Offener Brief an den Herausgeber der »North China Daily News«

Gu Hongming (Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, 1917)

Übersetzt von Richard Wilhelm

Die Artikel und Notizen, die in der North China Daily News 29 über die traurigen Ereignisse, von denen China kürzlich betroffen wurde, erschienen sind, waren, wie es mir scheint, so unsympathisch und in Sachen Ihrer Majestät, der verstorbenen Kaiserin-Witwe so feindselig und scharf, dass ich mich gezwungen sehe, dagegen Einspruch zu erheben. Ein Professor der Naturwissenschaft, der eine interessante Art irgend eines wilden Tieres beschreibt, hätte nicht gefühlloser schreiben können, als Sie in Ihrem Überblick über das Leben und die Laufbahn der verstorbenen Kaiserin-Witwe. Ich habe hier nicht den Wunsch, Ihr Recht zu bestreiten, sich eine Meinung über ihren Charakter zu bilden und auszusprechen; was ich bedaure ist der Ton in Ihrem Artikel. Ich möchte fragen: Ist es für eine in China erscheinende fremde Zeitung schicklich, zu einer Zeit, in der die ganze Nation in Trauer ist, unbegründeten Klatsch von Grausamkeiten, Mord und Abscheulichkeiten über die hohe Frau zu veröffentlichen, die noch vor wenigen Tagen die erste Dame des Landes war, in dem Fremde als bevorrechtete Gäste wohnen? Ich habe nicht den Wunsch, mit Ihnen über den wirklichen Charakter der verstorbenen Kaiserin-Witwe zu disputieren. Meine eigene wohl erwogene Meinung über dieses Thema habe ich schon in einem bescheidenen Schriftchen zum Ausdruck gebracht, das Sie freundlicher Weise Ihren Lesern empfohlen haben.

Solchen Fremden, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass die verstorbene Kaiserin-Witwe eine ehrgeizige, schlechte, grausame Frau war, habe ich nichts zu sagen, als ihnen mit mitleidigem Bedauern die Worte des Evangeliums zuzurufen: Ihr werdet sterben in euren Sünden. Aber anderen Fremden, die sich das noch nicht in den Kopf gesetzt haben, möchte ich mit Ihrer Erlaubnis einige Betrachtungen unterbreiten, die sie in den Stand setzen, sich eine gerechtere Meinung von ihrem Charakter zu bilden.

Das erste, was ich sagen will, ist, dass das beherrschende Motiv in dem Leben der verstorbenen Kaiserin-Witwe nicht gemeiner Ehrgeiz war, der überhaupt niemals das Lebensmotiv einer bedeutenden Gestalt in der Geschichte war. CARLYLE sagt über Ehrgeiz in Beziehung auf CROMWELL: »Die Bedienten in

ihrer knechtischen Unterwürfigkeit denken, was für ein feines Ding es doch sei, wenn jeden Tag Menschen mit rotgeschnürten Papierbündeln zu einem kommen. Die Kaiserin «Witwe von China hatte außerdem das Vergnügen, von Menschen mit rot oder gelb verschnürten Papierbündeln gestört zu werden, durch die »Verwirklichung ihres Ehrgeizes« noch den besonderen Vorzug, Sommer und Winter jeden Tag um halb fünf Uhr morgens30 aufstehen zu müssen. Dabei hatte sie nicht einmal wie eine New Yorker Gesellschaftsdame die Genugtuung, ihren Namen ausposaunt und ihre üppigen Gastmähler in hundert Morgenblättern beschrieben zu sehen. Eine Frau, welche unter solchen Anstrengungen und mit solch ärmlicher Belohnung ehrgeizig sein wollte, müsste eine ganz besonders gemeine und dumme Frau sein.

