Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
Frühling am Westsee
Am Berge ragt die schlanke Felspagode, Der Pavillon blickt
zierlich in den See. Des Wassers Fläche ist so glatt wie Spiegel, Und
Schäfchenwolken schweben in der Höh.
Schon streiten sich die frühen Oriolen Um eines Baumes
schlank gebogene Äste. Die Schwalben fliegen emsig dort zum Hause Und bauen an
dem neuen Frühlingsneste.
Die bunten Blumen füllen Tal und Haine Und durch die
Wirrnis klingt's wie Zauberruf. Das zarte Gras sprosst auf den Wiesenplanen,
Bedeckt nur eben erst der Rosse Huf.
O, unermüdlich muss in solchen Tagen Ich wandeln an des
Sees belebtem Rand. Die Pappeln geben warme, weiche Schatten, Darunter leuchtet
weiß der Dämme Sand.
Bai Juyi
»Oben ist die Himmelshalle, unten gibt es Suzhou und Hangzhou.«
In diesem Sprichwort drückt sich der magische Reiz aus, den die Gegenden in der
Nähe der Yangtse-Mündung
In alten Sagen wird der Ursprung der Musik erzählt: Die
östliche Musik ist entstanden aus der Klage über ein tragisches Schicksal, die
westliche aus Heimweh, die nördliche aus dem Lied der Mädchen an die Schwalbe,
die fortgeflogen. Die Musik des Südens aber entstand aus dem ersten Liebeslied,
das das Mädchen vom Erdhügel, das der große Yu gewinnt, gesungen hat, als sie
auf ihren Geliebten wartete, der seine große Arbeit vollbrachte, um die Wasser
auf Erden in ihre Bahnen zu leiten.
Dieses Liebeslied ist bezeichnend für die zärtliche
Stimmung, die über Gegend und Menschen liegt. Hier ist das Land, wo die
gewaltigen Bilder einer starken Phantasie in die chinesische Poesie
einströmten, ihre strenge Form zerbrachen und in dythirambischen Rhythmen sich
ergossen. Hier ist das Land der stillen, hohen Mystik des Einswerdens mit Himmel
und Erde, aber auch der radikalen Denker, die sich nicht scheuen, die
Konsequenzen ihrer Gedanken zu ziehen, bis in ihre letzten Verzweigungen hinein.
Die Menschen sind heiterer, freier, freundlicher als im Norden, aber vielleicht
nicht so ernst und fest. Hier schenkt die Natur ihre Blumen und Früchte,
Schönheit und Wohlstand sind hier zu Haus.
Am Westsee bei Hangzhou
Es ist eigentlich ein entsetzlicher Gedanke, ein
hässliches Hotel im Shanghaier Mietskasernenstil hier an den Westsee zu setzen.
Es ist nicht einmal das einzige. Diese Auswüchse moderner Fremdenindustrie
wirken umso geschmackloser, als sie hier unmittelbar sich den Spuren einen hohen
Kultur gegenüberfinden. Aber das ist das Los der Stadt am Qiantang-Fluss, dass
manche Stürme schon über sie hinweggefegt sind: erst der Mongolensturm, der
der Märchenherrlichkeit der Sung ein Ende machte, dann der Mandschusturm, der
hier eine Garnison der fremden Eroberer stationierte, dann die Revolution der
Taipings, die fürchterlich hausten mit Sengen und Brennen, dann die Revolution
von 1911, die mit der Mandschu-Stadt ein Ende machte und an ihrer Stelle eine
moderne Handelsniederlassung mit breiten modernen Straßen, mit
Industrieausstellungen, Kinos und Jünglingsvereinen begründete, die
Hotelgesellschaften ins Leben rief und gemeine Backsteinhäuser an den See
stellte, wie das »allerneueste Hotel«, in dem
uns die Rikschas nach einer beinahe einstündigen
Regenfahrt abgesetzt haben. Ein Hotel zweiter Güte, in dem man das
pseudoeuropäische Essen bekommt, das hier im Osten üblich ist, und wo
Unreinlichkeit mit geschmackloser Einfachheit im Kampf liegt. Das soll nun der
Westsee sein, dieses Paradies aller Sagen und Märchen? Es ist entsetzlich. Die
Schornsteine der Fabriken dahinten sehen nicht schöner aus als die Schornsteine
am Ufer des Rheins, die statt der alten Burgen sich neuerdings in seinen Fluten
spiegeln.
Aber wenn man erst durch diese Kruste hindurchzusehen
versteht, dann taucht das eigentliche Hangzhou und der eigentliche Westsee doch
wieder auf, und man wird umweht von der Luft, die um die Hügel streicht und uns
erzählt von Zeiten, die gewesen. Kleine Ruderboote fahren über den See. Ein
Baldachin ist darüber gespannt. Man sitzt um einen kleinen Tisch, isst
Melonenkerne und trinkt Tee, während der Ruderer im Takte das Boot durch die
flachen Wasser treibt.
Zwei Dichter waren es, die diesen Platz geschaffen: in der
Tang-Zeit Bai Juyi, der seine Reize entdeckte, und in der Sangzeit Su Dongpo,
der ein begeisterter Verehrer von Bai Juyi war und den See durch einen Dammbau
gestaltet und zugänglich gemacht hat. Maler und Dichter haben seitdem immer
wieder hier ihren Aufenthalt genommen. Klöster und Pavillons, Pagoden und
Gärten umgeben den See und füllen seine Inseln, und Steininschriften aus allen
Zeiten verkünden sein Lob.
Wie ein Wallfahrtsort hat der See seine Stationen. Jede
Station der Andacht bietet neue Schönheit, und alle Jahreszeiten sind daran
beteiligt, das Märchenkleid der acht Bilder dem heiligen See zu weben. Zu den
acht Bildern sind dann später noch weitere getreten:
1. Bild. Im Frühling, wenn die hohen Weidenbäume ihr
schüchternes Grün entfalten, dann kommen die gelben Oriolen und singen von
Hoffnung und Schönheit. Ein leichter Hauch bewegt die Weidenzweige und
kräuselt die Frühlingswasser.
2. Bild. Die Blumen drängen sich in buntem Gewühl um eine
stille Bucht. Ein Pavillon ist in den See gebaut. Man sitzt und plaudert bei
einer Kanne heißen Weines - denn hier ist Chinas Weinland -. Dann blickt man
hinunter in das Wasser und sieht die Fische spielen.
