Eugen Wolf (Im Innern Chinas, 1896)
Dem chinesischen Auswärtigen Amt stattete ich in Begleitung unsers Gesandten einen Besuch ab: Der Herr Gesandte machte dem Auswärtigen Amte schriftliche Mitteilung, dass er bei seinem nächsten Besuche beabsichtige, den Reisenden Wu-Li-Fu vorzustellen; ich packte den schon ad acta gelegten Bratenrock wieder aus, ließ mir eine grüne Sänfte, welche von acht Mann, die sich alle paar Minuten ablösen, getragen wird und zu der ein Vorreiter gehört, besorgen und gondelte in derselben hinter dem Herrn Gesandten und seinem ersten Dolmetscher, also hinter zwei grünen Sänften mit zwei in blaue Seide gekleideten Vorreitern Tsungli-Yamen-wärts. Es fror an jenem Nachmittage, Sonnabend den 5. Dezember 1896, abscheulich, eine Sänfte ist meiner Ansicht nach nicht nur ein recht unsanftes Transportmittel, sondern auch wenig geeignet, Eisbeine wieder warm zu kriegen. Sobald man die durch Unrat von allen Strassen Pekings am wenigsten repulsiv erscheinende und schlecht riechende Legationsstrasse, so genannt, weil der größte Teil der Gesandtschaften daselbst angesiedelt ist, verlässt, um in die engeren Seitenstrassen und Gässchen Pekings einzubiegen, muss man das Taschentuch vor Mund und Nase halten. Man bewegt sich innerhalb einer Doppelallee von Unrat, zusammengesetzt aus menschlichen und tierischen Exkrementen, toten Hunden, Katzen, Ratten und Mäusen, verfaulenden Fischüberresten und Kohlstrünken, vermischt mit Straßenkot, von aus den Wohnungen auf die Strasse geschütteten Aschenüberresten, ekelerregenden Fetzen alter Kleider, Sandalensohlen, auch sonstigen Toiletten-ruderas allerintimster Natur. Darin kratzen die herrenlosen Hunde Pekings herum, vergeblich nach Nahrung schnuppernd, auch die außergewöhnlich schweinischen chinesischen Schweine wühlen mit ihren unappetitlichen Rüsseln, die noch hässlicher gestaltet sind, wie die der bekannten Trüffel suchenden Schweine in den Departements Perigord und Vaucluse in Frankreich, in diesen gärenden, fäulnisstrotzenden, durch den bloßen Anblick zum Erbrechen reizenden Haufen herum. Dasselbe Straßenbild vom Thore der deutschen Gesandtschaft bis an die Eingangstüren des chinesischen Auswärtigen Amtes.
Während ich dies niederschreibe, überlege ich mir bei jedem Worte, ob ich den Zustand der Strassen auch nicht übertreibe, ob ich nicht zu schwarz sehe, und ich komme zu der Überzeugung, dass meine Beschreibung auch lange nicht annähernd den Zustand schildert, in welchem sich die Strassen der Hauptstadt des Reiches der Mitte befinden. Selbst die wildesten der Volksstämme, die ich auf dem Erdenrunde kennen gelernt habe, sogar die Patagonier und die Feuerländer Südamerikas, die Wagogos und Massais Afrikas, die menschenfressenden Baseses Zentralafrikas, unter welchen ich verkehrt habe, halten die Zugänge und Strassen ihrer Dörfer, die Umgegend ihrer Kraals auch während ihrer Wanderzüge reinlicher, als die Chinesen es in Peking tun. Vor so und so vielen hundert Jahren soll Peking einmal kanalisiert und eine reinliche Stadt gewesen sein, doch jetzt: Kloake rechts, Kloake links, wo man auch hinschaut, nur Kloake!
Durch mehrere enge Höfchen und schmale Türen, die es nicht verraten, dass hinter denselben "die guten Beziehungen Chinas zu den auswärtigen Mächten gepflogen werden", windet man sich bald rechts, bald links im Gänsemarsch hindurch, um an den Stufen, die von den Empfangsräumen aus nach dem Vorhofe hinabführen, von den Mitgliedern des Auswärtigen Amtes, soweit sie sich heute eingestellt haben, empfangen zu werden.