Nun, wenn nicht Ehrgeiz, was war dann das beherrschende Motiv in ihrem Leben? Um auf diese Frage zu antworten, lassen sie mich eine Szene be schreiben, die mir ein Freund erzählt hat. Es war gerade vor Ausbruch des Französisch-Chinesischen Krieges, als die verstorbene Kaiserin-Witwe, die bisher immer Li Hongzhang Partei ergriffen hatte, der unter allen Umständen Frieden wollte, von dem französischen Bombardement des Arsenals in Fuzhou hörte. Sofort befahl sie sämtlichen Staatsministern, sich bei ihr einzufinden. Die Minister erklärten sich alle wie ein Mann für den Krieg. Die Kaiserin-Witwe deutete auf den damals noch knabenhaften Kaiser und sagte zu den Ministern: »Wenn euer Kaiser hier zum Mann erwachsen ist, und ich tot bin, so mag er, wenn er will, das Erbe seiner Vorfahren wegwerfen. Aber solange ich lebe, werde ich es nicht zugeben, dass man sagt, eine Frau habe das Erbe ihrer Vorfahren weggeworfen, das ihr zur Aufbewahrung für den kleinen Knaben anvertraut war«.

Dies nun, sage ich, war das herrschende Motiv im Leben der verstorbenen Kaiserin-Witwe: sich früh und spät der Aufgabe hinzugeben, das kaiserliche Erbe des Hauses, das ihrer Obhut anvertraut war, so unberührt und unvermindert wie möglich zu erhalten. Nach den Sittenregeln in China ist die Hauptpflicht einer Frau nicht die, nur für ihren Mann zu leben, ihre wichtigste Pflicht ist, für den Namen und das Erbe der Familie Sorge zu tragen. Ich sage daher, dass das beherrschende Gefühl indem Leben der verstorbenen Kaiserin-Witwe eine aufrichtige Unterwerfung war unter die wichtigste Pflicht, die einer Frau nach der Sittenlehre in China zukommt. Wenn sie auf ihrem Totenbett, nach fünfzig Jahren ihres Matriarchats, die Genugtuung hatte, in ihrem Abschieds-Erlass sagen zu können: »Wir haben uns des Vertrauens, das in uns gesetzt wurde, nicht unwürdig gezeigt«, so war das keine leere Prahlerei. Die höchste Form kindlicher Liebe, nach Konfuzius, ist, das unvollendete Werk unserer Vorfahren zu vollenden und seine Vollendung den Nachkommen zu übermitteln, und das hat die verstorbene Kaiserin-Witwe getan. Das beherrschende Motiv ihres Lebens war nicht Ehrgeiz, sondern Pflichtgefühl.

Das nächste, wovon ich sprechen möchte, sind ihre Fähigkeiten. Die geistige Größe der verstorbenen Kaiserin-Witwe bestand darin, dass sie es verstand, nicht ihrer eigenen Klugheit zu vertrauen, sondern sich die Fähigkeiten anderer Leute zunutze zu machen. Inder Abhandlung über höhere Bildung (den Fremden als »Große Lehre« bekannt) ist der ideale Staatsmann so beschrieben: »Gib mir«, sagte der Herzog von Qin, »einen schlichten und einfachen Mann als meinen Minister, der durchaus keine anderen Eigenschaften hat als ein freies, offenes Gemüt und einen weiten und umfassenden Geist, der die Fähigkeiten anderer so am sieht, als ob er sie selbst besäße und entzückt ist über die größere Einsicht anderer, wie wenn sie seine eigene wäre. Ein Mann, der einen so umfassenden Geist und ein so selbstloses Gemüt hat, wird fähig sein, meine Landeskinder zu beschützen, und noch weitere Wohltaten können von solch einem Mann erhofft werden«.