3. Bild. Der lange Damm, den der Dichter Su Dongpo gebaut,
zieht durch den See. Der Frühlingsmorgen lockt. Noch liegt die Morgendämmerung
über dem See, wenn man auf jenem Damme zwischen den Wassern dem Tag
entgegengeht.
4. Bild. Der Abend naht. An der Südwand liegt in Felsen
versteckt ein Kloster. Friedlich klingen die einzelnen Schläge der großen
Tempelglocke über den See, der Seele rufend aus der Ewigkeit zur Ewigkeit.
5. Bild. Nun kommt der heiße Sommer und brütet über den
gelben Wassern, aus deren Schlamm die Lotosblumen schlank und rein emporsteigen.
Ein leichter Abendwind trägt den strengen, reinen Duft herüber. Die
Lotosblumen in keuscher Reinheit sind nicht beschmutzt von dem Schlamm, aus dem
sie hervorkommen. Sie dulden keine Annäherung, aber weithin senden sie ihre
Schönheit aus: das Bild des Edlen, der vornehm bleibt auch noch im Schenken.
6. Bild. Herbstklarheit liegt in der Luft. Der See ist ein
Spiegel, die Farben des Herbstes stehen bunt und erregen das Gefühl:
Abschiedsstille und Ruhe des Sees, Fernblick und Ausblick.
7. Bild. Vom Ufer des Sees ziehen die Berge ins Land
hinein. Zwei Gipfel lagern am Horizont, hoch aufragend mit einem Paß in der
Mitte. Kommen die Wolken, so fangen sie sich hier im Paß, sie schlingen sich um
die Felsen und haften fest, wechselnd und wandelnd sind sie gebannt.
8. Bild. Herbstmondnacht. Man muss sie erlebt haben in
diesen milden südlichen Orten, wenn der Vollmond mit unwahrscheinlichem Glanz
durch die Stille schwebt, ruhig träumend. Vor der Insel des Su Dongpo stehen
drei kleine Pagoden wie steinerne Laternen im Wasser. Zwischen ihnen,
9. Bild. Hinten am hügeligen Ufer steigt der Donnergipfel
bei einem Kloster empor. Dort stand lange Jahrhunderte die trotzige Pagode. Ihre
Ziegel waren von Feuer, das sie zerstören sollte, rot gebrannt. Gestrüpp und
Bäume wachsen auf ihrer Spitze. Raubvögel flatterten um sie her. Aber sie
stand und schützte. Das Abendrot leuchtete vom Himmel und ließ die rote Pagode
aufs neue erglühen.
10. Bild. Der Winter kommt. Er ist nicht streng in dieser
Gegend. Die Schneeflocken, die des Nachts sich gesammelt und weiße Flocken
nieder wirbeln ließen, sind beim Anbruch des Morgens längst wieder aufgelöst.
Auf der kurzen Brücke, die einst überdacht war von einem Pavillon, haben noch
ein paar zarte Schneereste die Nacht überdauert und zerschmelzen funkelnd in
der wiederkehrenden Sonne. -
Diese Bilder vom Westsee wurden von den Malern immer wieder
gemalt, und tausend Lieder singen von ihnen. Es ist, als sei in ihnen die
Landschaft mit ihrem wechselnden Leben in Licht und Jahreszeiten auf die Erde
herabgeschwebt. Denn nirgends hat der Mensch so früh wie in China die
Landschaft entdeckt als Natur, unabhängig vom Menschen und doch erfüllt mit
einem stimmungsvollen starken Leben, das jeder fühlt, der sein eigenes Ich
vergessen und hineinhören kann in den großen Zusammenklang von Himmel und
Erde.
Dem Westsee folgten andere Seen und Plätze mit ihren
Bildern. Von China wanderte dieses Schauen der Natur hinüber nach Japan, wo der
Biwasee nun auch seine acht Bilder bekam, und die 38 oder 53 Ansichten der
berühmten Landstraße, die durch Japan führt, von Meistern wie Hokusai oder
Hiroshige in Holz geschnitten wurden.
Auch andere Dichter lebten in der Nähe des Sees. So der
Sungdichter Lin P'u, der als Eremit auf einem Hügel beim See wohnte. Er
heiratete nicht, denn die Pflaumenblüte war seine Geliebte, und die Kraniche,
die sich um ihn drängten, waren
Alle duft'gen Blumen sind zerflattert, Du allein bist
frisch und hold, Und ich hab dich liebevollen Sinnes In mein Gärtchen
hergeholt.
Deiner feinen Zweige wirrer Schatten Auf dem seichten
Grunde schwebt, Blüten duften, Mondesspiegelschwanken In der Dämmerung
heimlich lebt.
Schneeig weiße Reiher nahen spähend Mit gesenkter
Schwinge sich, Wüssten es die zarten Schmetterlinge, Grämten sie zu Tode sich.
Glücklich bin ich, dass dir zu gefallen Ich dies Liedchen
ausgedacht. Nicht begehr ich Goldpokal und Zimbeln In der selig stillen Nacht.
Ich fuhr auf einem Boot vorbei an der kleinen Insel, die
man das Herz des Sees nennt. Dort steht unter dichten Bäumen versteckt ein
verlassener Tempel. Dann legte der Schiffer an bei den Lotosgärten von Su
Dongpo. Steinerne Brücken führen zu einem zierlichen Pavillon. Auf den
Blättern liegen noch als blitzende Perlen die Regentropfen. Im See stehen drei
kleine Pagoden und scheinen auf das Spiegelbild des Monds zu warten, das in
ihrer Mitte in der Herbstnacht aufleuchtet. Am anderen Ufer birgt sich in
dichtem Hain das buddhistische Kloster, von dem der Weg den stillen Hügel
hinaufführt zu der Ruine der Donnerbergpagode. Viele Sagen ranken sich um den
trotzigen Bau. Eine böse Fee, die weiße Schlange, liegt darunter gebannt und
kann nicht den Menschen schaden, solange der heilige Stein sie gefangen hält.
Früher stand auf der Pagode ein Wächterhäuschen. Sie überragte die Gipfel
der Nähe, und der Blick zum Meer war frei. Dort konnte man von weitem schon die
Seeräuber nahen sehen, die von Japan her der Küste zusteuerten. Durch Fanale
wurde die Bevölkerung vor den Räubern gewarnt. Diesen aber war die Pagode
leid. Sie beschlossen sie zu vernichten. Sie häuften bei Nacht und Nebel
Reisigbüschel um sie an und warfen die Feuerfackel in das rings getürmte Holz.