Alte Herren, in seltenste, hochteure Pelze eingehüllt, Pelzmützen auf dem Haupte, steigen langsam, gravitätisch, ernst die Stufen herab, heben die beiden Fäuste hoch, legen sie aneinander und schütteln sie etwa in der Höhe ihrer Nasenspitze. Das ist die chinesische Etikette, der chinesische Gruß. Ebenso langsam drehen sie vor uns um und kehren, ohne uns den Rücken zuzuwenden, denn das wäre ganz gegen jede Etikette, zu unsrer Linken, denn die rechte Seite wird stets dem Gaste überlassen, nach dem Eingange der Vorhalle zurück, von wo sie sich durch eine links liegende Tür in den eigentlichen Empfangssaal begeben, während die Europäer ä tempo durch eine rechts liegende Tür denselben Saal erreichen. Eine Sekunde früher oder später einzutreten, wäre für beide Teile ein Verstoß gegen die Etikette.
Die Vorhalle, deren Längsseite nur aus dünnen Glasscheiben, in schmale Rahmen eingekittet, im übrigen aber nur aus Türen bestellt, war eisig kalt; inmitten derselben brannte in meterhohem Messingbecken ein kleines Holzkohlenfeuer; damit sollte der Beweis geliefert werden, dass das Lokal geheizt sei. Der Schein, dass auf die Europäer, die nicht wie die Chinesen im Winter sechs bis acht Kleidungsstücke übereinander anziehen und demnach ein merkliches Bedürfnis für künstliche Wärme empfinden, Rücksicht genommen sei, war gewahrt.
Es hat sich unter den an der Küste Chinas lebenden Europäern für den Verkehr mit Chinesen eine besondere Sprache herausgebildet, das Pidgeon-(Pidjin-, Pidjon-) Englisch, vielleicht von Business-Englisch abgeleitet, das jeder Fremde, der längere Zeit an der Küste verkehren will, erlernen muss, will er sich seinen Dienern, Beamten oder Arbeitern verständlich machen. Ein Ausdruck in dieser Pidjinsprache heisst, Show-Pidjin, den man mit Scheingeschäft, Scheingetue, Scheineffekt, Schöntuerei, sich den Anstrich geben, Schönmimerei, Effekthascherei oder ähnlichem auf deutsch übersetzen kann. "Humbug" ist wohl die bezeichnendste Übersetzung für Show-Pidjin.
Unter vielen Verbeugungen begaben sich die Mitglieder des Auswärtigen Amtes, seitwärts und rückwärts trippelnd, zur Linken einer großen Tafel; die Europäer - inzwischen kam noch ein zweiter deutscher Dolmetscher hinzu, so dass wir zu vieren waren - zur rechten der Tafel an die mit kerzengeraden Lehnen versehenen unbequemen chinesischen Armsessel. Man ließ sich an der gedeckten Tafel nieder. Der Empfang von Europäern findet an gedeckter Tafel statt, so schreibt es die chinesische Gastfreundschaft vor. Auf dem Tische stand eine Auswahl chinesischen Backwerkes, deutscher Cakes, amerikanischer Candies, französischer Fondants, sogar Birnen, Äpfel, Nüsse, Erdnüsse, Zigaretten, alles niedlich auf kleinen Tellerchen aufgebaut. Vor jedem Sitze lagen Teller, Messer und Gabeln, auch ein chinesisches Essbesteck, aus zwei Elfenbeinstäbchen bestehend; Diener brachten heißen Reiswein (Samshu), der in Näpfchen, etwas größer wie ein Fingerhut, serviert wurde, ferner Tee; es wurden Zigaretten angezündet, die Chinesen zündeten ihre Wasserpfeifen an, die in drei Zügen ausgeraucht und von neuem gefüllt wurden. Nach diesem hors d'oeuvre, welches jedem Gesandten serviert wird, und das dem Major Domus des Auswärtigen Amtes ein Vermögen einbringt, da er, wie mir gesagt wurde, den Kostenpreis ungefähr hundertfach in Anschlag bringt, begann die Unterhaltung mit der Vorstellung meiner Person und den gegenseitigen Fragen nach Gesundheit.
