Chinas Verteidigung gegen westliche Ideen, Vorwort IV

 Alfons Paquet, 1917

Ich erinnere mich deutlich des schwülen grauen Junitages im vorigem Jahre, wo ich Gu Hongming im Bureau der Huangpu-Behörde in einem der großen roten Steingebäude an einer düsteren Nebenstraße des Schanghaier Bunds besuchte. Es war einen Tag vor meiner Abreise. Zwei Jahre lang trug ich schon das Einführungsschreiben einer in China hochgeachte ten deutschen Dame an den Philosophen in der Tasche, doch meine Wege hatten mich nicht nach Schanghai geführt. Von dem mit der seidenen Einfachheit vor nehmer Beamten gekleideten Manne, der allein hinter dem Tische in einem Zimmer saß, von seinen großen, glänzend braunen Augen und der feinen Sprache seines Mundes erhielt ich sofort einen geistigen Eindruck: Güte, Überwinderin der Tücke. Er war der erste Chinese, mit dem ich ein unbeengtes Deutsch reden konnte, und wir sprachen von China und von Deutsch land. 

Er erzählte von einem Auf enthalt in Weimar; dort im Park hatte er damals einen zwölfj ährigen Knaben ge troffen, der aus einem rötlichen Heftchen den »König Lear« las. Aber Deutschland, das Land der großen Flotte und der großen Sozialdemokratie —, ist das noch das Land, welches vom alten Weimar Licht erhält? Er habe eine sehr große Achtung vor den deutschen Professoren: scheine es übrigens nicht, als ob man heute weniger auf sie höre als früher, oder als ob ihre Be deutung gesunken sei? — 

Ich entgegnete ruhig, dass zwar Goethe in dem gegenwärtigen Deutschland, das von Menschen angefüllt und vor Rückfällen in ein optimistisches Barbarentum nicht sicher sei, ein wenig zu veralten beginne. Doch habe wohl das in einer langen Friedenszeit verstärkte Bedürfnis der euro päischen Dynastien, ihre Wurzeln zu festigen, die Deutschen bisher von einem rücksichtslosen Gebrauch ihrer militärischen Macht abgehalten, für den im Sinne der Gebietserweiterung in manchen Kreisen des Volks eine schwungvolle Stimmung wäre.

Gu Hongming lud mich zum Abend in ein chine sisches Restaurant. Der Philosoph hatte gleich, nach dem wir Platz genommen, die Punkah abstellen lassen, jenen großen indischen Windfächer zu unseren Häup ten, der den heißen Körper zu schwitzen verhindert und dadurch, nach chinesischer Auffassung, schuld ist, dass so viele Europäer im heißen feuchten Sommer an schweren Erkältungen und anderen Krankheiten leiden. Wir aßen behaglich in Schweiß gebadet und besuch ten danach eines der neu gebauten riesigen Theater, in dessen Parterre und Galerien die Masse des gewöhnlichen Volkes Platz nimmt, während der Kauf mannsstand und die blassen, Brillen tragenden und Zigaretten rauchenden Literaten die Ränge bevorzugen. Ein endlos langes, doch buntes Stück wurde gespielt: das Schicksal eines Anführers im Taiping-Aufstand; eine an Grabbe erinnernder, jäher Wechsel der Szenen. Schlachtgetöse, homerische Reden von der Mauer einer belagerten Stadt, große Worte und Amtshandlungen, prächtige Kostüme, Athletenstücke, abgehauene Köpfe und verzweifelter Heroismus, — im ganzen Vorgänge, denen auch der Fremde zu fol gen vermochte und die nicht selten im Parterre laute Geräusche des Beifalls auslösten. Dann ein zierliches Lustspiel, einer kostbar gekleideten Sängerin zuliebe. 

Wir gingen weiter, und Ku, der mir an diesem Abend China zeigen wollte, führte mich in eines der engen, hohen Teehäuser, wo die Singsangmädchen wohnen, bleich gepuderte, wie auf natürlichen Stelzen gehende Geschöpfe in röhrenförmigen, weißen Seidenkleidern, mit Jasminblüten im kunstvoll frisierten, glänzend schwarzem Haar. Wir setzten uns auf einen Kang, tranken orangefarbenen Tee und plauderten mit den Mädchen, die zur Gitarre ein paar Verse sangen und sich bescheiden und anmutig benahmen. 

Um Mitternacht verabschiedeten wir uns draußen auf der Straße, schon fest auseinandergerissen vom Gewühl der schreienden, vom Glanz der chinesischen Läden, Theater und Restaurants erfüllten Foochow Road. Zum Andenken trug ich die vor kurzem erschienene »Story of a Chi nese Oxford Movement« in der Tasche.

Ich las das Buch am nächsten Tage auf See und empfand es so stark, dass ich mir vornahm, es in Deutschland bekannt zu machen. Noch an Bord sprach ich darüber mit einem Tsingtauer Freunde, dem Sinologen Richard Wilhelm, der sich inzwischen die Mühe nahm, die folgenden Aufsätze ins Deutsche zu über tragen.