Hoch auf prasselten die Flammen. Tag und Nacht währte der Brand. Die grauen
Ziegel der Pagode wurden rot von der Hitze, aber sie hielt stand. Trotzig
blieben ihre leergebrannten roten Trümmer stehen. Aber kürzlich ist sie in
sich zusammengestürzt. Uralte Schriften und Drucke sind aus ihrem Schutt
hervorgezogen worden.
Abends, als der Tag verdämmerte, fuhr ich zurück. Die
Pirole Su Dongpos zwitscherten noch immer gelb leuchtend zwischen den dunklen
Zweigen. Eine Brise kräuselte den See. Leuchtkäfer schwirrten durch die Luft.
Vom fernen Ufer her blitzten die elektrischen Lichter von Hangzhou, und hoch am
Himmel standen die Sterne. Und das alles spiegelte sich im See.
Am anderen Morgen fuhr ich nach der Stadt und von dort nach
dem Qiantang-Fluss. Der Fluss ist berühmt durch die großen Springfluten, die
mehrere Meter hoch wie eine steile Wand zur Zeit der Tagundnachtgleichen aus dem
Meer heraufwandeln. Zehntausende sammeln sich alljährlich auf den Ufermauern,
um dieses wunderbare Schauspiel zu sehen. Der Qiantang ist ein breiter
wasserreicher Fluss, wie er im Norden nicht zu finden ist. Fern am anderen Ufer
sieht man liebliche Hügelketten. Boote und Dschunken fahren auf der weiten,
glatten Fläche umher. Flussaufwärts kommt man zu einer großen, rotbemalten
Pagode, die auf einem Hügel steht. Sie
Wasser zitterten. Die Glocken werden in China nicht geläutet, sondern angeschlagen. Kein wirres Durcheinander streitender Klänge verschiedenen Temperaments beunruhigt das Ohr. Unser europäisches Kirchengeläute, dessen chaotische Wellen uns erheben, kommt dem östlichen Menschen aufdringlich und rücksichtslos vor. Die Abendglocke des Bergklosters hat nichts Dringendes, Drohendes, Überredendes. Sie sendet ihren tiefen vollen Klang durch den Abend. Dieser Ton ist eine Offenbarung, dass hinter allem Schein, hinter aller Vielheit, hinter allem Leid die eine große Ruhe wohnt. Dieser Ton ist wie ein Tor zu einer anderen Welt. Wer will, kann es betreten, wer nicht will, geht vorüber. Es ist da, nichts weiter. Der Ton verhallt, dann kommt das große Schweigen wieder.
Sanft kommt die Ruhe nieder auf das Wasser, Und zarter
Nebel sinkt in jedes Tal. In der Gebirge Falten aus den Hütten Steigt Rauch
empor. -Des Abends bunte Farben ebben langsam, Die Hügel stehen kahl und ernst
am See. Glatt legt die weiche Welle an das Boot sich Und flüstert heimlich.
Da taucht hervor die stille Zauberinsel, Und spiegelnd
grüßt ihr Abbild aus dem See. Drei kleine Türme stehn und halten Wache Im
Dämmerschein.
In schlanker Weiden feinen Hängezweigen Verschwirrt
allmählich der Zikaden Laut, Aus dichtem Laube rufen Oriolen Noch lange Zeit.
Und aus dem Dunkel blitzen tausend Funken Hoch zwischen
Wolken und am Horizont, Sie tanzen auf den kleinen, glatten Wellen Und fliegen
weiter.
Ein fernes Kloster sendet durch die Stille Von Zeit zu Zeit der Abendglocke Ton, Wie durch der Seele ruhig dunkle Tiefen Das Heimweh zieht.
Am anderen Morgen fuhr ich mit Erwin Lang, dem Maler, nach
der Kaiserinsel. Er wollte dort zeichnen. Bald fanden sich Zuschauerinnen ein.
Sie gehörten zur Familie eines reichen Parsen, der auf der Insel eine
Sommervilla hat. Die Mädchen waren am Ufer spazieren gegangen und wunderten
sich über die fremden Gäste. Dem Maler sahen sie neugierig zu und zeigten
große Lust, von ihm gemalt zu werden. Ein paar der Jüngeren waren neugierig
wie die Fische, die älteren klug. Sie kicherten und kamen bald näher, als sie
merkten, dass sich mit den Fremden auf chinesisch reden lasse.
Ich ließ den Maler bei seinen Nymphen und fuhr allein
hinüber nach dem Herz des Sees. Zwischen den dichten Bäumen ist eben Raum für
einen kleinen Tempelpavillon. Don wird der Drachenkönig und die
Wasserprinzessin des Westsees verehrt. Ein bellender Hund hält Wache. Er machte
mir jedoch Platz, als er merkte, dass ich etwas von chinesischen Märchen weiß.
Am Ufer saßen ein paar Fischer und angelten. - Nicht weit entfernt ist noch
eine andere kleine Insel, auf der nur Weidenbäume stehen. Dort ist es am hellen
Tag gespensterhaft. Die Insel ist umgeben von einem Sumpfgürtel, auf dem
Strandläufer graben. Der Herr der Insel ist ein Adler, der als Boten zwei
Elstern hat. Als ich gelandet, meldete mich die eine Elster durch lautes
Schreien. Ich sah mich einen Augenblick um, aber da hörte ich rings umher im
Sumpf zischen und brodeln, und der taubstumme Bootsmann gab mir durch Gebärden
und unartikulierte Laute zu verstehen, dass ich rasch weiter müsse. Und schon
begann der Boden samtartig zu schwanken. Ein paar Erdstufen führten in den
kleinen Weidenkreis der inneren Insel. Nichts war da als in der Mitte ein
zerbrochener Denkstein aus alter Zeit. Ringsum zwischen je
Zu den Erinnerungen des Westsees gehört auch der Tempel
des Yue Fei, der an seinem Grabe gebaut ist. Yüo Fe war ein treuer Feldherr der
Sungdynastie, der sein Land schützen wollte vor den immer mehr herandrängenden
Horden der Jin-tataren. Aber so tapfer er auch kämpfte, gegen ihn wurden
Intrigen angesponnen durch den bösen Qin Gui und seine Frau, die Langzunge. So
heimlich waren sie in ihren schwarzen Plänen, dass sie nicht zu reden wagten,
sondern nur mit einem Essstäbchen Zeichen in die Asche schrieben und immer
sogleich wieder verwischten. So wurde denn durch ihren Verrat der tapfere Held
Yue Fei zu Tode gebracht. Aber die Vergeltung blieb nicht aus. Dem Helden wurde
ein Tempel errichtet, in dem er heute Ehrungen genießt, die hinter den Ehrungen
Guandis, des Kriegsgottes, nicht zurückstehen. Besonders seit der Revolution
wird er als nationaler Befreier von der Not der Tataren noch mehr gefeiert als
zuvor. Vor seinem Tempel stehen gefesselt die eisernen Bilder von Qin Gui und
der Langzunge, und jahrhundertelange Schmähung war ihr Teil. Erst seit dem
Tempelneubau sind Tafeln angebracht, die sie vor Beschmutzungen schützen
sollen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist es, dass auch einige Opfer der
Befreiungskämpfe, die zum Sturz der Mandschus führten, am Westsee ihre
Ehrenhallen haben. Rührend liegt zwischen all diesen blutigen Helden aus alter
und neuer Zeit das Grab der kleinen Su Xiaoxiao, einer zierlichen Sängerin aus
der Zeit des großen Dichters Su Dongpo.