Der deutsche Gesandte, Baron v. Heyking, hatte zur Linken des heutigen Vorsitzenden Platz genommen. Es war dies Prinz Ching, ein naher Verwandter des Kaisers. Prinz Ching ist der zweite Chef des Tsungli-Yamen (der erste Chef ist Prinz Kung), er ist ferner Chef des Kriegsrates, Kommandant der Pekinger Feldtruppen, Großkammerherr in unmittelbarster Nähe des Kaisers und besitzt noch ein weiteres halbes Dutzend hoher Titel; er ist ein magerer, kleiner, feiner sechzigjähriger Dandy mit schwarzem, wohlgepflegtem Schnurrbärtchen, ergrautem Haar. Ein maliziös-diplomatisch-süsssauer-verbindliches Lächeln umzieht die Mundwinkel. Der Prinz scheint in jüngeren Jahren ein größer Don Jüan gewesen zu sein, sagt zu allem recht freundlich: Ja, jawohl, ganz gewiss, natürlich, selbstredend, zweifellos, und meint dabei, wie in seinen Zügen geschrieben steht, das Gegenteil.
Zu seiner Rechten sitzt Ching-Hsin, der mandschurische Präsident des Finanzministeriums, mit militärischem Schnurrund Knebelbart, hinter welchen er sich schweigend, innerlich knurrend und murrend, äußerlich nichtssagend zurückzieht.
Rechts von Ching-Hsin schweigt Weng-Tung-Ho, der eisbärtige Lehrer des Kaisers, der Seiner Majestät des Vormittags zwischen drei und vier Uhr Staatswissenschaftslehre (!) vorträgt, daher der Ehre teilhaftig ist, des Nachts um zwei Uhr sein Bett verlassen zu dürfen. Neben dieser hochwichtigen Stellung, einer der unmittelbaren Berater des Kaisers zu sein - er soll eine der einflussreichsten Persönlichkeiten bei Hofe sein -, bekleidet er noch folgende Posten: Chinesischer Präsident des Finanzministeriums, Mitglied des Kriegsrates, Mitglied des Staatsrates und so weiter. Er gehört unstreitig der alten konservativen, europäerfeindlichen Garde an. Auf den ersten Blick sieht man ihm an, dass er mit zu denjenigen Geistern gehören muss, die stets verneinen. Er lässt es stumm und starr über sich ergehen, dass es das europäische Konzert von China erzwungen hat, "fremde Teufel" zu empfangen. Wie wenig ihm daran gelegen sein mag, seinen allerhöchsten Herrn für europäische Ideen und Einrichtungen empfänglich zu machen, geht daraus hervor, dass er noch vor einem Jahre nicht an die Existenz des Telegraphen glauben wollte. Er äußerte sich dahin, das seien doch nur Scherze oder Teufelsspuke seitens der Europäer; sie hängen einen Draht auf, um glauben zu machen, man könne Briefe damit befördern, solche Bären lasse er sich nicht aufbinden. Die schnellste Nachrichtenverbindung sei nur vermittelst Pferden möglich, das wisse er doch am besten. Es nehme mehrere Monate Zeit in Anspruch, bis er von seiner Familie, welche zur Zeit in der und der Provinz wohne, Nachrichten haben könne. Der sich mit dem Lehrer Seiner Majestät über Telegraphie unterhaltende Europäer versicherte Weng-Tung-Ho, dass er noch am gleichen Tage Nachricht über das Befinden seiner Angehörigen haben könne, wenn er nur ein Telegramm aufsetzen wolle, was Weng-Tung-Ho auch tat. Nach wenigen Stunden kam die Nachricht an Weng-Tung-Ho, seine Großmutter atme jetzt regelmäßig, sein Sohn hätte sich wieder wie ein Schwein betrunken, die Tochter betrage sich immer noch unmoralisch, und seine Frau verdiene viel Geld. "Dann muss es wirklich einen Telegraphen geben," habe Weng-Tung-Ho ausgerufen, "denn ich erkenne ganz genau meine Familie, es ist alles richtig, was in der Antwort steht!"