Gerade darin lag nun das Geheimnis des Erfolgs, den die verstorbene Kaiserin-Witwe durch ihre geschickte Art Politik zu treiben erreichte: in der Weitherzigkeit ihres Geistes und in der Selbstlosigkeit ihres Gemüts. Sie war nie autokratisch in dem Sinn von voluntas regis, suprema lex. Bei ihr war es immer judicium in concilio regis, suprema lex; das oberste Gesetz war die vereinigte Weisheit ihrer Räte. In der Tat lag während der 50 Jahre ihrer Regierung die Leitung des Staates nicht in den Händen eines einzelnen, sondern in den Händen eines Rats mit ihr an der Spitze. Ihre Tätigkeit war mehr mildernd, regelnd und anregend, als führend.

Alles in allem: die Größe ihrer Intelligenz liegt in ihrer Charakterstärke.

Und nun will ich von ihrem Geschmack reden. Die einfache Antwort auf die übertriebenen Geschichten von üppigen Gastmählern und der sprichwörtlichen Prachtentfaltung nach Art der orientalischen Herrscher ist, dass die verstorbene Kaiserin-Witwe eine Dame von auserwähltem und vollkommenem Geschmack war. Jemand mit wirklich künstlerischem Geschmack wird im Essen niemals unmäßig sein und wird sich nie mit prächtigem Schmuck überladen. Ein künstlerischer Geschmack übt strengere Zucht als alle Vor« Schriften und Regeln der Religion gegen geschmacklose Verschwendung und prächtigen Schmuck. Ich war selbst im Sommerpalast, habe ihre Wohngemächer gesehen und sogar von ihren Speisen gekostet. Nach dem, was ich im Palast sah und hörte, kann man sie zu den Anhängern einer einfachen Lebensführung rechnen. Das einzige, was ich in ihren Räumen sah und was man als üppigen Schmuck bezeichnen könnte, waren Pyramiden von rotbackigen Äpfeln. Von den Leuten im Palast wurde mir gesagt, dass der einzige Luxus, den sie sich gestatte, das Pflanzen und Züchten von Päonien sei. Ich bemerke hier beiläufig, dass das aufgeschlagene Buch, das auf ihrem Tisch lag, eine neukommentierte Ausgabe des Shujing war, des konfuzianischen Kanon der Geschichte, enthaltend die Maximen der Weisen Chinas über die Regierung. Als ich den Palast besuchte, war die Kaiserin-Witwe in ihrem neunundsechzigsten Jahre; trotzdem war sie noch bestrebt zu lernen, wie man das Volk gut regiert.

Es ist wahr, dass der Bau des Sommerpalastes in aller nur erdenklichen Schönheit eine große Summe Geldes gekostet hat. Mais, en rendant son peuple heureux, il faut bien qu'un roi vive.

Außerdem mag daran erinnert werden, dass, als die verstorbene Kaiserin-Witwe anfing, Geld auszugeben,

um ihren Palast zu bauen, sie schon hart gearbeitet und es verdient hatte. Nach dreißigjähriger, sorgenvoller

Arbeit an der Umgestaltung Chinas, das nach dem Taiping-Aufstand von Anarchie und Elend heimgesucht war, in dem verhältnismäßig blühenden Zustand, in dem es sich befand als sie die Zügel der Regierung ihrem Neffen übergab: war es da eine so außerordentliche Sache, von ihrem Volk—dem Volk des großen Chinesischen Reichs — zu verlangen, für seine Kaiserin ein würdiges Heim zu bauen, in dem sie den Rest ihrer Tage verbringen

konnte? Ich sagte es einmal Sir ROBERT HART ins Gesicht, als er und DR. MORRISON sich ausließen über die Verschwendung der Kaiserin-Witwe: dass meiner Meinung nach, er, Sir ROBERT HART, mit seiner eigenen Musikkapelle im Verhältnis zu seiner Stellung ein weit mehr verschwenderisches Leben führe.

