µ Baumwolle

Eugen Wolf, 1896

[...] Die Baumwolle, die, vom nordwestlichen Tschili an angefangen, nach Süden durch die Provinzen Honan und Hu-Pe bis an den Jang-tsi-tsjang gewonnen wird, und die ich mir, so oft sich Gelegenheit bot, ansah, hat einen sehr kurzen Stapel, viel kürzer als indische oder nordamerikanische Baumwolle. Es lassen sich daher - wenigstens aus den Sorten, die ich unterwegs gesehen habe - nur untergeordnete, billige Baumwollzeuge aus ihr herstellen. In der Gegend von Shanghai wächst eine wertvollere Baumwolle, die man in den Baumwollwebereien des Vizekönigs Tschang-Chi-Tung in Wuchang, wie ich mich später überzeugte, mit der kurzstapeligen Baumwolle mischt. Kopf an Kopf, von Tür zu Tür saßen alte Weiber längs der Hauptstrasse der Dörfer, die antike Spindel drehend - genau wie sie auf Grund von Abbildungen zur Pharaonenzeit im Gebrauch gewesen sein muss. Wenn ich vom Pferde stieg mit der guten Absicht, der Arbeit dieser alten Hexen zuzuschauen, die Handgriffe, die sie dabei gebrauchten, zu beobachten, oder um selbst den Versuch zu machen, einen Faden zu drehen, ja, wenn ich vom Pferde aus rief, ich wünsche abzusteigen, um zuzuschauen oder eine Spindel zu kaufen, ich wolle mich nur belehren, so entstand eine panikartige Flucht in die Häuser, die Türen wurden von innen verrammelt, es trat dann Totenstille ein, man beobachtete den fremden Teufel durch einen Türschlitz, durch ein Loch hindurch, wie er mit einem Stückchen Holz in der Hand (der Bleistift ist im Innern Chinas unbekannt) Bewegungen auf einem Buche machte. 

Die Baumwollhandweberei konnte ich mir nur da ansehen, wo Männer am Handstuhle arbeiteten, da bekanntlich in China der Eintritt in ein Gemach, in dem sich Frauen befinden - also in die Familienräume -, absolut unstatthaft ist, als eine große Beleidigung, als das höchste Vergehen gegen die Etikette angesehen wird. Am chinesischen Handstuhle habe ich dasselbe mechanische Verfahren beobachtet, wie es unsre Vorfahren vor tausend und mehr Jahren gekannt haben, dieselbe primitive Art und Weise, die Kette - die Lauffäden, die sich vom Weberbaum abwickeln - mit dem Schuss, also mit dem Breitefaden, der sich von dem Schiffchen, in dem sich die Baumwolle - der Schuss - auf Spulen aufgerollt befindet, zu verbinden. Es kann auch nur eine Art des Gewebes hergestellt werden; die Breite der mit der Hand gewebten Stoffe war überall die gleiche; das Zeug hatte nur einen chinesischen Fuß Breite (l chinesischer Fuß misst 35 Zentimeter, jedoch ist dieser Fuß sehr dehnbar, da er sich je nach Kauf oder Verkauf durch China hindurch zu verkürzen oder zu verlängern scheint), das Gewebe war besser, fester, dichter, wenn auch ungleichmäßiger als das in den Webereien Seiner Vizeköniglichen Hoheit hergestellte. Der Preis der rohen Baumwolle wurde mir verschieden angegeben; die Baumwollbörse entwickelt sich meist außerhalb der Ringmauern, die sich um jedes Dorf, jede Stadt hinziehen, im freien Felde. Fragte ich: wie wird Baumwolle hier verkauft? so wurde mir geantwortet: 8 - 10 Cash pro chinesisches Pfund, vor dem nächsten Dorf wurde mir der Preis mit 40 Cash angegeben (10 Cash, der mexikanische Dollar zu 2 Mark 20 Pfennig angenommen, und der Kurs der Cashmünze zu einem Durchschnitt von 900 Cash für den Dollar, ergeben demnach 2 1/2 Pfennig, 40 Cash etwa 9 3/4 Pfennig pro chinesisches Pfund = 1 1/3 englisches Pfund). Die Chinesen, die den Preis mit 40 Cash angaben, vermuteten in mir einen Baumwollkäufer, weshalb sie den Preis um 300 Prozent heraufsetzten. 

Es ist in China sehr schwer, die ursprünglichen Produktionspreise eines Artikels zu erfahren; denn der Chinese wird nie und nimmer, unter keinen Umständen auf eine direkte Frage: was kostet das, zu welchem Preise stellen Sie das her, zu welchem Preise haben Sie das gekauft? sofort mit dem richtigen Preise antworten. Das gibt es einfach in China nicht. Er antwortet zuerst, indem er die an ihn gestellte Frage wiederholt, sie umkehrt, noch mehrere Fragen an den Fragesteller richtet, dies alles, um Zeit zu gewinnen, ehe er die Frage beantwortet, damit er sich in seinem Gehirn zurecht legen kann: "Was soll diese Frage? will er kaufen? will er verkaufen? wird mir die Beantwortung der Fragen einen Nutzen bringen? kann sie mir Schaden verursachen? ist der Mann ein von seiner Regierung gesandter Beamter, der uns kontrollieren will zwecks neuer Abgaben?" Das alles schwirrt durch seinen Kopf, und durch Gegenfragen, durch Gewinnen von Zeit sucht er dem Zwecke meiner Frage auf den Grund zu kommen. Denn dass man zu seinem Vergnügen reise, nur um Berge und Täler, Flüsse und Wälder anzusehen, Gebräuche der Einwohner zu studieren, alte Tempel zu besichtigten und Preisvergleichungen von Bodenprodukten anzustellen, das glaubt kein Chinese, und wenn man ihm einen heiligen Eid darauf leisten würde. Immerhin habe ich durch so und so vielmaliges Fragen feststellen können, dass das chinesische Pfund Rohbaumwolle, nachdem es entkapselt und vom größten Schmutze gereinigt ist, also die erste Operation des primitiven chinesischen Handbatteurs durchgemacht hat, auf etwa 3 Pfennig zu stehen kommt; man kann daraus an den Fingern abzählen, wie groß der Preisunterschied in der Herstellung billiger, für das Volk bestimmter Kattune, Nessel, Shirtings, Bieber und Barchente in 25 Jahren sein dürfte, wenn solch billiges Rohmaterial, an Ort und Stelle hydraulisch verpackt, mit niedriger Eisenbahnfracht waggonweise den Anschluss an die Seedampfer erreichen könnte, die dann die Panama-Kanalroute (die in Kriegszeiten hoffentlich neutrale Route) nach Europa benutzen würden. Wird unsre Textilindustrie, nachdem das Innere Chinas, sei es mit Gewalt, sei es durch Geduld. Beide fahren. den fremden Teufeln erschlossen sein wird, nach 25 Jahren überhaupt noch im stände sein, einen Absatz zu finden, wird der Chinese bei der Masse und Billigkeit des Rohmaterials, den fabelhaft niedrigen Arbeitslöhnen nicht Europa mit seinen fertigen Zeugen überschwemmen können?