Der Nachbar zur Hechten des Lehrers Seiner Majestät heißt Wu-Ting-Fen, Vizepräsident des Ministeriums des Inneren. Glatt rasiert oder bartlos, mit vielen Falten im gesundfarbigen Gesicht, der Typus eines reichen Bauern, der in die Stadt gezogen ist und seinen guten Magen nun ausnutzen will. Er kümmert sich überhaupt nicht um das Sitzungsprotokoll des Auswärtigen Amtes, er schaut auch dann nicht von seinem Teller auf, wenn der Herr Gesandte eine ganz wichtige Sache aufs Tapet bringt. Der Major Domus scheint den Gerbergesellenappetit des Vizepräsidenten des Ministeriums des Innern, vielmehr das Innere des Herrn Vizepräsidenten genau zu kennen, denn vor seinem Platze stehen vier aufgehäufte Teller, einer mit geschälten, in Scheiben geschnittenen Birnen, einer mit Äpfeln, einer mit Erdnüssen und einer mit Backwerk. Während einer geschlagenen Stunde aß Wu-Ting-Fen bald von dem einen, bald von dem ändern Teller, indem er abwechselnd die Gabel und die Elfenbeinstäbchen in Bewegung setzte. Ruhten seine Kauwerkzeuge, so war es nur, um goldgelben chinesischen Schnupftabak in die breiten Nasenlöcher zu schießen. Vielleicht hat er sich sein Teil gedacht, während er die Speisen untergebracht hat.
Zur Rechten des Mannes, der den meisten "Genuss" von den Sitzungen des Auswärtigen Amtes hat, saß Chang-Yin-Huan, Vizepräsident des Finanzministeriums, früher Gesandter in Amerika, ein reichbegüterter Mann. Von den fünf Mitgliedern des Auswärtigen Amtes, die zugegen waren, machte er den günstigsten Eindruck, den Eindruck eines hochintelligenten, feinen Diplomaten, eines chinesischen Gentleman, liebenswürdig in der Form, kavaliermäßig im Auftreten, jedenfalls für die fremden Gesandten der angenehmste im Verkehr.
Die ganze Unterhaltung bewegte sich eigentlich zwischen ihm und unserm Gesandten. In zweiter Linie wäre Prinz Qing zu nennen, der sich mitunter mit knappen Worten und schneller Körperwendung unter Drehung des Halses mit einem "Ja" oder "Nein", ähnlich den lebensgroßen Puppen eines guten Bauchrednerpuppentheaters, an der Diskussion beteiligte. Die übrigen Herren waren stumm wie das Grab, sie saßen und aßen, tranken Tee und rauchten wie die Schlote.
Es ging im Laufe des Gespräches etwas hoch her - unser Gesandter nimmt nämlich kein Blatt vor den Mund - und wenn Chang-Yin-Huan sich genötigt sah, darüber abstimmen zu lassen, dass die guten Beziehungen zu Deutschland trotz so und so und so und so noch dieselben seien, so bewegten sich die Oberkörper der Herren Mandarinen langsam, ruckweise vornüber, ebenso langsam und gravitätisch zurück, und man vernahm von allen, mit Ausnahme von Wu-Ting-Fen, der die Backentaschen mit Birnenschnitzen vollgepfropft hatte wie ein Hamster, einige unverständliche Laute, es mögen wohl Beifalls- oder Zustimmungslaute gewesen sein, so wenigstens, glaube ich, dürften die Herren Gesandten ihren Regierungen berichten. Mir schien es allerdings, als ob es durch die gelben Pergamentgesichter wie ein "Bleiben Sie uns gewogen" schösse. Da ich kein Diplomat bin, irre ich mich jedenfalls.
