Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
In China ist das Leben nicht willkürlich. Bei aller
Freiheit sind ihm feste Fäden eingewebt, die es tragen und ordnen, die ihm
Licht und Schatten, Glück und Unglück zur Harmonie gestalten. So fließt das
Leben dahin wie am Webstuhl das Gewebe. Erlebnisse schießen zu von rechts und
links, buntglitzerndes Glück und farblose Trauer, wie die Schiffchen mit dem
Einschlag des Fadens herüber und hinüberschießen. Aber der Zettel liegt fest,
der allem die Richtung gibt und es ordnet zu festen Figuren, aus deren Formen
der Sinn sprüht, zu dem das wirre Leben sich verknüpft.
Das Jahr ist gegliedert durch seine Feste, die Erlebnisse
sind geordnet durch Sitten. China hat keine Wocheneinteilung, und die
regelmäßige Ruhe der Sonntagsfeier beginnt erst jetzt von den modernen Schulen
aus sich über das Land zu verbreiten. Darum waren die Feste im alten China
besonders wichtig. Sie schmückten das Leben mit den Blumen der Freude. Der
Beginn dieser Feste ist das Neue Jahr, das in den ersten Anfang des
wiederkehrenden Frühlings fällt. Es wird meist im Laufe des Februar gefeiert.
Denn China hat noch immer trotz offizieller Einführung des gregorianischen
Kalenders seinen alten guten Mondkalender im stillen beibehalten. Dieser
Mondkalender steht dem Menschen nahe, führt ihn unmittelbar hinein in den
Lebenszusammenhang mit dem kosmischen Vorgängen. Die Monate sind wirkliche
Monde, sie beginnen mit dem Neumond, und am 15. ist Vollmond. Man braucht nur
einen Blick auf den klaren Himmel zu werfen, um über den Kalender auf dem
laufenden zu sein. Neben dem Mond kommt im chinesischen Kalender auch die Sonne
zu ihrem Recht. Vierundzwanzig Sonnentermine sind in vierzehntägigen
Abschnitten unabhängig vom Monddatum über die Zeit zerstreut und bilden die
Was nun das neue Jahr betrifft, so ist es eine Zeit der
allgemeinen Fröhlichkeit. Das alte Jahr mit seinen Sünden und Schulden ist
vorüber. Die ausstehenden Rechnungen sind eingetrieben, soweit die Schuldner
nicht entflohen sind. Nun geht man daran, von den Vorräten festlichen Schmuck
für die Häuser und schmackhafte Kost für die gemeinsamen Mahlzeiten zu
besorgen. Wer es irgend kann, reist um diese Zeit in die Heimat. Neujahr ist das
Fest der Familie. Eltern und Kinder sind beisammen. Die Söhne kommen aus der
Ferne heim und bringen mit an Geld und Gaben, was sie im Getriebe des Lebens
draußen ersparen konnten. Auch die neuverheirateten Töchter kehren manchmal
zur Familie heim und erzählen Eltern und Geschwistern, was sie erlebt im neuen
Hause und in der neuen Familie, der sie jetzt angehören. Auch mit den
Himmlischen ist man in Verbindung. Der Herdgott, dessen Bild das ganze Jahr
über dem Herd hängt und der stumm und still alles mit angesehen hat, was in
der Familie während des Jahres an guten und bösen Taten geschah, ist am 24.
