Meyers
Konversations-Lexikon, 1875
Bis zur Herrschaft der Mandschu (seit 1644) war Stabilität des Beamten Grundsatz, und bei der genauern Bekanntschaft der Beamten mit den Verhältnissen und Bedürfnissen ihres Amtsbezirks konnte man die öffentliche Autorität mit Recht als "Vater und Mutter des Volks" bezeichnen.
Die Mandschu haben dagegen seit ihrer Thronbesteigung nie aufgehört, Komplotte zu Gunsten der früheren Ming-Dynastie zu fürchten. Da sie die hohen Ämter mit Mandschu tatarischer Abkunft besetzen durften und die Chinesen darin belassen mussten, so führten sie im Lauf der Zeit den Gebrauch ein, die einflussreicheren Beamten nie länger als 3 Jahre in ihren Stellungen in den Provinzen zu belassen. Das Wort Mandarin, für einen Beamten der 9 Rangstufen (Kieuphin), ist portugiesischen Ursprungs, im Chinesischen bezeichnet das Wort Kuan einen Beamten; die 9 Rangstufen werden durch kleine Kugeln von verschiedenem Stoff und Farbe unterschieden, die oben auf der Mütze getragen werden.
Die Beamten sind zahllos; der ewige Wechsel hat sie ihren Pflichten und ihrer Aufgabe so sehr entfremdet, dass ihr Bestreben nur darauf gerichtet ist, in der kurzen Zeit ihrer Amtstätigkeit ihre Kassen zu füllen. Da die Besoldungen der öffentlichen Diener lächerlich niedrig sind, die Regierung aber trotzdem ihren Beamten maßlosen Aufwand zumutet, so bleibt diesen nichts übrig, als sich das nötige Geld durch Bedrückungen und Auflage ganz willkürlicher Taxen neben den Staatsteuern zu schaffen und Übergriffe ihrer Untergebenen zu dulden.
Nach Anschauung der Mandarine ist das Volk der Beamten wegen da, nicht umgekehrt; der Beamte tut nichts, außer wenn er bezahlt wird. Dies ist Prinzip für den untersten Diener wie für den obersten Gebieter. Je höher die Stellung des Beamten, dessen Einfluss gesichert werden soll, desto zahlreichere Mitglieder sind zu gewinnen, und um so kostspieliger wird das Verfahren.
Dies erklärt, dass kleinere Städte, weil hier die obersten Lokalbeamten einen niedrigern Rang haben und weniger Bedrückungen wagen können, oft mehr in Flor sind als große und durch ihre Lage im Handel und Verkehr begünstigtere, die von den höheren Beamten auf das empörendste gebrandschatzt werden.
Zu den guten Beamten zählt, wer in seiner Habgier die Geduld der Bevölkerung nicht erschöpft und die Aufmerksamkeit der Hauptstadt nicht auf sich zieht; kommt es aber zu Klagen, so hat die Untersuchung den Fall, ja sogar den Tod des Beamten zur Folge, selbst wenn die erpressten Summen teilweise in den Staatsschatz flossen und er an diesen weit höhere Summen abgab, als er verpflichtet war, denn die mächtigen Tribunale wollen, wie jeder Chinese, nicht gestört werden. Der Mandarin hat vielleicht eine gebieterische Pflicht erfüllt, als er die Unzufriedenheit des Volks erregte; dies kümmert die Regierung nicht es wird ihm zum Verbrechen angerechnet, dass er es zu Klagen hat kommen lassen; ein unpolitischer Beamter passt nicht in das chinesische Verwaltungssystem.
Dem Volk, dem bedrückten Einzelnen muss die Entfernung seines willkürlichen
Beamten als Sühne genügen; eine Abstellung des Missbrauchs, die Remedur einer
Ungerechtigkeit im Instanzenweg findet nicht statt; der Anzeiger leidet nur zu
leicht unter dem Hass des Nachfolgers, nur in den schreiendsten Fällen ist
deshalb Klage zu fürchten. Höchst schwierig wird die Stellung des Mandarins in
Zeiten allgemeiner Landplagen; er wird für Überschwemmungen, Hungersnot usw.
verantwortlich gemacht, auch wenn die Abwendung des Naturereignisses außerhalb
seiner Macht lag; schon mancher Beamte verlor hierdurch seine Stelle. ![]()