Die Stadt Hangzhou pflegt zwar die Erinnerung an den großen Yu, der bei der Ordnung der Gewässer im Reich auch hierher gekommen sei, aber sie sieht auf kein so hohes Alter zurück wie andere Städte. Auf wenige Jahrhunderte drängt sich ihre Blütezeit zusammen. Es ist die Stadt der Seide und des Tees. Auch einige ganz berühmte Fächergeschäfte sind in ihren engen Gassen. Ein uraltes Gebäude ist die Moschee, von der in manchen Märchen geredet wird. Durch die bunte Pforte tritt man in dunkle Räume, die ursprünglich wohl etwas Fremd-Geheimnisvolles für die Chinesen hatten. Alte Tafeln mit chinesischen Zeichen hängen unter hohem dunklem Dachgebälk: »Alle Wege führen zum selben Ziel.« »Ich bin der Eine Wahrhaftige, außer mir ist kein Zweiter.«
Jetzt werden die Nebenräume zu Schulzwecken benützt, und
modern gekleidete Knaben und Mädchen, die sich in den verborgenen Höfen
tummeln, lassen kein Halbdunkel des Märchens mehr aufkommen.
Auf einem Hügel am Ende der heutigen Stadt lag die
Akropolis. Eine große Zahl von Tempeln verwittern hier. Die Figuren zeigen die
graziösen Formen der Sungzeit, aber die Zeit ist siegreich geblieben in ihrem
leisen Zerstörungskampf gegen Menschenwerke. In China gibt es keine moderne
Denkmalspflege. Man repariert nicht Jahr um Jahr die alten Gebäude, bis man
schließlich nicht mehr weiß, was alt daran ist und was neu, sondern man baut
sie fest und stark. Dann lässt man der Zeit ihr Recht, bis ein neues Geschlecht
jeweils neue Tempel baut, wie etwa den Yuefei-Tempel, der erst in den letzten
Jahren aus den Trümmern vollkommen neu erstanden ist. Oben auf der Höhe hat
man einen schönen Ausblick über die weite Ebene, in der die Stadt liegt, die
durch die vielen, alten Bäume ein angenehmes gartenartiges Aussehen hat, dann
hinüber nach dem Qiantang-Fluss, der sich in mancherlei Buchten ins Meer
ergießt. Auf der anderen Seite taucht hinter den Hügeln der Westsee noch
einmal grüßend auf.
Der Himmel lag feuchtschwer über der Ebene, aber die
gelben Rapsfelder zwischen dem frischen Grün leuchteten wie heller
Sonnenschein. In der Nähe von Suzhou wird die Gegend hügelig. Wir stiegen aus
dem Zug und gingen zunächst nach dem Tigerhügel, zu dem sich eine enge
gepflasterte Vorstadtstraße hinzieht. Das Leben in diesen Straßen spielt sich
weit mehr in der Öffentlichkeit ab als in dem zurückhaltenderen Norden, wo
Mauern den Blick abhalten, ins Innere der Höfe zu dringen. Auch der
Menschenschlag ist ein anderer. Der ganze Körperbau ist feiner, die Frauen
haben runde, weiche Züge. Das Fußbinden, das man in Nordchina auf dem Land
noch immer findet, wenn es auch wie der Zopf heute nur noch eine rückständige
Bauernsitte geworden ist, ist hier nie verbreitet gewesen. So trifft man hier
Frauen als Schifferinnen und selbst als Sänftenträgerinnen, was in Nordchina
etwas ganz unerhörtes wäre. Schon Li Taibo hat in seinen Gedichten über die
Mädchen in Yue ihre schneeweißen Füße bewundert und ihre verführerische
Koketterie. Das ganze Leben spielt sich heiter und fröhlich ab. Hier ist das
heitere China. Die große Harmonie des Lebens, die auch dem Armen seinen Anteil
am Leben gibt und es ihm ermöglicht, den Augenblick zu genießen, ohne mit
finsteren Mienen an die harte Zukunft zu denken oder neidische Blicke auf den
reichen Nachbar zu werfen. Diese Heiterkeit befreit, man entdeckt plötzlich,
dass das Leben nicht so furchtbar hart und ernst ist, und dass der weiche Wind
unwiderleglich ist, der den Menschen die Falten von der Stirn glättet. Ein Zug
Soldaten zieht unter Hörnerklang an uns vorüber. Sie sind zwar nicht ganz
gleichförmig in der Uniform, und auch der gleiche Schritt und Tritt ist nicht
sehr streng, aber man sieht ihnen den Eifer an, und die falschen Töne der
voranschreitenden Hornisten feuern auch noch die kleinen sechzehn- oder
siebzehnjährigen Rekruten an, die in den hinteren Reihen marschieren. Auch
Polizisten stehen an den Ecken mit großen weißen Tuchplakaten auf der Brust,
auf denen ausführliche Angaben über Zugehörigkeit, Standort, Nummer, Bezirk
in Form eines amtlichen Erlasses geschrieben stehen. Aber sie stören nicht. Es
ist immer ein glückliches Land, in dem die Polizisten nicht stören. Es gehört
viel Weisheit dazu. Aber hier geht der Verkehr in ruhigen Bahnen,
rücksichtsvoll heiter, wie er auch schon früher sich abspielte. Die Polizisten
stehen da, weil sie als Zeichen der Kultur eines Landes unentbehrlich sind. Sie
greifen gelegentlich helfend ein, aber unmerklich, milde.
