Wu Changshuo (1844-1927) (2)

Wu Changshuo 

Anfänge eine Siegelschneiders

Wu Changshuo, am 11.8.1844 (chinesischer Mondkalender) im Dorf Zhangwu des Kreises Anji als einziger Sohn in eine verarmte Beamtenfamilie geboren, war ein verwöhntes und eigenwilliges Kind. Anstatt in die Schule zu gehen spielte er gerne am Bachufer, woraufhin man ihn einerseits zur Bestrafung, andererseits, weil man Angst hatte, er könne ins Wasser fallen und ertrinken, im Hause einsperrte. In seiner Wut zerschlug er Gegenstände, welche im Zimmer umherstanden, sodass seinen Eltern nichts anderes übrig blieb, als ihn schließlich in einen kleinen, dunklen Verschlag, der zur Aufbewahrung von Brennholz diente, einzuschließen, wo er langsam zur Ruhe kam. Er fand dort einen alten Nagel und begann damit, erst aus Langeweile, später aus Interesse, Zeichnungen und Schriftzeichen in die Wand zu ritzen. Er ging dann auch öfter von selbst dorthin, um seinen künstlerischen Neigungen freien Lauf zu lassen, und man sagt heute, dass erschon zu dieser Zeit angefangen habe, sein Handgelenk und seine Finger zu stärken, deren Kraft deutlich aus seiner Schrift- und Siegelschneidekunst spricht, mehr noch, diese Begebenheit soll die urtümlich-einfache Ästhetik, die er, mit einem schweren, stumpfen Messer arbeitend, später angestrebt hat, mit bewirkt haben

Wu Changshuo begann schon als Schüler, Siegel zu schneiden und sich in der Schriftkunst zu üben, beides eifrig und ausdauernd. Da es im Dorf nur selten den geeigneten Speckstein zu kaufen gab und dieser überdies verhältnismäßig teuer war, schliff er ein und dasselbe Stück immer wieder ab, um es erneut verwenden zu können, und schnitt so fort, bis er das Messer vor Erschöpfung nicht mehr zu halten vermochte. Ging ihm das Papier aus, so wusste er sich mit einem Ziegelstein zu behelfen, auf welchen er mit Wasser zu schreiben pflegte. Auch damit soll er täglich ein bis zwei Stunden zugebracht haben.

Solche und ähnliche Überlieferungen stehen am Anfang der meisten Besprechungen von Wu Changshuo's Siegelschneidekunst. Man darf ihnen jedoch nicht unbedingt glauben, denn die Einstellung, aufgrund derer sie ausgewählt, betont, auf ihren heutigen Wortlaut hin abgeändert oder gar erfunden wurden, entspricht vollkommen jener, welche, generell, der chinesischen Geschichtsschreibung zugrunde liegt. Es wird also weniger auf die Wahrheit der Episoden geachtet, als darauf, ob sie in ein bestimmtes, politisch-moralisch ausgerichtetes Denkschema passen. Dabei ist die Grundbewertung, welche einem Verstorbenen durch seine Nachwelt zuteil wurde, maßgeblich. Indem die Biographie eines Meistersiegelschneiders den gängigen Vorstellungen angepasst wird, entsteht sie vor dem lesenden Auge automatisch als Modellbiographie, die schematisierten Umrisse eines Lebens, von dem man lernen soll. In dieser Weise gelingt es, Vergangenheit, d.h. das Leben eines Verstorbenen, Gegenwart, d.h. den Lesenden, und Zukunft, d.h. die Absichten des Lesenden, gleichermaßen jenen Gesetzen zu unterwerfen, die, indem man sie in immer weiter zurückliegenden Zeiten nachzuweisen versucht, unabänderlich, ewig, heilig erscheinen sollen. Das ist zugleich ein Mittel, mit dessen Hilfe Ordnung im Sinne der Machthabenden garantiert werden soll, eine Ordnung, der, wie man weiß, freilich auch sie selbst unterworfen sind: an der Spitze.

Zu den Anekdoten muss daher gesagt werden, dass nicht nur von Wu Changshuo, sondern auch von fast allen anderen namhaften Siegelschneidemeistern behauptet wird, dass sie sich von frühester Jugend an mit bewundernswertem Fleiß, großer Ausdauer und unter Verachtung jeglicher Schwierigkeiten in Schrift- und Siegelschneidekunst geübt hätten. Es wird nahegelegt, dass sie sonst nicht hätten werden können, was sie wurden, nämlich berühmte Meister. Uns, die wir chinesische Texte zur Quelle nehmen, ist inzwischen freilich eine umgekehrte Betrachtungsweise viel gegenwärtiger: Vielleicht hätten jene Künstler niemals so vorbildlich geübt, wenn sie später nicht zu berühmten Meistern geworden wären .

Über die fördernden Einflüsse in der Jugend Wu Changshuo's berichtet Wu Yaohua, dass sie vom Vater, welcher selbst ein lebendiges Interesse für die chinesische Archäologie und Siegelschneidekunst hegte, und von der Stiefmutter, Frau Yang die ihm ihre Sammlung von Metall-, Stein- und Toninschriften aus der Qin- und Han-Zeit zugänglich machte, ausgegangen seien.