Meyers
Konversations-Lexikon, 1875
Das Militärwesen Chinas ist noch sehr mangelhaft beschaffen, so viel auch daran seit 1854 gebessert wird.
Der Krieg galt den Chinesen von jeher als ein Unglück und eine Schmach für die Menschheit; erobernd treten sie in der Geschichte nie auf.
Der Soldatenstand genoss nur geringes Ansehen; erst der Zusammenstoß mit den Westmächten zeigte ihnen die Notwendigkeit einer besseren Organisation und Bewaffnung.
An Mut fehlte es ihnen nicht; sie hielten Stand gegen die Angriffe der Europäer, denen sie mit Bogen und Pfeil, Speer, Lunten- oder Musketenflinten Widerstand leisteten.
Konskriptionen finden nicht statt, die Armee ergänzt sich durch Freiwillige, vorwiegend Tataren (Mandschu), und durch die Kinder der alten Soldaten; der Garnisonssoldat in den äußeren Provinzen vererbt seine Stelle auf seine Kinder.
Die Truppen in diesen Provinzen sind noch immer armselige Erscheinungen, die kaum das tägliche Brot haben; unter den Offizieren gibt es drei Grade, die wie beim Zivil nur durch Examina erworben werden können.
In der Feldarmee der Ostprovinzen sind in Organisation und Bewaffnung große Veränderungen vor sich gegangen, die sich zwar der genauen Kenntnis der Europäer noch entziehen, aber sich jedenfalls als bedeutend darstellen werden.
Die alte Einteilung in acht Banner der Mandschu, in die Truppen des grünen Banners und in die Munizipalgarde ist im "Ausland" 1860 S. 1217, nach europäischen Berichten und chinesischen Quellen ausführlich beschrieben; sie hat auch wohl noch Geltung, steht aber vielfach nur auf dem Papier, wie die Taiping-Rebellion bewies.
Bei einem Kampf mit den Europäern
können nur die um Peking, Kanton und an anderen Orten in den Ostprovinzen
zusammengezogenen Truppen neuer Formation in Betracht kommen. Diese Regimenter,
die neuerdings mit Remingtongewehren und gezogenen Kanonen bewaffnet sind und
von Franzosen, auch einigen Engländern und Deutschen gedrillt werden, sind die
einzige stehende Armee im europäischen Sinn.
Eine andere wichtige Neuerung hat sich in den Armaturen des Forts vollzogen: längs des Peiho, bei Kanton, Schanghai usw. sind neue große Befestigungsbauten nach europäischem System aufgeführt und mit Krupp'schen Kanonen armiert. Das Riesenbollwerk der chinesischen Mauer hat jetzt seine Bedeutung verloren.
Die kaiserlichen Arsenale und Werkstätten in Tientsin, Nanking, Schanghai, Futschau sind gefüllt und entwickeln eine fieberhafte Tätigkeit; 1872 lief in Schanghai eine kaiserliche Kriegsfregatte von 2700 Tonnen, mit Dampfmaschine von 1800 Pferdekräften, 26 Vierundzwanzigpfündern, 2 Neunzigpfündern ausgerüstet, bei deren Bau nur 4 Europäer mitgewirkt hatten, vom Stapel; ein anderer Schiffsbauplatz ist Futschau.
V. Scherzer gibt die Heeresstärke zu 278 Kompanien (zu 100 Manm) Mandschu, 211 Kompanien Mongolen und 106,000 Mann Chinesen (sämmtlich Kavallerie), dann zu 500,000 Mann eingeborne Infanterie und 125,000 Mann irreguläre Miliztruppen, zusammen zu 820,000 Mann an.
Über die Stärke der Regimenter neuer Ordnung fehlen noch alle Angaben; die
obige Armee alter Ordnung ist zwar sehr eingebildet und benimmt sich brutal,
zeigte aber in den Kämpfen mit den Aufständischen (Taiping, Muselmanen und den
Räubern im Westen) erst dann guten Willen, als der Erfolg auf ihre Seilte trat.
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