Die Leute auf der Straße sitzen an ihrer Arbeit. Sie
werfen auf die vorübergehenden Fremden wohl einen Blick, aber nicht
aufdringlich oder lästig, dann wenden sie sich wieder der Arbeit zu. Nur einmal
erregte der eine Freund, der mit uns war, starkes Aufsehen. Es war nämlich so
ungeheuer lang, dass er den Leuten im oberen Stockwerk der niedrigen Häuschen
zum Fenster hineinsehen konnte. Ein Schuster, der an seiner Arbeit saß, fiel
vor Schreck von seinem Stühlchen, als er plötzlich das Gesicht eines Fremden
vor sich sah. Wie er aber bemerkte, dass er es mit einem durchaus gutartigen
Menschen zu tun hatte, beruhigte er sich bald und lachte über seinen jähen
Schreck.
Der Verkehr der Leute untereinander ist harmlos und
freundschaftlich. Ein Kaufmann steht unter den bunten Waren seines Ladens. Ein
Nachbar kommt vorüber. Er hat sich auf dem Markt einen Fisch und ein wenig
Gemüse gekauft. Vorsichtig vermeidet er die Pfützen der Straße. Er hält sich
am Pfosten des Geländers, das den offenen Raum des Hauses von der Straße
trennt, und beginnt eine kleine Unterhaltung. Man redet ein wenig und arbeitet
weiter oder steckt sich auch wohl eine jener dünnen, langen Pfeifen an, die in
ihren kleinen Metallköpfen Raum haben für Tabak zu zwei bis drei Zügen.
Kinder sitzen an einer Ecke und spielen. Niemand tritt sie tot oder überfährt
sie. Selbst der kleine Hund kann den Nahrungsüberrest, den er in einem Winkel
gefunden, ungefährdet in Sicherheit bringen.
In Suzhou trifft man noch die Spuren der alten Kultur der
Sungdynastie. Zu jener Zeit hatte das chinesische Geistesleben die zarte
Feinheit der frühen Gotik. Der Buddhismus, der in den vorangehenden
Jahrhunderten das chinesische Geistesleben erweicht und befruchtet hatte, war
nun assimiliert. Er hatte wie Luft, die man einatmet, die chinesische Seele
durchdrungen und hatte sie weich und gefühlvoll gemacht. Vielleicht zu weich;
denn lange hat die schöne Zeit ja nicht gedauert. Von Norden her drängten sich
wilde Tataren heran, und der Herrscherhof musste von Suzhou nach dem
benachbarten Hangzhou übersiedeln. Das war im Jahr 1127.
Der Tigerhügel zeigt noch die Fundamente eines
kaiserlichen Schlosses, das in jenen Zeiten hier gestanden. Auf dem Gipfel ist
eine große, ebene Felsplatte, rings umgeben von einem ringförmigen Hügelwall.
Eine steile Felsplatte ist in der Höhe durch eine kühn geschwungene Brücke
überwölbt. In der Tiefe steht ein grünes Wasser, der Schwerterteich genannt.
In jenem Teich hat ein Ritter einst ein Schwert gefunden, mit dem er den Tiger,
der in dieser Gegend schrecklich hauste, siegreich bekämpfte. Darum hat der
Hügel noch seinen Namen von jenem Tiger.
Heute decken die Ruinen einer halbverfallenen Pagode die
altberühmte Stelle. Daneben steht ein Tempel der Guanyin und ein anderer, dem
Jadeherrn und Himmelsvater geweihter, ein Ziel für Pilger und Naturfreunde aus
weitem Umkreis. Vor dem Tempel des Himmelsherrn ist eine Terrasse, von der aus
sich ein großer Ausblick über dies alte Land auftut. Die Ebene liegt mit ihren
Feldern und Hainen wie ein Garten ausgebreitet. Silberglänzende Wasserbänder
durchziehen sie in jeder Richtung. Von Hangzhou her läuft der Kaiserkanal, der
diese Gegend mit dem fernen Peking, weit im Norden, verbindet. Reger
Bootsverkehr belebt die hundert Adern, die hier fast ganz die Landstraßen
ersetzen. Man sieht die Dächer von Suzhou eng sich durcheinanderschieben,
daraus ragt die siebenstöckige Pagode, das Wahrzeichen von Suzhou, hoch empor.
Die Hügel in der Runde haben alle ihre Namen und ihre
Geschichte. Der vulkanische Kegel, der schroff aus der Ebene aufsteigt, ist der
Löwenkopf, der langgestreckte Hügelzug ganz hinten, auf dessen Rücken uralte
Grabhügel wie Hünengräber aufsteigen, ist der Siebensöhneberg. Weiterhin am
Horizont
Nach Suzhou zurückgekehrt, begeben wir uns an einen der
Kanäle, wo unser Diener ein Hausboot gemietet hatte. Diese Hausboote sind
große, flachgebaute Boote, auf denen ein Aufbau von mehreren Räumen ist, in
denen ein paar Freunde oder eine Familie gar wohl für einige Zeit hausen
können. Da die Kanäle fast alle ohne Strömung sind - höchstens die Flut des
Meeres, in die sie münden, macht sich geltend -, so lassen sie sich leicht
durch Segeln oder Treideln von Land aus fortbewegen. Gelegentlich kann man sich
auch von einem kleinen Dampfer eine Strecke ziehen lassen. Kein schöneres,
fauleres, träumenderes Leben kann man führen, als wenn man auf einem solchen
Hausboot in guter Gesellschaft, d. h. entweder allein oder mit wenigen
verständigen Menschen zusammen, die stillen Kanäle durchträumt.