Nach und nach wurde die Sache etwas weniger zeremoniell, beinahe gemütlich, für die Väter des Volkes wenigstens. Einer der Herren schnäuzte abwechselnd den linken und den rechten Nasenflügel mit einer halben Wendung nach rechts oder nach links und mit derjenigen Geschicklichkeit, mit welcher zwanzig amerikanische Loafers in einen und denselben Spucknapf, der im Zentrum eines großen Hotelrauchzimmers steht, operieren. Ein Taschentuch wurde dabei nicht in Mitleidenschaft gezogen. Prinz Qing rauchte sicher zwanzig Pfeifen (ein wenig Tabak, zu einer erbsengroßen Kugel gedreht, wird in drei Zügen ausgeraucht), wobei er den Pfeifenkopf mit dem Reste der Asche jedesmal in der geraden Richtung auf die rechte Paletottasche unsers Gesandten mit einem recht hörbaren "Pfff" ausblies. Wu-Ting-Fen priste Schnupftabak; er verursachte dabei dasselbe Geräusch wie ein mit Nasenpolypen behafteter, an starkem Nasenkatarrh leidender Patient, der Salzwasser, Alaun oder sonst was Gutes auf Empfehlung seines Nasendoktors in die Nasenhöhlen aufzuziehen bemüht ist. Dass nach allen Seiten hin kräftig ausgespuckt wurde, dass der Vizepräsident des Ministeriums des Inneren sich mit dem Munde mitunter so unanständig betrug, dass es nur so schallte, war der Beleg dafür, dass es ihm geschmeckt hatte, eine "mündliche" Quittung, die jeder chinesische Gast seinem chinesischen Gastgeber leisten muss, wenn er den Beweis nicht schuldig bleiben will, dass er wohlerzogen ist, wie ich nur so en passant erwähne. Am meisten setzte mich Weng-Tung-Ho, der Lehrer Seiner Majestät, in Erstaunen. Er nahm eines der kleinen Papierserviettchen, die neben den Tellern lagen, nach dem ändern, drehte sie in recht zierliche Trichterchen und steckte sich einen solchen Trichter in ein Nasenloch, bis derselbe - horribile dictu - einen solchen Grad von Feuchtigkeit erlangt hatte, dass er notgedrungen durch einen trockenen Trichter ersetzt werden musste. Ich musste mich recht ernst zusammennehmen, um nicht durch Ausbruch eines Lachkrampfes plötzlich ein Loch in die guten Beziehungen beider Länder zu reißen, aber den guten Präsidenten des Finanzministeriums sehe ich noch mit der Papiertüte in der Nase dem Vortrage des deutschen Gesandten lauschen.
An einem Nebentische saßen zwei Leute, die fortwährend schrieben, so dass man annehmen darf, dass alles, was die Europäer sagen, sofort zu Papier gebracht wird. Ich kann aus diesem Grunde auch ruhig davon absehen, das, was der Herr Gesandte dem Tsungli-Yamen zu sagen hatte, hier zu veröffentlichen, es sind dies nicht meine Rosinen, aber ich darf wohl, ohne einer Indiskretion geziehen zu werden oder der hohen Protektion des chinesischen Auswärtigen Amtes verlustig zu gehen, verraten, dass die chinesischen Würdenträger sich den Wortlaut der Äußerungen des Herrn v. Heyking nicht vor den Spiegel gesteckt haben werden. Das ganze Verfahren beim chinesischen Auswärtigen Amt ist durchaus ein öffentliches zu nennen. Der Gesandte, dem daran gelegen sein sollte, zu wissen, was sein geehrter Herr Kollege vor einer halben Stunde bei dem Tsungli-Yamen erreicht oder nicht erreicht hat, kann es sehr bald haarklein mit beinahe stenographischer Zuverlässigkeit erfahren. Er braucht nur in die Hosentasche zu greifen, vorausgesetzt, dass sie das notwendige Kleingeld enthält.
Feuerschürer mit großer Zange, geschäftig ein kleines Stückchen Holzkohle auf das Theaterfeuerchen legend, kommen und gehen, Diener räumen Teetassen und Teller ab, andre stellen wieder heißen Tee und andre Teller hin, Pfeifenstopfer, Pfeifenanzünder wandern auf und nieder, sozusagen hinter jedem Stuhle trippelt lautlos und wichtigthuend ein Yamenbeamter hin und her. Sollte der russische Gesandte vor dem Tsungli-Yamen in Peking eine Kriegserklärung abgeben (damit will ich nicht vorgegriffen haben), so kann das Foreign Office in London Kenntnis davon haben, noch ehe man sich in Petersburg davon träumen lässt. Ein Yamenrunner, ein berittener Diener außerhalb des Yamens, und 20 bis 100 Taels Silber, das Ganze wird gemischt, und das Rezept, vielmehr das Telegramm, ist fertig.