des zwölften Monats nach dem Himmel gegangen, um dem Himmelsvater Bericht zu
erstatten. Man hat ihm mit Feuerwerk und Schüssen das Geleite gegeben, nicht
ohne ihm zuvor den Mund mit süßem Kleister zu verstreichen, damit nichts
Unerfreuliches ihm über die Lippen komme. Nach Neujahr wird er wieder
Vor dem Neujahrsfest sind alle Straßen mit ihrem
Neujahrstreiben bunt geschmückt. Hier stehen Laternen feil in den
abenteuerlichsten Gestalten: vom Goldfisch, der aus roten Augen glotzt, bis zur
schlanken Jungfrau, die in zartem Licht verklärt blickt, sind alle Formen und
Farben vertreten. Papierdrachen harren der Zeit, da sie die Lüfte bevölkern
werden, wenn erst der Südwind aufgewacht ist und die weiten Ebenen vom
Winterdruck der Luft befreit behaglich aus dem alten Staub auftauchen. An den
Mauern hängen bunte Bilder zum Verkauf: meist runde, wohlgenährte Kinder
darstellend oder die trauten Heiligen von Haus und Herd: Guandi, den
Schützergott mit seinem treuen roten Gesicht; Guanyin, die Göttin der
Barmherzigkeit mit ihrem Falken, der die Kette irdischer Gebete, die zu ihr
aufsteigen, bringt, und ihrer Vase mit den segensreichen Zweigen, ihrer Dienerin
und dem munteren Knaben, der ihr seit Eindringen der katholischen Mission in der
Mingzeit auf den Schoß gesetzt wurde und so die Ähnlichkeit mit der Mutter
Gottes vollendete, obwohl der Sinn des Bildes - die söhnespendende Guanyin -
verschieden ist. Auch der Reichtumsgott ist in Abbildungen vorhanden. Er fehlt
in keinem Laden auf dem Lande. Oft sind es sogar zwei, rings umtürmt mit
Schätzen und Silberbarren. Die alte Mutter vom Taishan wird ebenfalls
feilgeboten, dass man sie unter die Hausgötter hängen kann.
Aber nicht nur diese Bilder frommen Glaubens und alter
Sitte hängen zum Verkauf aus. Schweizer Schneeberge und
Außer den Bildern sieht man künstliche Blumen und
Scherenschnitte ausgestellt, dünne zierliche Stickmuster aus weißem Papier,
die man auf die Schuhe klebt als Vorbild für die Stickerei, zarte rote
Spitzenvorhängchen, die am Neujahrstag über das Tor gehängt zu werden
pflegen, um Dämonen abzuhalten. Ein reiches Phantasieleben bewegt sich in
diesen graziösen Scherenschnitten. In einem anderen Verkaufsstand sind
Schattenbilder ausgestellt: allerlei Figuren, die aus farbiger, durchscheinender
Eselshaut geschnitten sind und die an Drähten hinter einer beleuchteten
Papierwand wie Marionetten bewegt werden. Mit diesen Schattenbildern werden
ganze Dramen aufgeführt, eine Spezialität der Pekinger Gegend.
Natürlich gibt es auch allerlei Kleiderstoffe, Hausrat,
Weihrauch, Kinderspielzeug aus Holz, Ton und Papier in größter Auswahl zu
kaufen. Lustig wirkt der Unterschied zwischen dem modernen Chinesen, der Autos
und Eisenbahnzüge aus Blech anbietet, und dem alten Mann schräg gegenüber,
der noch immer seine stabilen kleinen hölzernen Reisewagen feil hat. Dort
werden Schuhsohlen verkauft. Sie bestehen neuerdings aus Leder, weil das fester
ist als das Papier oder der Filz, die früher verwendet wurden. Die zugehörigen
Schuhe machen die weiblichen Familienmitglieder selbst. Doch auch für den
Augenblick ist gesorgt. Fliegende Garküchen verkünden durch ihre Düfte,
welche Herrlichkeiten den ruhebedürftigen Jahrmarktsbesucher erwarten, der sich
bei ihnen niederlässt.
In einer Ecke hat sich ein Geschichtenerzähler
eingefunden, der zum rhythmischen Schlag der Trommel eine Geschichte rezitiert.
Guckkästen sind aufgebaut, durch deren Gläser man wechselnde Bilder sieht.
Auch die Tempel werden besucht, besonders der Tempel des
Taishan vor dem Osttor. Diese Gottheit waltet über das Ende und den Anfang
aller Dinge. Um die Neujahrszeit finden sich Scharen von Opfernden ein, wenn die
Wende der Zeit aufs neue den Gedanken an den Wechsel alles Irdischen nahegelegt.
Den ganzen Tag brennen dann hier die Weihrauchkerzen, und die Gläubigen werfen
sich betend vor den Götterbildern nieder.
In den übrigen Tempeln in Peking und seiner Nachbarschaft
ist ebenfalls um die Neujahrsnacht lebhafter Betrieb. Denn Neujahr ist in China
nicht ein Tag, sondern ein halber Monat. Am Vollmondstag ist Laternenfest, und
die Zwischenzeit ist mit Erholungen und allen Arten von Vergnügungen
ausgefüllt. Im Tempel des Feuergottes, der wie Sankt Florian angerufen wird, um
das schädliche Feuer, über das er waltet, von den eigenen Penaten
fernzuhalten, ist während der ersten Wochen des Jahres großer Juwelenmarkt.
