Alfons Paquet, 1917
Dieser Gegenhieb stammt von keinem geringen Fechter. Die größte Kraft der chinesischen Natur ist hier ausgesprochen, jenes Etwas, das diese Rasse so radikal von den eingeborenen Wilden Amerikas oder Australiens unterscheidet, denen die auch von den Chinesen gefürchtete materialistische »Zivilisation« ein Geruch des Todes zum Tode war. Auch der allerletzte unter diesen gelbbraunen Menschen trägt bei sich das Bewusstsein und die Instinkte der alten Kultur seines Volkes wie ein Amulett. Kultur ist da, wo komplizierte geistige Dinge sich eingenistet haben. Hinter diesem Volke steht ein Reich, eine überall gegen wärtige Fülle eigenartiger Gebräuche, weiser Einrichtungen. In ihnen fühlt sich der Geringste noch am Boden einer unverrückbaren, wuchtigen Pyramide, deren Spit ze mit dem Himmel spricht. Und dieses Reich mit seinen Einrichtungen ist so vielgestaltig, so bunt, so vom Bewusstsein der Langlebigkeit durchtränkt, dass, wohin ein Vorurteil sich immer gegen seinen Bestand wenden mag, es überall Nahrung finden kann. Wer Faulheit und Fäulnis in diesem Volke sucht und seiner Beam tenschaft einen absoluten Mangel an Pflichtgefühl zum Vorwurf macht, wird Beweise dafür finden. Und wer das Gegenteil behauptet und Züge stoischer Aufopferung und Pflichttreue sammeln will, wird eben falls auf seine Rechnung kommen. Aller Aberglaube, aller Schmutz und alle Grausamkeit, die den Menschen Chinas zugeschrieben werden, begegnet uns auf alltäglichen Wegen in diesem Lande. Doch da neben stoßen wir in der Organisation der Wirtschaft und Verwaltung, im geselligen Umgang, in Gartenbau und Künsten, in Gewerbe und Literatur auf einen Scharfsinn und ein Formgefühl, entdecken wir eine Liebe zur Linie, zur Bewegung und zur Farbe, die ihre Unmittelbarkeit durch die Generationen frisch erhalten und an den Notwendigkeiten jeder Generation erneuert hat.
Uns Europäern, die wir für feinere Unterschei dungsmerkmale unter einer so fremden Rasse wie der chinesischen meist noch kein gutes Auge haben, wird es gewagt genug erscheinen, wenn Gu Hongming einen Schlag seiner Landsleute mit den schottischen Hochländern, einen andern mit den preußischen Jun kern vergleicht und Männer zeichnet, denen man ver sucht wäre, die raue Rechte zu schütteln.
Jene wilden Teufel, die die Pekinger Gesandtschaften beschossen und dem unerbittlichen Kleinfeldzug der vereinigten fremden Truppen erlagen, sind in seinem Auge zwar irregeleitete und verratene, doch brave Boxerburschen. Er hat recht. Die durch die Eisenbahnen verödeten Kanäle in Pekings Umgegend mit ihren vermorschten Booten sind melancholische Zeugen für den wirtschaftlichen Untergang einer harmlosen und arbeitsamen Bootsführerbevölkerung, die sich in ihrer Verzweiflung der letzten großen Erhebung gegen die fremden Teufel anschloss und dann in alle Winde zerstob. Und die zunehmende Verhässlichung der Öffentlichkeit durch die vom Fremdhandel und von oberflächlichen neuen Schulen nach China getragenen Lehren er klärt die Richtung der gelehrten chinesischen Reaktionäre, von denen im Nachfolgenden manches zu lesen ist. Gu Hongming verachtet Straßenbahnen. Gibt es nicht auch Europäer unserer Zeit, die Eisenbahnen, Telegraphen, Zeitungen für überflüssige und unsinnige Dinge halten! Die esoterische Stimmung des »Jahr buches für die geistige Bewegung« fällt einem ein, das kürzlich ein paar nachdenkliche Worte von Jacob Burckhardt und von Baudelaire zitierte.
Bei den Europäern in China ist oft das Ende der Stimmungen eine tiefe Sympathie für dieses Land. Man hat beob achtet, dass fremde Diplomaten, die lange dort draußen sind, anfangen für China zu arbeiten; ebenso die Missionare.
Gu Hongming führt uns hinter die Maske des »großen alten« Li Hongzhang und zeigt, dass zu seiner Zeit und vielleicht zu allen Zeiten bessere, ehrenhaftere, tiefere Vertreter Chinas existierten, als gerade dieser, der einst Bismarck besuchte, um sich einen höchst unchinesischen Rat zu holen. Und er zeigt uns endlich, dass nur das Seidengewebe der höchsten, den Rassen gemeinsamen Gedanken gut und zähe genug ist, den Abgrund zu überbrücken, der zwischen Mensch und Mensch ebenso besteht wie zwischen Rasse und Rasse. Unser chinesischer Philosoph hat auch darin recht: diese Gedanken sind weder konfu zianisch, noch christlich, oder sie sind beides. In dem Gedanken der irdischen Vollkommenheit und Ordnung, in der Gesinnung des guten Willens, die in den Wenigen einen um so sehnlicheren Inhalt hat, je mehr die Vielen von Eigennutz und Hader beherrscht er scheinen, ist sicherlich jene Kraft am Werke, der über haupt alle Siege zuzuschreiben sind, die die Mensch heit je über sich selbst davongetragen.