Eine Angelegenheit, die bei meinem Besuche verhandelt wurde, hat mir besonders viel Spaß gemacht, und ich will sie erzählen, selbst auf die Gefahr hin, dass mir der Tsungli-Yamen in Peking seine hohe Protektion entzieht. Die chinesische Artillerie in Futschau oder Nanking hatte Kruppsche Hinterlader allerneuesten Systems bezogen, und ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass Krupp in Essen weder "Bazarware" noch Reste, um damit zu räumen, auf Lager hält. Genug, die herrlichen Geschütze kamen an, hoffentlich erst, nachdem sie bezahlt waren, und gelangten in die Hände der chinesischen Artilleristen. Das Anerbieten deutscher, in chinesischen Diensten befindlicher Offiziere, den chinesischen Artillerieoffizieren die Handhabung der Kruppschen Kanonen zu zeigen, wurde abgelehnt. Die Chinesen hatten das Pulver ja lange vor uns erfunden. Aber was für welches! Anstatt europäisches Pulver, beziehungsweise europäische Geschosse zu verwenden, stopften sie das gute, sonst so geduldige, wenn auch brummige Geschütz mit chinesischem Pulver voll, das heißt sie zwängten oder keilten ein in China hergestelltes, mit chinesischem Pulver gefülltes Geschoss mit Gewalt in den guten Kruppschen Hinterlader. Das war ein saures Stück Arbeit; die guten Artilleristen setzten sich darauf zu mehreren Gläsern Samshu oder Reiswein hin, und nachdem sie ungefähr so viel im Trinken gethan (wie Krupp in Essen leisten kann, hätte ich beinahe gesagt), wie ein Mensch bei einem anständigen Richtfest leisten kann, wurde das erste Geschütz auf das Ziel gerichtet und losgefeuert. Doch siehe da, von der Kanone und den zehn oder zwölf Artilleristen waren nur noch Stückchen zu sehen. Darob ein Bericht nach Peking: die Kruppschen Kanonen taugten nichts, die Regierung sei betrogen, Herr Krupp solle gehängt werden und so weiter. Dem Herrn Gesandten war die Sache jedenfalls peinlich, er forderte seinerseits einen Bericht von einem sachverständigen Offizier ein, und er zog nun diesen Bericht, den er gerade empfangen hatte, bei Gelegenheit meines Besuches im Tsungli-Yamen brühwarm aus der Brusttasche seines Ministerpelzes. Denn davon hatten ja die Herren des Tsungli-Yamen in ihrer Beschwerde nichts erwähnt, dass die Geschütze, entgegen dem Anerbieten unsrer Offiziere, gleich beim erstenmal von Chinesen bedient worden waren, dass ein für das Rohr viel zu großes Geschoss gewaltsam eingekeilt worden war, und dass dieses Geschoss mit dem elendesten aller Schiesspulver, mit chinesischem, gefüllt gewesen. Da wurden denn die Gesichter der Herren Mitglieder des Auswärtigen Amtes lang und immer länger, ihr Ausdruck wurde bang und immer bänger, sie erklärten jeder einzeln laut und vernehmlich, dass die Kruppschen Geschütze die besten der Welt seien, dass China niemals bessere gehabt, noch jemals bessere haben könne, dass dies ja in der ganzen Welt bekannt sei, dass China Deutschland für diese Geschütze dankbar sein müsse, und dass es nur der Unkenntnis ihrer Offiziere und dem schlechten, ja dem sehr schlechten, so fügten der alte Ching-Hsin und Prinz Ching noch zweimal hinzu, chinesischen Pulver zu danken sei, dass solches Unglück passieren konnte. Das tat meinem Herzen wohl, und der Herr Gesandte - so schien es mir - war mit diesem öffentlichen Geständnis zufrieden gestellt. Im geheimen bedauerte ich, an jenem Tage kein kleines, aber mit deutschem Pulver geladenes Kruppsches Miniaturgeschütz in der Tasche gehabt zu haben. Da ich es nicht für ganz ausgeschlossen halte, dass Geschützfabrikanten andrer Nationen den in China mit Kruppschen Geschützen vorgekommenen Unfall auszubeuten versuchen werden, und da ich annehmen darf, dass die unsrer Industrie so feindliche fremde Presse dieses Vorkommnis in gehässiger Weise verwenden wird, nehme ich mir die Freiheit, als zufälliger Ohrenzeuge der Erklärungen des chinesischen Auswärtigen Amtes, diese Erklärungen der Öffentlichkeit zu übergeben.