Die Höfe des Tempels sind mit Matten überdeckt, und ein nicht endendes Gewühl
von Menschen drängt sich durch die Schätze. Man lernt die Farben der Märchen
von Tausendundeiner Nacht verstehen, wenn man hier einmal durchgegangen ist. Die
Dinge, die umherstehen, haben alle möglichen Formen: Statuetten aus Lapislazuli
oder Topas oder dem blassen wächsernen Nephrit, Vasen von Amethyst und
Chrysopas, Schalen von finsterädrig fließendem Achat, Kugeln aus Bergkristall,
in deren lichten Tiefen sich die Zukunft zu trüben Nebeln ballt, Anhänger aus
Bernstein oder Karneol und Ketten aus Perlen und aus bemalten Porzellankugeln.
Ringe sind da, aus denen Saphire blitzen und Rubine sprühen. Vor allem die
Tabatieren! Sie haben die Form von kleinen Väschen oder Fläschchen, alle
möglichen Gestalten und Materialien finden sich: Elfenbein und Jade und
grüner, rotdurchstreifter Moosachat. Das Merkwürdigste wohl, was unter all
diesen Dingen lag, war eine Tabatiere aus der Mongolei aus blassen weißen
Menschenknochen geschnitzt und mit Silber und Türkisen eingefasst! Die Händler
stehen ruhig mit ineinandergeschobenen Ärmeln da. Man redet ein paar Worte,
fasst ein
Beim Tempel der weißen Wolke sind Teehäuser errichtet.
Die Pilgerzüge kommen von weit her, um hier ihre Verehrung kundzutun. Aber es
ist auch für Volksbelustigung gesorgt. Pferderennen finden statt, und bunte
Laternen geben dem Getriebe bei Nacht einen heiteren Glanz. Beim Gelben Tempel
vor dem Nordtor ist ebenfalls ein Markt mit Rennen und berühmten Maskentänzen,
bei denen die Teufel und bösen Geister verscheucht werden. Von weit her kommen
die Lamas und treiben ihre Zauberkünste. Am meisten Menschen aber werden
angelockt von den großen Maskentänzen am Lamatempel Yung Ho Gong. Wilde Tänze
von schrecklichen Masken bewegen sich zu den markerschütternden Tönen der
Muschelhörner und den tiefen Trommelwirbeln. Der ganze Platz vor dem Tempel ist
mit Menschen übersät. Man plaudert, man lacht, man drängt sich. Manche
klettern auf die Bäume und Mauern, und die großen Steinlöwen vor dem Tor sind
mit Reitern ganz überzogen, die alle von da oben besser sehen wollen, aber
häufig wieder in den Menschenbrei herunterrutschen, wo sie mit Lachen empfangen
werden. Priester mit langen Peitschen schlagen nach den unsichtbaren Teufeln.
Aber die Menschen, die in der Nähe sind, weichen auch zurück, wenn der Knall
ihnen näher kommt. Polizisten mahnen und ordnen. Alles macht die Hälse lang,
denn jetzt kommt der Zug heran. Mit Peitschen und Trompeten, mit Lärm und
Getöse erscheinen all die wilden Tier- und Menschenmasken, und der Teufel, ein
dürres Wesen mit spitzem, tückischem Knochenkopf, wird ausgetrieben. Bei einem
zweiten Tanz am folgenden Tag wird er verbrannt. Dann hat die Welt wieder Ruhe
für einige Zeit vor diesem Unhold. - Bei Nacht knattert und knallt es durch die
Luft, Feuerregen, Raketen und krachende Frösche zischen in allen Straßen. Aber
auch großes Stangenfeuerwerk wird abgebrannt. Ein Korb wird an einem hohen
Gerüst
Wenn das Laternenfest vorüber ist, dann kommt die Arbeit
wieder, und das Leben geht seinen gewöhnlichen Gang weiter. Namentlich auf dem
Land wird die Rückkehr zur Feldarbeit durch das Fest des Frühlingsanfangs
bezeichnet. Wenn der Kaiser auf dem Anger vor der Stadt pflügte, so fand im
ganzen Land eine ähnliche Feier statt. Die Beamten zogen vor die Stadt, und die
Zeremonie des Pflügens wurde mit einem Papierochsen vollbracht. Die Farbe des
Ochsen war den verschiedenen Jahren entsprechend verschieden. Nach dem Pflügen
wurde in fröhlichem Streit der Papierochse unter die Bevölkerung verteilt, und
wenn einer ein Horn oder ein Bein erwischte, so trug er es beglückt nach Hause
in dem festen Bewusstsein, dass es fürs ganze Jahr Glück bringen werde.