Gu Hongming schildert die Tragik einer philosophisch-po litischen Bewegung in China, die ihren Tiefstand er reichte, als die Männer, die ihr angehörten, das Neue am wenigsten begriffen, doch die vielleicht mit den Jüngeren, die sie in anderer Form wieder aufnehmen, in dem Maße wieder zu Leben kommen wird, als diese jüngeren Männer einer Freude an dem Neuen fähig sind. Wir meinen damit weder die Freude an dem, was etwa die Europäer nach China gebracht und dem chinesischen Volk in den letzten fünf Jahrzehnten zugemutet haben, noch auch die besondere Freude daran, den unwillkommenen fremdartigen Einwir kungen und Zuständen mit raffinierten Methoden des Widerstandes zu begegnen. Sondern die den Trägern der alten chinesischen Kultur vielleicht zu jugendlich erscheinende Fähigkeit, selbst die Unruhen und Rauheiten einer von blindem Drang ergriffenen Welt etwa wie das dramatische Schauspiel eines Tagesanbruchs zu genießen und sich mitarbeitend auf die Seite derer zu stellen, die trotz veränderter äußerer Bedingungen den Großen der Vergangenheit an Größe nacheifern.
»Die Geschichte einer chinesischen Oxford-Bewegung« zeigt tüchtige und in einem höheren Sinne sympathische Männer, und dennoch nicht einen, der der Aufgabe gewachsen war, wie in seinem eigenen Volke, so auch in den übers Meer gekommenen Fremden, durch die Redensarten hindurch, die sie mit sich brachten, das im Grunde Biedere und Einfache ihrer Absichten und in dieser ganzen Bewegung gen Osten — die ja in Wirklichkeit nur der Teil einer grandiosen Völkerwanderung aus Europa nach allen anderen Erd teilen war — eine Macht zu erblicken, die stärker ist als die einzelnen Menschen, die zufällig ihre Träger sind.
Der ehrwürdige Großkanzler Zhang Zhidong, der alte Chef, dem Gu Hongming das Buch gewidmet hat, war in der Gruppe der Hanlin- Freunde der einzige, der in seinem Alter noch eine heroische Anstrengung machte, dieses Neue zu begreifen und es mit dem klassischen Chinesentum in einer zum mindesten pa triotischen Art zu verschmelzen. Doch über einen literarischen Versuch ging es nicht bei ihm hinaus. Er fürchtete und hasste das Neue innerlich und hielt sich persönlich an die alte Staatskunst. Bei einer wich tigen Staatsangelegenheit, mitten in dringenden Ver handlungen mit einer fremden Macht brachte er es fertig, sich drei Tage einzuschließen und ein Gedicht zu machen. —
Es ist kein Zufall, ja es mag fast wie eine Notwendig keit erscheinen, dass Gu Hongming in seinen Schriften an eine Persönlichkeit des Oxford um die Mitte des vorigen Jahrhunderts anknüpft. Matthew Arnold ist ihm nicht nur im Stil seiner sozial kritischen Schriften, sondern auch in der wichtigen Rolle, die er in der von John Pusey und dem späteren Kardinal Newman geführten Bewegung des Anglo- Katholizismus eingenommen hat, — in der Problemstellung, wie im Ton, — ein treu befolgtes Muster geworden. Die von Oxford ausgegangene Bewegung »für Schönheit und Ordnung« endete, zu einer hochkirchlich-konservativen abgestempelt, mit einem vollen Misserfolg gegenüber den prosaischen Machtfaktoren des englischen Liberalismus.
Matthew Arnold, der Dichter und Professor, veranstaltete in seinem 1869
erschienenen Buche: »Culture and Anarchy« seine Abrechnung mit diesem
Liberalismus. Noch heute ist es der Mühe wert, dieses Buch zu lesen, das sich
in den Buchläden von Oxford in immer neuen Auflagen ein stellt. In seinen
späteren kritischen Versuchen über englische Dichtung zeigt sich Arnold immer
wieder als ein Verteidiger der altenglischen Moral. Er findet Worte des
profunden Lobes für die klaren, strengen Formen, für das stille und reine
Leben Miltons. Er vertritt uns Heutigen mit seiner gelehrten und mora lischen
Beredsamkeit, die mehr immanent als nach außen glänzend ist, j enes ältere
viktorianische England, in dem Shakespeare nicht populär ist, wo Byron mit
seinem genialen Satanismus und der seraphische Liber tin Shelley als Werkzeuge
des Bösen verworfen sind. Die umständliche Bestimmtheit und Reinheit seines
Stils könnte man an sich schon als chinesisch bezeichnen. Sie hat durchaus
etwas dem monumentalen und lakonischen Ideogrammstil der chinesischen Sprache
Wesensverwandtes. Und so ist es kein Wunder, dass die konservative, aus einem
doppelten, zugleich ethischen und ästhetischen Zentrum leuchtende An
schauungsweise Matthew Arnolds und sein Stil, der bei alledem oft eine große
Kraft erreicht, auf den englisch schreibenden, wahlverwandten Chinesen von
bestimmendem Einfluss sein musste. Mit der Methode dieses sorgfältigen Denkers
gelingt es ihm, vor unserem Auge das anscheinend unentwirrbare chinesische Volk
in eine Reihe von Individualitäten und Gruppen aufzulösen.