Meyers Konversations-Lexikon, 1875
Die alte Religion des Einzelnen war fast ausschließlich Ahnenkultus, der noch heute charakteristisch für chinesische Verhältnisse ist. Menschen und Naturgeister werden nicht gänzlich getrennt gedacht; die ganze Natur ist von Geistern (Schin) belebt.
Der Himmel (Tian) ist das Höhere, die Erde (Ti) das Niedrigere. An der Spitze aller Geister steht der Himmel oder, wie man auch sagt, der Shangdi, der »obere Kaiser« oder Gott; in der philosophischen Sprache werden diese beiden Gegensätze durch Yang und Yin, etwa das lichte und dunkle Prinzip, ausgedrückt. Durch die Zusammenwirkung von Himmel und Erde entstehen alle Wesen und das vorzüglichste derselben, der Mensch.
Beim Tode erfolgt die Auflösung des Menschen in einen himmlischen und irdischen Teil; die Vorstellungen über diesen Unterschied sind zahlreich, doch herrscht in allen Äußerungen darüber wenig Klarheit. Auch über die Vorstellungen, welche sich die alten Chinesen von dem Zustand der Toten machten, finden sich nur wenige, unbestimmte Angaben. Die verstorbenen Herrscher werden als dem obern Kaiser (Gott) im Himmel zur Seite stehend gedacht; an anderen Stellen wird der Aufenthaltsort der Toten unter die Erde verlegt, und dies ist jedenfalls später die herrschende Meinung geworden. Der Kaiser und die Ahnen aller werden noch als wirksam in Bezug auf das Schicksal ihrer Nachkommen auf Erden gedacht. Von Belohnung oder Bestrafung ist nirgends die Rede, die Gestorbenen bleiben in demselben Verhältnis zu ihren Fürsten und wie auf Erden; noch 621 v. Chr. wurden Menschen mit dem Fürsten begraben, um ihn in der andern Welt zu bedienen; auch gab man zu demselben Zweck hölzerne Menschengestalten ins Grab mit. Im einzelnen durchgebildet ist die Lehre von der Fortdauer nach dem Tode nicht, die Annahme einer Seelenwanderung findet sich nirgends.
Man war peinlich genau in der Ausübung heiliger Gebräuche, durch die man sich des Rats und der Gunst der Götter und Geister zu versichern glaubte, ohne dass man sich jedoch um das Wesen oder die Natur derselben mehr bekümmerte, als die praktischen Lebensbedürfnisse es mit sich brachten.
Ein Priesterstand fehlte; der Kaiser, die Vasallenfürsten, zuletzt der
Hausvater versahen die religiösen Zeremonien. Vgl. Plath, Religion und Kultus
der alten Chinesen (München 1862-63); »Zeitschrift der Morgienländischen
Gesell-schaft«, Bd. 21. ![]()