und Verfallserscheinungen mischen sich darin
mit echter, alter Schönheit. Einen anderen Palast hat die Qinghua-Universität
inne, wo eine ausgewählte Schar von Studenten für einen künftigen Aufenthalt
in Amerika vorbereitet wird. Auch andere fremde Schulen bauen sich auf den Trümmerstätten
versunkener Pracht an. Ein General hat in der Nähe einen Lustgarten angelegt.
Moderne chinesische Saalbauten und zierliche Gärtchen mit Strohhütten und künstlichen
Quellen wechseln mit Turnplätzen und Kegelbahnen ab. Ich vergesse nie die
Grazie, mit der die Frau des Generals in ihrem eleganten blauen Atlaskleid den
Bauchaufzug und den Kniehang an einem eisernen Reck machte (die chinesischen
Damen tragen geschlossene Beinkleider und kurze Jacken). Die fremden Gäste
standen voll Bewunderung dabei, und keine der europäischen Damen vermochte
dieses Kunststück der jugendlichen Generalin nachzumachen.
Auch andere, verborgene Haine mit stillen Gelehrtenhütten,
zum Studium und zur Meditation geeignet, sind in der baumbedeckten Ebene da und
dort zu finden. Aber überall ragt eine größere Vergangenheit in eine kleinere
Gegenwart herüber.
Die neue Zeit bringt auch manches hervor in Peking und
seiner Umgebung, das hinausweist über die Gegenwart. Freilich liegt es zunächst
meist auf geistigem Gebiet und hat sich noch nicht in äußerer Raumgestaltung
ausgewirkt.
Peking ist eine Stadt geheimnisvoller Freiheit. Die
Menschen kommen und gehen, und jeder findet einen Kreis von Freunden, die ihm
bieten, was er wünscht. Jeder Mensch, der hier lebt, findet eine Gestaltung für
das, was er als Arbeit sich vorgenommen. Die Luft, die über Peking weht, ist
gut und frei.
Es kann einer Sonderling sein oder Gesellschaftsmensch, er mag beim dampfenden Wein des Lebens Sorgen von sich werfen oder in ernster Kasteiung die Unsterblichkeit erstreben. Jeder kann tun, was er will. Kein Druck der Sitte ist stark genug, die Persönlichkeit zu beengen. Diese göttliche Freiheit ist das Tiefste an Peking und erfüllt das Herz mit Dankbarkeit.