Meyers
Konversations-Lexikon, 1875
Ein Grundzug für das häusliche und gesellige Leben in China liegt in der Gestaltung des Familienlebens. Der Hausvater ist im vollsten Sinn des Worts Hausherr, mit unumschränkter Gewalt über alle Glieder seiner Familie bekleidet; er ist aber auch mit verantwortlich für ihre Verfehlungen und wird gestraft, wenn ein Familienglied sich eines Verbrechens schuldig macht. Natürlich liegt auch die Verheiratung der Kinder ganz in den Händen des Vaters.
Die Mutter teilt alle Ehrerbietung, welche dem Vater zu teil wird, und muss, wenn sie Witwe wird, vom Sohn Zeitlebens erhalten werden.
Man wünscht sich Söhne; die Unsitte der Tötung, Ertränkung und Aussetzung neugeborner Mädchen, welche nach früheren Berichten unter den unteren und mittleren Ständen fast Regel sein sollte, findet sich jedenfalls nicht so häufig, als bisher angenommen wurde. Die Mädchen erhalten jedoch eine schlechte Erziehung, wenige können lesen und schreiben; bei den Ärmeren hilft die Frau tüchtig in der Wirtschaft mit.
Die Verheiratung
findet schon in frühen Lebensjahren des Mannes statt, weil er, um seine Frau zu
erhalten, keinen selbständigen hinlänglichen Erwerb zu haben braucht, indem
die Frau mit ihm in das Hauswesen seiner Eltern eintritt. Die Verlobungen
erfolgen sehr häufig schon im zarten Kindesalter; ja, man hat Beispiele kennen
gelernt, dass wenige Tage alte Mädchen mit noch Ungebornen feierlich verlobt
wurden.
Die Verlobungen werden ganz allein durch Unterhändler zwischen den beiderseitigen Eltern abgemacht; öffentliche Heiratsgesuche sind übrigens nichts seltenes. Nach der Hochzeit kehrt die junge Frau auf einige Tage ins elterliche Hans zurück. Der Gehorsam, welchen die Frau ihrem Mann und zugleich dem Vater und der Mutter desselben schuldig ist, kennt keine Ausnahmen. Scheidung ist zugelassen; die Sitte erlaubt selbst, dass der Mann seine Frau mit ihrer Zustimmung einem andern Mann als Weib verkauft.
Die reicheren Klassen leben oft in Vielweiberei, namentlich wenn die erste Frau kinderlos geblieben ist. Indess steht die zweite nur im Verhältnis einer Magd, bis sie nach der Geburt eines Sohns der ersten Frau mehr zur Seite tritt.
Wiederverheiratung ist nur den Männern gestattet; Frauen geben sich zuweilen beim Tode des Mannes unter großen Zeremonien durch Gift und dergleichen den Tod.
Der Eintritt in das Jünglingsalter wird bei Knaben (vom 12. -15. Jahr) Durch die Mützenverleihung gefeiert; bei Mädchen gilt als entsprechendes Zeichen die Schmückung mit der Nadel, dem Kopfputz der Frauen.
Sehr zahlreich sind die Zeremonien bei der Leichenbestattung wohlhabender Personen; Arme werden ohne Pomp bestattet und meist am dritten Tag. Bei Reichen steht die Leiche oft 40 Tage über der Erde; Männer werden in kostbare Seidenstoffe gekleidet, Frauen in Weiß und Silber und in einen hölzernen Sarg gelegt, der in feierlichem Zug zum Begräbnisplatz geleitet und in die Erde versenkt wird, nachdem die bösen Geister abgetrieben sind.
Die Gräber werden öfters im Jahr geziert, wobei Opfer dargebracht werden. Die Trauerzeit für Vater und Mutter soll eigentlich drei Jahre dauern, wird aber gewöhnlich abgekürzt; doch müssen drei Jahre wenigstens verlaufen fein, ehe ein Kind des Trauerhauses heiraten kann.
Die Trauerfarbe ist weiß und aschgrau; statt der vergoldeten Knöpfe werden gläserne getragen; Kleider von blauer Farbe sind ein Zeichen ganz besonders tiefer Trauer (vgl. »Zeitschrift der Deutschen morgenländischen Gesellschaft«, Bd. 9, S. 808 ff.; Doolittle, The social life of the Chinese, Sond. 1866, 2 Bde.).
Der Nachlass des verstorbenen Hausvaters gehört den Söhnen gemeinsam, die
Ahnentafel bleibt aber im Gewahrsam des älteren, der oft auch doppelten Anteil
hat. ![]()