Das wissen selbst die fremden Kaufleute von Shanghai, die
darum in der guten Jahreszeit häufig das »Weekend« auf dem Hausboot
verbringen. Aber sie kennen das Leben nur vom Hörensagen. Sie kommen auch hier
nicht los von sich selber. Statt an der Bar des Klubs trinken sie ihren Whisky
auf dem Hausboot. Sie haben sich ihre North China Daily News mitgebracht und
studieren aus Langeweile die Kurse. Der Boy ist natürlich auch mit und bereitet
das Essen mit gewohnter Pünktlichkeit. Die Frau liegt auf einem Liegestuhl und
schläft, die Kinder streiten, und der Mann gähnt heimlich hinter seiner
Zeitung, wenn er nicht zur Abwechslung sich über irgend etwas aufregen kann
oder einen Kuli prügeln, der seinen Zorn aus irgendeinem Grund erregt. Arme
Menschen, das Bild des fliegenden Holländers, von allem tragischen Reiz
entkleidet. »Momentan gesättigte Raubtiere«, pflegte Gu Hongming seine
englischen und amerikanischen Freunde dieser Art zu nennen. Der chinesische
Schiffer weicht diesen Erscheinungen, die sich durch aufgezogene Nationalflaggen
leicht unterscheiden lassen,
Unsere Fahrt auf dem Kanal war überaus anziehend. Die
Sonne war herausgekommen, ein frischer Wind blähte die Segel, eine muntere
chinesische Reisegesellschaft war an Bord. So ging es durch das weite Land.
Unter hochgeschwungenen Brücken hindurch und zwischen frühlingsgrünen Bäumen
hin, die die Ufer begleiteten. Ab und zu trat ein Hügel aus dem Wasser heran,
von einem stillen Tempelhain umschattet, oder ein gewerbetätiger Marktflecken,
dessen Häuser unmittelbar aus dem Wasser aufsteigen. Ruderboote fahren auf dem
Kanal, um zu fischen. An ihren Rändern sitzen Reihen von Kormoranen. Sie sind
zum Fischen abgerichtet und tragen einen Ring um den Hals, der sie verhindert,
die gefangenen Fische zu schlucken. Sie kommen daher mit ihrer Beute zurück,
die ihnen von den Fischern entnommen wird. Zum Schluss bekommen sie, nachdem der
Ring entfernt ist, dann noch ihren Anteil, um sie munter und fleißig zu
erhalten. Auch mit Netzen wird gefischt, zum Teil mit ganz großen, die die
volle Breite des Kanals einnehmen. Andere Boote kamen uns entgegen. Da sie nicht
mit dem Winde fahren konnten, wurden sie vom Ufer aus, das in der Regel hohe
Dämme hat, getreidelt. Zwei, drei Männer zogen an langer Leine das Schiff,
während eine Frau am Steuer stand und die Richtung gab.
Als der Abend sich nieder senkte, legten wir in der Nähe
des Qionglongshan (Berg des Himmelsgewölbes) an. Lachend schwatzend begegneten
uns Träger und Trägerinnen, die mit ihren Bergsänften uns zum Kloster
hinauftragen wollten. Es war gerade Wallfahrtszeit, und sie kamen vom
Bergkloster zurück, wohin sie reiche Pilger getragen hatten. Aber die schwere
Arbeit lastete nicht auf ihrer Seele. Freundlich lachend boten sie sich an. Wir
lehnten ab, doch unter Scherzen und Lachen gingen sie noch eine Strecke mit,
falls einer seinen Entschluss bereue. Als sie merkten, dass wir entschlossen
seien, trennten sie sich fröhlich und munter von uns und kehrten in ihr Dorf
zurück.
Den Berg hinauf führt ein steiler gepflasterter Fußweg.
Zwischen Gestrüpp und niedrigen Bäumen stiegen wir nach oben. Hallen zum
Ausruhen und Steintafeln mit Inschriften stehen am Wege. Oben kommt man durch
ein halbverfallenes Torgebäude in den Tempelbezirk. Die Sonne neigte sich dem
Untergang zu. Wir stiegen, um den Sonnenuntergang zu sehen, noch auf die runde
Graskuppe, die sich hinter dem Tempel ein paar hundert Fuß aufwölbt. Die
ganzen Hänge des steilen Hügels sind bedeckt mit Blüten, meist roten Azaleen.
Auf dem Gipfel ist ein Mauerwerk, das ursprünglich wohl ein Grab war, das
später eingebrochen ist. Im Schein der untergehenden Sonne dehnte sich der
Taihu, einer der größten chinesischen Seen, mit seinen Inseln und Buchten in
unabsehbare Ferne.
Die Dunkelheit war hereingebrochen, als wir im
Tempelkloster wieder anlangten. Dieses Kloster wird von etwa zwanzig
Taoistenmönchen bewohnt. Es ist ein großer Komplex von Gebäuden und Höfen.
Die Pilger, die in der Frühlingszeit von weit herum im Land hierher kommen,
pflegen meist auch die Nacht oben auf dem Berg zu verbringen. Mit uns
gleichzeitig waren über siebenhundert Menschen dort, und es war noch immer
übriger Raum da. Ein Mönch erwartete uns am Tor. Er führte uns durch lange
Gänge und steile Treppen, vorüber an gespenstig dunklen Götterwohnungen und
weiten Hallen voll fröhlich schmausender Pilger, in einen stillen, abgelegenen
Saal. Ein Feuer brannte auf dem Boden von Steinplatten. Ein Tempeldiener machte
Wasser für uns heiß. Ein paar Kerzen
brannten auf dem Tisch, aber ihr schwacher Schein kämpfte vergeblich gegen das Dunkel des weiten Raumes. Wir wuschen uns und gingen an die Bereitung des Abendessens. Die Nachricht von unserer Ankunft hatte sich unterdessen unter den Pilgern verbreitet. In dichtem Gedränge kamen sie heran, um uns zu beobachten. Auch die Mönche zeigten viel Interesse für die fremden Gäste. Wir suchten eine Unterhaltung zu führen. Viel kam nicht dabei heraus. Sie erzählten, dass der Tempel dem Nephritherrn, der den Himmel beherrsche, geweiht sei. Meditationen und fromme Übungen waren nicht Brauch. Der Tempel gehörte mehr zu denen, in welchen der Gottesdienst nach festem Ritus abgehalten wird, und der im übrigen als Absteigequartier für Wallfahrer dient. Zuletzt kam auch noch der Abt. Er war recht aufgeklärt und interessierte sich lebhaft für den Kognak und die Zigarren, die wir mitgebracht hatten. Aber ein richtiger Europäer hat immer noch eine Überraschung für einen armen, alten Chinesen. Einer von uns hatte eine elektrische Taschenlampe bei sich. Die holte er geheimnisvoll aus der Tasche hervor und ließ sie in dem dunklen Raum aufblitzen. Die Pilger staunten, und auch der Abt bewunderte. Nun wurde ihm ausführlich erklärt, wie man ein solches Ding handhaben müsse. Endlich durfte er auch ein paar Mal knipsen. Die Batterie erschöpfte sich allmählich und die Lampe hörte auf zu imponieren. Nun verabschiedete sich der Abt, und mit der gelassensten Miene der Welt holte er aus seinem Ärmel eine vorzügliche Taschenlampe hervor. Die Pilger wichen scheu vor der blendenden Helligkeit zur Seite, und freundlich grüßend, verschwand der Abt durch die aufleuchtenden Gänge nach seiner Zelle.
