Meyers Konversations-Lexikon, 1875
Was die Religion und ihre Stellung zum Staat betrifft, so ist China
vielleicht das einzige Land, welches den Wünschen eines modernen Staatsbürgers
zu entsprechen im Stande wäre. China kennt nämlich kein Glaubensbekenntnis,
keine feierliche Verpflichtung, sich zu irgend einer bestimmten Religion zu
bekennen. Jeder ohne Unterschied, welcher als Staatsbürger des Reichs der Mitte
angesehen werden will, hat nur jene Pflichten zu erfüllen, welche jedem
Untertan auferlegt sind; im übrigen steht es ihm frei, zu glauben und zu
verehren, was er will. Nur darf die Religionsgenossenschaft, welcher er
angehört, nicht derart sein, dass sie eine förmliche Abschließung ihrer
Mitglieder von den anderen fordert, mithin einen Staat im Staat bildet und
überhaupt gegen den Staat gerichtete Tendenzen verfolgt. seines Christentum ist
der chinesischen Regierung besonders deswegen anstößig gewesen, weil es die
Mitglieder mittels eines feierlichen Ritus, eines Sakraments, aufnimmt, als
sollte man einer Art geheimer Gesellschaft angehören (vgl. Friedrich Müller,
Reise der österreichischen Fregatte Novara, ethnographischer Teil Wien 1868).
Im einzelnen sind zu trennen: die alte Religion, die Lehren des Konfutse, die
Lehren des Laotse, der Buddhismus und die durch gegenseitige Einwirkung dieser
Religionssysteme auf einander entstandene gegenwärtige Volksreligion. ![]()