Selbstverständlich lockern sich alle derartigen Volkssitten jetzt immer mehr.
Sie flüchten aufs Land, sie werden zu örtlichen Besonderheiten. Sie
versteinern oder kommen ab. Das ist der Lauf der Zeit.
Das Konfuziusopfer, das im Frühling und Herbst dargebracht
zu werden pflegt, ist z. B. aus dem öffentlichen Bewusstsein fast ganz
ausgeschieden. Früher war es ein überaus festlicher Akt, als der Kaiser in
eigener Person seine Huldigung
Dieser Opferdienst, der ja nur eine besonders feierliche
Art des Tempeldienstes überhaupt ist, gibt manche Aufklärung über Dinge, die
in chinesischen Tempeln dem besuchenden Fremden oft auffallen. Man kommt in
einen Tempel voll von schrecklichen oder freundlichen Göttergestalten. Der
Führer erklärt alles, bleibt vollkommen kalt, berührt die Bilder, ja
beteiligt sich wohl oft selbst, wenn die Besucher ihre mehr oder minder
geistvollen Witze machen. Man hat daraus geschlossen, dass der Chinese
irreligiös sei und seine eigenen Götter verlache. Das ist jedoch nicht der
Fall. Diese Bilder sind gar keine Götter. Es sind nur Orte, an denen sie sich
niederlassen, wenn sie auf die rechte Weise gerufen werden. Wenn der Gott da
ist, dann ist die Anwesenheit vor seinem Bilde eine strenge und heilige Sache.
Wenn er aber nicht da ist, dann ist sein Bild ein Stück Holz oder Ton. Es ist
sehr interessant darüber nachzudenken, wie diese Gottesgegenwart zustande
kommt. Die Götter müssen doch irgendwie in der Nähe sein, damit sie
herbeikommen,
Dagegen ist das Frühlingsfest der reinen Klarheit (Qingming)
allgemein in China verbreitet und spielt etwa die Rolle des Osterfestes, mit dem
es auch zeitlich häufig ungefähr zusammentrifft. Ursprünglich war es sicher
ein Vegetationsfest. Am Tage vorher muss man fasten, man darf keine gekochten
Speisen essen und soll kein Feuer anzünden. Am Festtag selbst werden
merkwürdigerweise auch wie bei uns bunte gekochte Eier gegessen. Das Fest ist
jetzt von allerhand Sagen umsponnen, durch die die damit verbundenen Bräuche
erklärt werden sollen. Als der Fürst Wen von Jin im Jahre 635 v. Chr. aus
seiner Heimat fliehen musste, folgte unter seinen wenigen Getreuen auch Jie
Chitui ihm in das Elend. Einmal, als alle Nahrungsmittel ausgegangen, schnitt er
sich ein Stück Fleisch aus seinem Bein, um es seinem Herrn als Nahrung
darzubringen. Dennoch wurde er, als der Fürst wieder zurückkehrte und den
Thron bestieg, von ihm vergessen bei der Verteilung von Auszeichnungen. Jie
Chitui zog sich darauf mit seiner Mutter in einen dichten Bergwald zurück. Als
der Fürst nun zu
Dieses Fest des wiederkehrenden Lebens ist aber zugleich
dem Andenken an die Heimgegangenen geweiht; denn Auferstehung setzt ja immer den
Tod voraus. So werden die Gräber der Verstorbenen von Unkraut gereinigt, die
Hügel neu aufgefüllt und eine Erdscholle obendrauf gelegt, auf der mit einem
Stein ein Stück Papier als Opferteller befestigt wird. Wenn irgend möglich
kehren die Familienmitglieder heim, um im Kreise der Sippe das Frühlingsfest zu
begehen.
Dieses Fest hat sich unter der Republik erhalten. Als
Baumtag wird es in allen Schulen gefeiert. Es hat sich der Brauch entwickelt,
dass die Schüler Ausflüge machen und auf einem freien Platz Bäume pflanzen.