Mein Reisegenosse war wütend, wollte dem Abt nachstürzen,
der ihm seine Taschenlampe gestohlen. Mühsam hielt ich ihn zurück. Da war auch
noch die Taschenlampe. Der Abt hatte seine eigene bei sich gehabt, die weit
heller war, und wir hatten ihm mit unserem bescheidenen Lämpchen einen Zauber
vormachen wollen! Wir müssen ihm vorgekommen sein wie Neger, die sich mit ihren
Zylinderhüten brüsten. Auch den Pilgern gegenüber hatte er gesiegt. Diese
zogen sich allmählich zurück, und es ward stille in dem weiten Raum.
Nun konnten wir darangehen, nach einem Ruhelager zu suchen,
Bettzeug hatten wir mitgebracht. Aber in der Halle stand nur eine einzige
Bettstelle, auf der wir unsere Küchengeräte ausgebreitet hatten. Zur
Hinterwand führte ein verstecktes Pförtchen in einen geheimnisvollen schwarzen
Gang hinaus. Eine steile Treppe ging nach oben. Wir gingen hinauf und fanden
Tür an Tür eine Reihe öder Gemächer, in denen zum Teil altes Gerumpel lag,
zum Teil Bettstellen umherstanden. Die Finsternis verhinderte, das ganze Gewirr
von Zimmern und Kammern zu unterscheiden, das wie in einem unheimlichen Traum
sich durcheinander schob. Wir suchten ein paar der besten Kammern aus, und da
wir müde waren, schliefen wir bald ein. Ich hatte nicht lange geschlafen, da
führte mich der Traum zurück in die dunkle Halle. Zwei Priester in weitem
Gewand saßen an unserem Tisch und tranken. Der eine schnitt aus einem Stück
Papier eine runde Scheibe und hängte sie an die Wand. Der andere fragte: »Wo
sind die Fremden mit dem Taschenlicht?« Mein Freund stand stolz auf und sprach
in militärischem Ton »Hier«. »Dann leuchte einmal.« Er ließ seine Laterne
aufleuchten, die aber bald erlosch. Nun begann die weiße Scheibe zu strahlen,
und man entdeckte, dass sie der Mond war, der im Zimmer hing. Ganz deutlich
konnte man das Marmorschloss sehen und den Kassiabaum daneben. Ein Lachen
ertönte, und die Mondfee kam herbeigeschwebt. Sie musste nun tanzen, und alle
Pilger lachten und freuten sich ihrer Schönheit. Da schwebte der Mond wieder an
den Himmel empor. Der Freund, der einen Kakianzug und Tropenhelm trug, wurde
immer länger, bis er über den ganzen Berg hinausragte und an den Mond
anstieß. Der Priester aber und sein Genösse kletterten an ihm wie an einer
Leiter empor, gingen auf das Schloss im Monde zu und verschwanden mit der
Mondfee in seinen Gemächern. Der Freund aber begann laut zu brüllen, so dass
die Pilger angstvoll zerstoben und ich -achte. Er schnarchte allerdings recht
deutlich nebenan.
Am anderen Morgen drang die Kühle vor Sonnenaufgang ganz
empfindlich durch die dünnen Bretterwände, und im Schimmer der aufgehenden
Sonne machten wir uns einen Begriff von der Lage der Räume, in denen wir
geschlafen. Über die Dächer der Tempelgebäude hinweg sah man hinaus ins
sonnenfrische Land. Nach dem Frühstück sahen wir uns in den Tempelhallen um.
Die Priester, die meistens Opiumraucher waren, schliefen noch. Wir hinterließen
eine angemessene Bezahlung für unsere Beherbergung und gingen weiter.
Unten am Berg stand ein altes Männchen vor einem Tisch,
auf dem er ein holzgeschnitztes Götterbildchen und einige Opfergefäße
aufgebaut hatte. Er konnte den Leuten die Zukunft sagen. Das Götterbild hatte
keine Beine mehr und war auch ziemlich wurmzerfressen. Aber die Schnitzerei war
nicht schlecht. Ich wollte es kaufen und fragte den Mann, was die kleine
Holzplastik koste. »Mindestens zwei Dollar«, war die Antwort. Er hatte wohl
absichtlich eine märchenhaft hohe Summe genannt. Als er aber darauf die zwei
Dollar vor sich auf dem Tisch liegen sah, erschrak er und kämpfte einen harten,
aber kurzen Kampf. Nein, er wollte den Gott doch nicht verkaufen. Dann atmete
er, von seinem Entschluß erleichtert, auf. Der arme Alte kannte dennoch Dinge,
die ihm wichtiger waren als das Geld.
Die Rückfahrt nach Suzhou ging rasch. Wir kamen an einigen
Polizeidschunken vorüber, großen, hübsch gebauten Hausbooten, die meisten
vorn mit einer kleinen Kanone, die jedoch mehr zum Schrecken als zum Treffen
eingerichtet schien. Es herrschte übrigens vollkommene Ruhe und Ordnung auf dem
Kanal. Unter der neuen Brücke in Suzhou stiegen wir aus.
Ein Gang durch das bienenemsige Getriebe der Straßen bot
Bilder, wie sie in chinesischen Städten nicht ungewöhnlich sind. Aber doch
hatten wir einige Begegnisse, die den feinen alten Geist der Song-Zeit zeigten.
Die Geschäfte sind nach der Straße zu bei Tag nur durch ein Geländer
getrennt. Am Eingang stehen zwei hölzerne Pfosten, die in der Regel durch ein
holzgeschnitztes, vergoldetes Löwenornament abgeschlossen sind Nur an einem
einzigen ziemlich kleinen Laden waren auf den Pfosten statt der Löwen ein Paar
menschliche Figuren, behaglich kauernd und die Eintretenden freundlich
angrinsend. Ein reizendes Stück Kleinkunst, nicht höher als eine Handlänge.