Das Thema der Kruppschen Kanonen und ein weiteres Thema waren für die Herren Chinesen eine willkommene Gelegenheit, den - vergeblichen - Versuch zu machen, unsern Gesandten betreffs einer recht peinlichen diplomatischen Ungeschicklichkeit des Tsungli-Yamen, einer Sache, die keinesfalls von meiner Seite zuerst besprochen werden soll, zu besänftigen und irre zu führen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir der Beweis geliefert, ein Beweis, den ich jederzeit antreten kann, dass die Mitglieder des Auswärtigen Amtes ohne Ausnahme, wie sie da waren, sich nicht scheuten, dem Herrn Gesandten ganz direkt in das Gesicht hineinzulügen, eine Eigenschaft, die nach meinen mehrmonatlichen Erfahrungen in China hoch und niedrig angeboren ist.
Dem Fremden, den der Zufall mit den höchsten Beamten des chinesischen Reiches in Berührung bringt, müssen die Kontraste, die sich vor seinen Augen dartun, besonders auffallen. In kostbarste Pelze, Samt, Seide und Brokat eingehüllte, herrliche Edelsteine zur Schau tragende Männer nehmen auf Auktionskramsesseln Platz, unter welchen zerrissene alte Teppiche ausgebreitet liegen. Die Höflichkeit ihrer Manieren dem Fremden gegenüber, das ihrerseits peinlichst eingehaltene Zeremoniell beim Empfange und bei der Verabschiedung der Europäer kontrastiert seltsam gegen die Unmanierlichkeit, mit welcher sie es dem Fremden geradezu verleiden, an einem Tische mit ihnen zu sitzen, eine Unmanierlichkeit, die mir nahezu den Eindruck gemacht hat, als ob sie beabsichtigt sei. Der Brustton der Überzeugung, in welchem sie von den guten Beziehungen, von der großen Freundschaft zwischen zwei Nationen sprechen, nötigt zu einem inneren Hohnlächeln, wenn man bedenkt, wie im höchsten Grade Europa-feindlich die Mitglieder dieses Auswärtigen Amtes sind, derart, dass sie den Besuch der Europäer in ihrem Yamen nur dulden, weil er ihnen durch die Mächte aufgezwungen worden ist, sie daher nicht anders können. Schlauheit, Durchtriebenheit, Falschheit, Verlogenheit klingt aus jedem Worte heraus, leuchtet aus jedem Blicke. Dabei verstehen sie es, sich glatt wie Aale zu zeigen, den Gegner langsam, vorsichtig, tastend, durch ein Gewebe von Äußerlichkeiten, Liebenswürdigkeiten, scheinbarem Eingehen auf seine Wünsche zu umgarnen, niemals bedingungslos abzulehnen, sondern stets eine Einigung in nahe Aussicht zu stellen. Das französische Wort "amadouer" drückt am besten die Umgangspolitik der konservativen Chinesen der alten Schule mit dem Fremden aus.
Die Einrichtungen und Erfindungen Europas hasst der konservative chinesische Politiker, er verachtet sie innerlich, und mit Falschheit, Unaufrichtigkeit und gelegentlichem Sich-Anpassen an unvermeidliche Verhältnisse täuscht er uns Europäer über seine wahren Absichten hinweg. Meiner Meinung nach ist es dem Chinesen unmöglich, die Wahrheit zu sprechen, es ist ihm daher ebenso unmöglich, sie zu glauben.
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Was die Diplomaten des Tsungli-Yamen betrifft, so wird der passive Widerstand, den sie allen beabsichtigten Neuerungen entgegensetzen, fortdauern, solange das chinesische Auswärtige Amt in seiner jetzigen Zusammensetzung besteht. Doch der Schein, auf europäische Einrichtungen eingehen zu wollen, das gesamte chinesische Reich dem europäischen Handel und dessen Industrie zu eröffnen, wird auf recht schlaue Weise gewahrt.