Wie auf Ostern Pfingsten folgt, so folgt auf das
Qingming-Fest das Duanwu-Fest, an dem die Höhe des Jahres, der Beginn der
Frühernte gefeiert wird. Es ist am fünften des fünften Monats. Die lichte
Sonnenkraft ist auf der Höhe. Aber eben deshalb lauern auch schon die finsteren
Dämonen. Krankheiten schleichen um, üble Einflüsse sind in Keimen zu
befürchten. Darum schützt man sich gegen böse Wirkungen, indem man Talismane
an Türen und Fenster hängt. Meist nimmt man scharf riechende Kräuter: Beifuss
oder Kalmus, die man als Zweige oder Bündel vor die Öffnungen hängt, durch
die böse Geister eindringen können. Auch werden rote Scherenschnitte von
Schlangen, Kröten oder Schildkröten und allerlei sonstigem Gewürm über den
Eingängen befestigt.
Das Fest ist ein Sonnenfest. Es wird besonders in der
Gegend des Yangtse gefeiert. Dort nennt man es das Drachenbootfest. Bunte
Dschunken mit festlichem Schmuck und Drachengestalten rudern auf dem Fluss
umher. Auf den Booten werden allerlei Kunststücke und Tänze ausgeführt. Der
Drache ist das Symbol der lichten männlichen Kraft, und die Schiffe sind die
Erinnerung an jene alten Zeiten, da übers Meer her der heilige Kult gekommen
ist. Aber auch hier ist die Freude am Licht mit der Abwehr der Dämonen
verbunden. Im Meer, im Fluss sind so viele Seelen Ertrunkener, die nicht
teilhaftig werden der Opfer ihrer Nachkommen. Ihnen muss man etwas zukommen
lassen; in Schilf gewickelte Reisklöße werden bereitet und als Opfergaben ins
Wasser geworfen für die Geister dort unten. Aber auch unter den Lebenden isst
man diese schilfumwickelten Reisklöße zum Fest. Auch dieses Fest hat später
eine Legende bekommen. Der Dichter Qu Yuan, der Begründer der rhapsodischen
Lyrik des Südens, stürzte sich, einen Stein in den Armen, in die Wasser des
Flusses, da er von seinem königlichen Herrn verstoßen worden war und die
Verzweiflung über das Schicksal seines Landes ihm das Leben unmöglich machte.
Ihm gelten nun in erster Linie die Reisklöße, die man ins Wasser wirft.
Das Fest der
jungen Mädchen ist der Siebenabend, der siebente des siebenten
Monats. Da werden im Schein der schmalen Mondsichel Opfergaben aufgebaut für
die himmlische Weberin. Die Mädchen üben sich, im Ungewissen Lichte des Mondes
Nadeln einzufädeln. Wenn es gelingt, so ist das ein Zeichen, dass die Göttin
Geschicklichkeit in allen Handarbeiten dem glücklichen Mädchen zu eigen geben
wird. Am Siebenabend sitzt man dann zusammen und erzählt Geschichten von dem
Kuhhirten und der Weberin. Das sind zwei Sterne am Himmel: die Wega in der Leier
ist die Weberin, und der Atair im Adler ist der Kuhhirt. Die Weberin ist
ursprünglich die siebente der neun Töchter des Himmelsherrn gewesen, die vom
Kuhhirten, einem Menschen, mit Hilfe seiner Wunderkuh im Bade überrascht worden
war und ihn dann heiraten musste, weil auch der alte Weidenbaum, den sie gefragt
hatte, sprach:
»Siebenabend ist heut,
Der Kuhhirt die Weberin freit.«
Nachdem sie aber sieben Tage verheiratet gewesen, da habe
die Weberin wieder in den Himmel zurückgemusst, um die Wolkenseide zu weben.
Als der Kuhhirt ihr folgen wollte, zog sie einen Strich mit ihrem Haarpfeil quer
über den Himmel. Das sei der Silberfluss (Milchstraße) geworden. So stehen die
beiden einander seitdem so nah und doch so fern. Nur einmal im Jahre dürfen sie
einander besuchen. Am Siebenabend kommen alle Krähen auf Erden herbeigeflogen
und bilden eine Brücke, auf der die Weberin zu ihrem Geliebten herüber kann. -
Am Siebenabend fällt häufig ein feiner Regen. Dann sagen die Frauen und alten
Weiber zueinander: »Das sind die Tränen, die der Kuhhirt und die Weberin beim
Abschied vergießen.« Darum ist der Siebenabend ein Regenfest.