Der Ladenbesitzer wusste diese Erbstücke zu schätzen. Liebevoll streichelte er
sie, als er darauf angeredet wurde, und erzählte, dass sie schon seit mehreren
Generationen hier am Eingang stehen.
In Suzhou ist auch die Musik zu Hause. Die Sängerinnen von
Suzhou sind in ganz China berühmt. Die Geigen haben hier einen sanften,
violaähnlichen Ton, nicht den schrillen, näselnden, den man sonst so häufig
hören kann. An der Pagode in Suzhou hatte ich auch das Erlebnis mit dem
Blinden, das schon oben erwähnt ist.
Der Abend dämmerte, und in den engen Straßen bei der
hohen Pagode schob sich geschäftig die Menge. Sänften wurden in raschem
Schritt vorbeigetragen. Elegante junge Damen mit ihren Dienerinnen trippelten
zögernd des Wegs und erfüllten wie Blumen die Luft mit süßen Gerüchen.
Geschäftsleute, mit verschlossenen Gesichtern rechnend, Arbeiter, ihren
Tagesverdienst besprechend, jeder ging seines Wegs. Die fliegenden Garküchen
entsandten Rauch und Ölgeruch und waren umdrängt von Essbegierigen. Die
Holzladen wurden vor den Türen und Fenstern der Geschäfte befestigt. Auf der
Bank in einem Torweg saßen ein paar Freunde und plauderten, während sie aus
ihren dünnen Pfeifen rauchten. Droben in dem Sonnenstaub der Höhe kreisten
Vögel um die Grasbüschel, die auf den Dachrändern der Pagode wuchsen. Die
Glöckchen an den Ecken der Pagode wurden leise vom Wind bewegt. Es war der
Augenblick, wo der Tag noch einmal sich regt, um in die Dämmerung zu versinken.
Und Frühling klang durch den Rest des Tages. Ein Ton: Mitten im Straßengewühl
ein feiner, süßer Ton. Einige horchten einen Augenblick auf, andere rannten
weiter. Aber der Frühlingston kam näher. Ganz deutlich drang er durch den
Straßenlärm wie ein schimmernder goldener Faden. Eine Melodie ertönte von
einer süßen Wehmut, die im Frühling schon den Herbst ahnen ließ und fast
schmerzhaft schön war. Ein Blinder spielte auf einer kleinen chinesischen Geige
seine weichen Töne. Und wo er vorbeikam, hörten die Menschen auf von Geld zu
reden, die Kinder hielten inne in ihren Spielen, und der müde Wanderer stand
einen Augenblick still. So quoll das Lied vom Frühling wie Zauberton aus der
Geige des Blinden. Sein Blick war nach innen gekehrt, er nahm keine Gaben, er
spielte und ging weiter. Langsam ging das Lied in der Ferne der Straße unter.
Da war es Nacht geworden, und die Welt war auf einmal wieder wirklich mit
drängenden Menschen und düsteren Häusern, und nur hoch droben klangen noch
die Glöckchen der Pagode.
In der Stadt ist auch ein Garten, einer jener alten
chinesischen Zaubergärten, wo man wie in einem Labyrinth zwischen Teichen,
Felsen, Pavillons und Hainen wandelt, und jeder Schritt ein neues Bild dem Auge
öffnet. Früher war Einsamkeit um den Garten. Er lag außerhalb der Stadttore.
Jetzt ist in seiner Nachbarschaft der Bahnhof und hässliche Herbergen für
durchreisende Gäste. Wir fuhren mit der Bahn wieder nach Shanghai zurück.
Nachdem wir von den Schönheiten Chinas einen Eindruck bekommen hatten, grinste
uns hier wieder alle Hässlichkeit Europas an. Man spricht manchmal von der
Fremdenfeindlichkeit der Chinesen. Die Chinesen sind gar nicht
»fremdenfeindlich«. Sie wehren sich nur, in den Schlamm hineingezerrt zu
werden, der vom Westen aus die Welt zu ersticken droht. Aber wie gut könnte man
es verstehen, wenn die Chinesen fremdenfeindlich wären. Wenn man nach dem
Erlebnis des alten China zurückkehrt in den hässlichen Lärm der Großstadt,
wo die Sikhpolizisten in englischen Diensten streng und erhaben dastehen wie
schauerliche Maschinenmenschen und den Chinesen täglich ihre Knechtschaft vor
Augen führen, wenn sie mit ihren Stöcken einen armen Rikschakuli schlagen oder
einem schwerkeuchenden Träger einen Tritt geben, damit das Auto des reichen
Fremden ohne Aufenthalt weiterrasen kann, so ergreift einen oft ein starker
Grimm. Nicht gegen die armen schwarzen Sikhs, die ja auch Sklaven sind, sondern
gegen die Menschenmaschine, das Ungeheuer, das sich der Menschen bedient, um die
Menschheit zu vernichten.
Aber China wird nicht sterben. Es besitzt die Kraft, sich
zu retten vor der »weißen Gefahr«. Es finden sich auch Menschen, die die
Fähigkeit besitzen, die europäische Kultur in ihrem Wesen zu verstehen und sie
zu trennen von jenen Äußerungen des Hässlichen an ihr. In Shanghai fand ich
eine Einladung in ein chinesisches Gasthaus vor. Es war ein unscheinbares
Gebäude in einer abgelegenen Nebenstraße. Kein Lärm, kein Gewühl drang
hierher. An den Wänden hingen Sprüche auf roten Wandrollen: Gedichte von
Stammgästen, die hier in vertrautem Freundeskreis angenehme Stunden verlebt
hatten. Es waren gute Namen unter den Künstlern, die diese Andenken
hinterließen. Ein kleiner Kreis traf sich bei einem ausgesuchten Mahl:
Künstler und Gelehrte. Ein alter Herr sprach von der Unverständlichkeit der
modernen europäischen Kunst. Der Maler Chen Shizong, das Haupt der modernen
Maler Chinas, gab nun mit ein paar Sätzen einen Überblick über die modernen
künstlerischen Richtungen und ihre Tendenzen und traf in seiner ruhigen und
selbstverständlichen Art allen diesen Richtungen gegenüber wirklich das
Zentrale. Er hat selbst in der chinesischen Kunst etwas von diesem neuen Geist
zum Ausdruck gebracht; nicht in äußerer Nachahmung der Formensprache oder in
vergeblichen Versuchen einer halbverstandenen Öltechnik, sondern vollkommen
frei, vom Boden der chinesischen Tuschetechnik aus, nimmt er die Anregungen der