Alfons Paquet, 1917
In einer seiner Anmerkungen—der einzigen übrigens, die wir in der deutschen Ausgabe von der Stelle gerückt haben —, gibt der Verfasser eine Schilderung wieder, die ein englischer Reisender von der Stadt Kanton entworfen hat. Die wenigen Zeilen enthalten die Schilderung eines Gefühls, wie es wohl jeden europäischen Besucher im engen, warmen Halbdunkel chinesischer Straßen, sei es in Mukden und Peking im Norden, in den großen Städten am Jangtse oder in dem südlichen Kanton einmal wie mit elementarer Erschütterung ergreift:
»Kanton ist eine gespenstige Stadt. Alles ist seltsam. Die dunklen Straßen sind krumm und unheimlich und vom Himmel abgeschlossen. Der Gestank in der Luft ist nicht zu atmen. Die Gassen sind voll von einer schmutzigen Menge, teils in schmierigen Kleidern, teils in der nackten gelben Haut. Sie haben rasierte Köpfe und grinsende Zähne. Wenn man, wie von ei nem bösen Traum besessen, von Gasse zu Gasse eilt, starren sie einem nach mit neugierigen Gesichtern. Da kommt einem die Erinnerung an die teuflische Art des Volkes, an seine mörderischen Aufstände, an seine satanische Grausamkeit.«
Den Europäer in der Chinesenstadt fassen auch andere, nicht minder panische Stimmungen. Der An blick des massenhaften, schwitzenden Volkes, wie man es an den Landungsplätzen in Kanton, Hankou oder Schanghai beobachtet, halbnackt, mit gerösteten Körpern, unter der Hitze leidend, mit den Schwielen der unförmigen Bürden, die es seinen Knochen zumutet, unwissend, verschlossen, misstrauisch, zur Zusammen rottung und Frechheit neigend, mit zerknitterten, zer sägten Gesichtern, mit müden wilden Augen, aus denen es hündisch-seelenvoll hervordringt, hat et was Ergreifendes. Da tasten diese braunen, schmäch tigen Athleten mit nackten kaum erhobenen Füßen über den Weg, in rhythmisch-schwerem Gang unter den eigenwilligen, an den Enden der Bambusstange wie an einem Wagbalken um die Schultern schweben den Lasten, mit strengen verzerrten Mienen und dem Gesang, der ein einziger geschrieener Seufzer ist, schrill wie das Kreischen schlecht geschmierter Achsen.
Nicht minder hat die stumme korrekte Bereitschaft der sauber und absolut schmucklos gekleideten chine sischen Diener, die den Herrn erwarten, etwas Rätsel haftes vor dem Hintergrunde der Ewigkeit. Es ist zu weilen, als verspüre es der, der die hundertfachen, im einzelnen so geringwertigen und auch entsprechend gering entlohnten Dienste in Anspruch nimmt: diese Menschen sind in einer lebenslangen, fremdartigen, furchtbaren Gefangenschaft. In der Gefangenschaft ihrer Armut, ihrer absoluten, durch viel Aberglauben und ein paar elementare Lebenserfahrungen gefärbten Unbildung. Sie nehmen eine Stufe der Verdammnis und des Leidens ein, die noch vertieft scheint durch den unendlichen Abstand, der sie von der Höhe des Kaffee und Likör trinkenden, befehlenden Europäers in China trennt.
Und jeder Europäer lernt die Gefahr des Ostens kennen: die Gefahr der hohen, der sinnlos hohen Überhebung. Sie macht selbst den albernsten Weißen zum unverantwortlichen Träger eines Vorrechts, das nur den erlesensten und geistigsten Menschen-Exemplaren zukommt: einen Rausch zu spüren, der immer in bleierner menschlicher Selbstbesinnung endet, den Rausch der Herrschaft und der Einzigartigkeit. Für den Europäer, den Neuling namentlich, ist jede Fahrt in einer Rickscha, da ihn ein in schrecklichen Gerüchen damp fender Kuli durch die holprigen Straßen zieht, mitten durch ein Gedränge zu Fuß gehender oder aus dem Dunkel der Läden wie aus den Höhlen photographi scher Kammern mit weitoffenen Augen und unbewegt lächelnden Mienen hervorglotzender, ihre feisten Lei ber mit dem Fächer kühlender Menschen, mit einem Anflug dieses Rauschs verknüpft. Es ist der stolz ge schwellte, angstvolle Rausch der Juden, die das Rote Meer durchschreiten; der Rausch des Abenteurers, der sich auf die Angst derer verlässt, die ihm ausweichen. Er fühlt es wohl: diese Menschen sind furchtbar, wenn die Erregung auch nur eines einzigen von ihnen die Masse der anderen ansteckt und plötzlich von allen Seiten grelle, verächtliche Beschimpfungen sich er geben.
Doch am furchtbarsten sind sie — und hier streift das Gefühl der Beunruhigung schon bis in das Herz Europas — wie sie fernab in einer schwer über sehbaren Einheitlichkeit gegen die hochstehenden weißen Männer emporsteigen auf dem langen, weiten, uneindämmbaren Weg der Auswanderung. Er sieht, dass die seegehenden Schiffe und die diesseits und Jen seits zum Stillen Ozean gebauten Eisenbahnen beginnen, sich mit gelber Rückfracht zu füllen. Dann kann er diese Männer wiedersehen nahe der Bowery in New Jork oder in den Docks von Liverpool. Sie tragen mit einemmal unsere gewöhnliche Kleidung, der Zopf ringelt sich unter der Kappe zusammen wie die Schlange, die der indische Zauberer plötzlich aus seinem Kästchen hervorholt, um sie schrecklich sich ausstrecken zu lassen.
Auf dieses europäische Gefühl, das aus Fremdheit, Überhebung und innerer
Unsicherheit zusammenge setzt ist, nimmt Gu Hongming Bezug, wenn er die so
treffende Bemerkung des von ihm zitierten englischen Reisenden zurückweist mit
den harten Worten: »Für diesen Engländer der Aristokratenklasse ohne Ideen
ist ein Chinese in schmierigen Kleidern mit einem Zopf und gelber Haut eben ein
Chinese mit einem Zopf und gelber Haut und weiter nichts. Der Eng länder kann
nicht durch die gelbe Haut hindurch das Innere sehen, das moralische Wesen und
den geistigen Wert der Chinesen. Wenn er es könnte, so würde er sehen, was
für eine Feenwelt eigentlich im Innern des Chinesen verborgen ist. Er würde
unter anderen Dingen den Taoismus erblicken, mit Bildern von Feen und Genien,
die den Göttern des alten Griechenlands nichts nachgeben. Er würde den
Buddhismus finden und seinen Sang von unendlichem Leid, Mitleid und Gnade, so
süß traurig und tief wie der mystische un endliche Sang des Dante. Und
schließlich würde er den Konfuzianismus finden mit seinem »Weg des Ed len«,
der, so wenig auch der Engländer davon ahnt, eines Tages noch Europas
gesellschaftliche Ordnung ändern und seine Zivilisation zerbrechen
wird.«