Das schönste Fest im Jahr außer dem Neujahrsfest ist wohl
das Mittherbstfest am fünfzehnten des achten Monats. In diesen Tagen gibt es
die runden Mondkuchen, die mit Süßigkeiten gefüllt sind und mit roter Farbe
bemalt werden. Denn das Mittherbstfest ist ein Mondfest, und der Herbstmond
besonders zeichnet sich aus durch seine strahlende Helle. Der Vollmond, der die
ganze Nacht am Himmel steht, übergießt alles mit seinem taghell blendenden
Silberlicht. Das Mondopfer findet unter freiem Himmel statt. Die Früchte, die
geopfert werden, haben alle symbolische Bedeutung: die Melonen bedeuten, dass
die Familie vollzählig vereint bleiben möge, die Granatäpfel deuten auf
reichen Kindersegen, die Äpfel auf Frieden. Das Gebäck hat die runde Form der
vollen Mondscheibe.
Das Mondfest ist im Herbst, denn der Mond ist das
Yinprinzip, wie die Sonne dem Yangprinzip entspricht. Das Yinprinzip ist alles
Dunkle, Schattige, Kühle, Weibliche, und im Herbst beginnt diese Kraft ihre
Herrschaft anzutreten. Da aber der Herbst gleichzeitig unter dem Zeichen der
Erntefröhlichkeit steht, so ist das Mondfest trotz der Gedanken an das
niedergehende Jahr dennoch ein Freudenfest. Namentlich die Frauen feiern das
Mondfest gerne. Ist doch auch die Mondfee, die auf dem Schloss im Monde wohnt
und dort einsam über dem Meere schwebend am dunklen Himmel die Unsterblichkeit
gefunden hat, die Vertreterin des weiblichen Geschlechts. Am Mondschloss steht
auch ein Kassiabaum. Denn um die Mittherbstzeit blüht die Kassia mit ihren
süßduftenden, kleinen goldgelben Blüten. Dieser Kassiabaum auf dem Monde
wächst und wächst und deckt mit seinem Schatten das ganze Mondlicht zu, bis er
von Zeit zu Zeit wieder abgehauen wird. Auch ein Hase ist im Mond - wie in der
Sonne eine Krähe -; dieser Hase stößt in einem Mörser die Kräuter des
ewigen Lebens. Darum werden am Mondfest tönerne Hasen an die Kinder geschenkt.
Der Mondhase ist weiß mit schönen roten Augen. Oft sieht man Abbildungen der
Mondfee mit der Mondscheibe, und der Mondhase sitzt dann vertraulich bei ihr.
Der Mond ist das Prinzip des himmlischen Wassers; man kann es mit einem konvex
geschliffenen blanken Spiegel vom Mond herunterholen, wie man mit einem
Hohlspiegel aus der Sonne das himmlische Feuer holen kann.
Der Mond ist aber doch nicht nur weiblich. Es treibt ein
geheimnisvoller Alter, der Mondgreis, auf ihm sein Wesen. Der schleicht in der
Nacht heimlich umher und bindet die Beinchen von neugeborenen Knaben und
Mädchen mit einem unsichtbaren roten Zauberfaden aneinander. Dieser unsichtbare
Faden ist so stark, dass niemand ihm widerstehen kann. Wenn der Knabe und das
Mädchen herangewachsen sind, so werden sie, sich selber unbewusst, durch eine
starke Fessel zueinander gezogen. Und wehe ihnen, wenn ihre Lebenswege einander
einmal nahekommen, dann geht es ohne Hochzeit nicht mehr ab.
Die Frauen haben in China eine Freude am Ehestiften. Manche
gibt es, die machen sich einen regelrechten Beruf daraus. Aber auch die übrigen
sind gerne als Ehevermittlerinnen behilflich, wo es gilt, ein passendes Paar
zusammenzubringen. Ohne Vermittlung kann man ja in China keine Ehe schließen;
denn nicht die beiden Nächstbeteiligten heiraten einander nach Belieben,
sondern es ist eine Familiensache. Dieser alte Mann im Mond nun macht sich ein
Vergnügen daraus, die Ehen im Himmel zu schließen. Vielleicht verehren ihn die
Frauen deshalb so.
