Meyers Konversations-Lexikon, 1875
Die geistige Befähigung der Chinesen ist nicht gering sie haben ganz
selbständig auf eigenem Boden, ohne anregende Berührungen mit fremden
Völkern, eine Reihe überraschender Erfindungen gemacht eine umfassende,
besonders enzyklopädische Literatur hervorgerufen, Sowie in staatlichen
Einrichtungen Größeres geschaffen als alle anderen asiatischen Nationen. Diese
Kultur darf uns aber doch keine besonders hohe Meinung von ihren Anlagen geben.
Sie sind nicht umsichtig, orientieren sich schwer und erhalten ihre Ideen immer
auf bestimmte Zwecke ausschließlich konzentriert; sie vergessen bei Verfolgung
einer Aufgabe, deren Lösung im allgemeinen oder in einem gewissen Sinn sie sich
vorgenommen haben, alles andere, führen dafür aber das Begonnene oft bis in
die kleinsten Details mit staunenswerter Genauigkeit und unermüdlicher Geduld
aus. Der gewöhnliche Landmann, die Masse der Bevölkerung, soll dem
europäischen Bauer Mitteleuropas weder an Intelligenz noch an praktischer
Bildung nachstehen; ihre Gelehrten, die auf ihre Kenntnisse so stolz sind und
die Werke ihrer chinesischen Autoren so hoch stellen, sind aber halb
barbarische, eingebildete und unwissende Menschen, die auf gleichem Fuß mit
Europäern zu behandeln Torheit wäre (v. Guntpach). Alles in China bewegt sich
in bestimmten Geleisen. Jeder wird höchst erbost, wenn er in seinen
Gewohnheiten gestört wird; es fällt auch dem Gebildetsten schwer, Gelesenes
ohne vorgefasste Meinung zu beurteilen. Nationalstolz macht den Grundzug im
Charakter der Chinesen aus. Sie sind fleißig, nüchtern und mäßig in Speise
wie Trank; ihr Sinn ist auf das Praktische gerichtet, als Kaufleute machen sie
überall den Europäern erfolgreiche Konkurrenz, Ihre Neugierde ist sehr groß.
Energie zeichnet sie im Norden aus; feine und gefällige Umgangsformen findet
man durchgehend in den östlichen Provinzen und im mittlern China;
Zudringlichkeit und Unfreundlichkeit tritt bei den Bewohnern des Südens hervor;
geistig tief stehen und roh in Manieren sind die Bewohner des Westens. Diese
Verschiedenheit spricht sich auch im Benehmen gegen die Europäer aus, die bald
artiger, bald grober Behandlung ausgesetzt sind. Die Gebildeten sind den
Europäern meist übelwollend; erhalten exaltierte Köpfe in dem Volkshaufen,
von dem jeder Reisende stets umringt wird, die Oberhand, so wird es ihm schwer
gelingen, gebietend aufzutreten. Im Verkehr mit Europäern ist Treubruch und
Verschmitztheit Grundzug ihres Benehmens. ![]()