Wu Changshuo (1844-1927) (1)

Angangszeilen der Aufzeichnung über die Xilinger Siegelgesellschaft  

Der "Siegelschneideheilige" und Mitbegründer der Xilinger Siegelgesellschaft

Wu Changshuo bleibt in keiner Geschichte der Siegelschneidekunst unerwähnt, deren höchste Entwicklungsstufe, erst in den Jahren der ausgehenden Qing-Zeit erreicht, vor allem auch in seinem Werk verkörpert ist. Doch nicht nur als einer der größten Siegelschneidemeister überhaupt, sondern auch als lebendiges Modell des idealen wenren-Künstlers, der in einer Person Maler, Kalligraphen, Siegelschneider und Dichter zu vereinen wusste und es auf jedem dieser Gebiete zu beachtlicher Leistung brachte, ist er von seiner Nachwelt unübertroffen geblieben. Er wird heute in einem Atemzug mit Qi Baishi (1863-1957), dem berühmtesten Meister des Nordens, genannt und ist sicher einer jener Künstler, die den größten Einfluss auf die chinesische und japanische Malerei und Schriftkunst, ganz zu schweigen von der Siegelschneidekunst des zwanzigsten Jahrhunderts, ausgeübt haben.

In der Tradition der Xilinger Siegelgesellschaft, dem berühmtesten Zentrum der Siegelschneidekunst im modernen China, wird ihm nach wie vor die eindeutig vorrangigste Stellung zuerkannt. Altmeister wie Wang Geyi (1897-1988) und Sha Menghai (1900-1992), mittlere Jahrgänge, etwa San Xiaotian (geb.1921), Pan Dexi (geb.1925) oder Liu Jiang (geb.1926), sowie die verhältnismäßig jüngste Mitgliedergeneration, vertreten durch Tong Yanfang (geb.1943), Zhu Suizhi (geb.1952) usw., führen sich direkt oder indirekt auf ihn zurück. Es gibt keine Xiling-Publikation, in welcher er nicht zu seinem Recht käme , kein Symposium, in dessen Verlauf man sich seiner nicht erinnert hätte. 

Außerdem hat die Gesellschaft mehrfach Jubiläen seines Geburts- oder Todesjahres, bzw. ihres eigenen Gründungsjahres zum Anlass genommen, auf die umfangreiche Sammlung seiner Werke, welche sich auch heute noch in ihrem Besitz befindet, zurückzugreifen, um Ausstellungen zu organisieren.

Der Name dieses Mannes, der vor fast achtzig Jahren gestorben ist, lebt weiter und ist inzwischen beinahe zu einem Zauberwort geworden, mit welchem die Geschichte, der Ruhm und das Schicksal der Siegelgesellschaft eng verwoben scheint. In gewissem Sinne kann man sagen, dass Wu Changshuo heute, lange nach seinem Tod, die Macht innerhalb der Siegelgesellschaft fest in Händen hält. Sein Wert darf nicht in Frage gestellt werden. Wer sich nicht zumindest teilweise auf ihn stützt, findet schwerlich Einlass und kaum Anklang. Nicht grundlos muss die Unparteilichkeit der Siegelgesellschaft, ihre Offenheit gegenüber allen Stilrichtungen und Schulen immer wieder betont werden.

Typisch für diese Situation ist, dass in den meisten Artikeln und Vorträgen auf Wu Changshuo's moralische Integrität hingewiesen worden ist . Man greift eifrig auf das alte Argument zurück, dass nur ein guter Mensch hochwertige Kunst zu schaffen imstande sei, dessen Schlagkraft wohl mehr auf politisch-moralischen als auf rein kunsthistorischen Betrachtungsweisen fußt . Wie "gut" Wu Changshuo als Mensch wirklich gewesen ist, entzieht sich jedoch weitgehend unserem Beurteilungsvermögen und kann auch nicht Gegenstand unserer Forschung sein.

Dass Wu Changshuo in eine unruhige Zeit hinein geboren ist, dass sein Leben ihn durch zahllose Kämpfe und Umstürze vom feudalen zum modernen China führte, hat ihn sicherlich mit dem bewegten, ständig wechselnden Hintergrund versehen, der insofern, als vor ihm nur das Wenigste bestehen blieb, tiefes, inneres Erleben fördern musste. Er hatte Not schon in der Jugend kennen gelernt, als er mehrere Jahre lang mittel- und heimatlos auf der Flucht vor den Taiping-Rebellen umherirrte und sich als Arbeiter verdingen musste, und konnte daher bis an sein Lebensende einerseits materiell bescheiden sein, andererseits mit den Hilflosen fühlen. Dass ihm unter diesen Umständen Bildung nicht so selbstverständlich zufiel, wie das in friedlichen Zeiten bei den Söhnen des chinesischen Beamtenstandes üblich gewesen wäre, veranlasste ihn dazu, hartnäckig darum zu kämpfen und sich die Beharrlichkeit anzueignen, ohne welche niemand es in der chinesischen Kunst zu wirklich großer Leistung gebracht hat

Tiefes Erleben, Ehrlichkeit und unablässige Auseinandersetzung mit der Kunst haben ein Werk gezeitigt, das in seinen Neuerungen bahnbrechend, darum aber keineswegs weniger in der Tradition der chinesischen Kunst und des chinesischen Denkens verwurzelt ist.

Kurzbiographie auf Englisch

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