Zuletzt will ich noch über ihre Familienverhältnisse reden. Gegen Ihre unbeglaubigte Anspielung auf den geheimnisvollen Tod ihres eigenen Sohns, des Kaisers Tongzhi und die kaum zu bestreitende Tatsache, dass die Kaiserin« Witwe für den Tod der Kaiserin AHLUTE verantwortlich zu machen ist, will ich im Namen Ihrer Kaiserlichen Majestät mit den Worten der unglücklichen Marie Antoinette antworten, die, als ahn« liehe grässliche Anklagen gegen sie erhoben wurden, ruhig erwiderte: »Ich berufe mich auf alle Mütter in der Welt«. Die Geschichten von der »bitteren Winter« nacht«, und der dramatische Zusatz »das Kind weinte« können leicht als bloße Mythen nachgewiesen werden. Denn, wenn es wahr wäre, dass ein Komplott bestanden hätte, um den Sohn des Prinzen Gong auf den Thron zu erheben, dann möchte ich doch wirklich fragen, wie es möglich war, dass der alte Prinz Gong, lange nach dem Regierungsantritt des letzten Kaisers Guangxu, noch in hoher Gunst stand. Wenn ein solches Komplott bestanden hätte, würde der Sohn des alten Prinzen Gong jetzt nicht so lebensfroh mit den Füßen strampeln, wie ich es im vorigen Jahre sah.

Schließlich möchte ich noch ein paar Worte sagen über ihre Beziehungen zu ihrem Neffen, dem verstorbenen Kaiser Guangxu. Man hat ihr vorgeworfen, dass sie, als ihr Sohn gestorben war, anstatt der Nachfolge ihren richtigen Lauf zu lassen, einen unmündigen Knaben derselben Generation32 wie ihr Sohn adoptierte, weil sie aus Ehrgeiz die Macht nicht aus der Hand geben wollte. War ihre Handlungsweise unrecht? Man erinnere sich, dass das China von damals, ebenso wie das von heute, einzig und allein ihr Werk war. Als sie aufgefordert wurde, das kaiserliche Erbe anzutreten, war das Chinesische Reich nicht nur ein Durcheinander von Anarchie, Chaos und Elend, sondern es war beinahe verloren für das kaiserliche Haus. Nach über zwanzig Jahren harter Arbeit hatte sie nicht nur den Besitz des kaiserlichen Erbes vollständig wieder hergestellt, sondern hat China aus Anarchie, Chaos und Elend in ein geordnetes, gut geleitetes, ja selbst blühendes Staatswesen umgewandelt. Glauben Sie, es wäre richtiger gewesen, wenn sie mit offenen Augen der Gefahr sich ausgesetzt hätte, ihre Arbeit von zwanzig Jahren ausgelöscht zu sehen und das kaiserliche Erbe wieder zerstört und zertrümmert und vielleicht für immer verloren zu wissen? Nein — sie hatte ein zu starkes Gefühl für die Pflicht einer chinesischen Frau, für den Namen und das Erbe der Familie Sorge zu tragen. Und es war auch dieses große Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühl, das sie so ärgerlich gegen ihren Neffen, den verstorbenen Kaiser Guangxu machte. Ihr Ärger war nicht die Folge persönlichen Hasses; er entsprang ihrem Pflichtgefühl. Sie setzte ihr ganzes Leben dafür ein, um das Erbe ihrer Vorfahren zu erhalten und hatte ihn in der Hoffnung erwählt, dass er des von ihr gebrachten Opfers würdig sei. Aber er hat nicht nur ihre Hoffnungen enttäuscht, sondern sogar die Schuld auf sich geladen, leichtfertig einen Versuch zu unternehmen, durch den ihr Werk zerstört und das Erbe weggeworfen worden wäre. Sie hat während dieser letzten Jahre bis zum äußersten Augenblick noch trotz aller Hoffnungslosigkeit gehofft, dass er sich ihrer Wahl würdig zeigen werde. Aber als sie ihn tot sah, ihn den erwählten Pflegesohn ihrer ersten Witwenzeit, auf welchen sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatte: tot noch vor ihr - da erlosch ihr Lebenslicht. Das arme unglückliche Kind war tot, was konnte die noch unglücklichere Mutter tun, als ihm sofort ins Grab zu folgen.