Das Mittherbstfest ist in der schönsten Jahreszeit,
gleichweit entfernt von den drei Hitzeperioden der Hundstage und den drei
Kälteperioden des Spätwinters, und der Herbst ist in China viel schöner als
der Frühling. Denn der Frühling muss sich unter viel Stürmen und
rückfälliger Kälte aus den Fesseln des Winters herausarbeiten. Lange noch
lastet der kontinentale Hochdruck mit seinen nordwestlichen Staubwinden über
der chinesischen Ebene. Wenn der Umschwung eintritt, so setzt gewöhnlich auch
schon gleich die Sommerhitze ein. Der Herbst dagegen ist ein mildes Abklingen
der heißen, feuchten Wolkentage des Sommers. Der Himmel ist wochenlang von
strahlender Reinheit, die Luft ist klar, so dass bis fernhin an die Berge die
Umrisse des Horizonts sich scharf und dunkel abheben. Kein Sturmwind stört das
ruhige Leuchten dieser Tage. Still dehnt sich der See, und fern aus dem Schilf
klingen die Töne einer Flöte wehmütig durch den Äther.
Wenn diese schönen Tage vorüber sind, wenn der kalte Tau
fällt, kommen die Herbstnebel aus den Tälern hervor. Das sind gefährliche
Zeiten der Seuche. Darum steigt man jetzt auf die Höhen, um vor den Abendnebeln
gesichert noch einmal beim Wein des Herbstes zu genießen. Das ist der neunte
des neunten Monats, das doppelte Yang (Chongyang), denn neun ist die Zahl des
Yangprinzips, und der Verdoppelung dieser Lichtzahl wird an diesem Feste des
sinkenden Jahres gedacht. Das Lichte kämpft hier wieder mit der Finsternis.
Während das Jahr äußerlich der Kälte und dem Winter entgegenflieht, und die
Herbstgrillen ihre wehmütigen Laute ertönen lassen, bilden sich im geheimen in
den Tiefen der Erde die ersten Keime des
Nun kommt die Zeit der Chrysanthemen heran, und ihre reinen
Blüten sind der letzte Gruß des scheidenden Jahres. In Japan wird ein
Chrysanthemenfest gefeiert, und man verbindet damit Ausstellungen von
prächtigen Blumen. Man züchtet die Blüten so groß wie möglich, und
dreißig, vierzig Blüten an einem Stock sind nichts Seltenes. In China ist das
ganz anders. Die Chrysanthemen sind nicht wie die Päonien, die den ersten
Frühling schmücken, Blumen der Pracht und der stolzen Entfaltung. Man züchtet
in China selten mehr als drei oder fünf Blüten an einem Stock. Aber die
Blüten sollen vollkommen sein und von gewählter Eigenart, und die Blätter
sollen stark und grün die ganzen Stengel bis zur Erde bedecken. Der große
Freund der Chrysanthemen war der Dichter Tao Yuanming. Seine Liebe zu ihnen hat
er in manchem Gedicht besungen:
In später Pracht erblühn die Chrysanthemen,
Ich pflücke sie, vom Perlentau benetzt.
Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen,
Hab einsam ich zum Wein mich hingesetzt.
Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zum Schlummer,
Die Vögel sammeln sich im stillen Wald.
Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer,
Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt.
Wie das Jahr mit seinem Kreislauf durch die Feste
gegliedert ist, so ist auch das Leben des einzelnen Menschen von einem Kranz von
festen Gebräuchen umgeben, die es einreihen in die großen gesellschaftlichen
Zusammenhänge.
Das Kind wird geboren. Es wird schon am ersten Tage in ein
Hemdchen von festlich roter Farbe gekleidet. Neun rote Eier werden an die Eltern
der Mutter gesandt, um ihnen Mitteilung von dem freudigen Ereignis zu machen.
Der Vater aber begibt
Auch sonst sind die Gebräuche verschieden bei der Geburt
von Knaben und Mädchen. Bei der Geburt des Knaben wird ein Bogen aus einem
Maulbeerzweig und vier Pfeile aus Jujubenholz vor der Tür aufgehängt. Am
dritten Tage wird der Bogen abgenommen und die Pfeile nach allen vier
Himmelsrichtungen
Die patriarchalische Auffassung der Bedeutung der Kinder
ist im alten Buch der Lieder aus dem ersten Jahrtausend v. Chr. einmal sehr
hübsch zum Ausdruck gebracht. Da wird erzählt, wie ein Haus für einen
Herrscher gebaut wird und wie er in der ersten Nacht einen glückverheißenden
Traum hat, den ihm der Magier deutet. (Shijing II, 4, 5.)
Am lieblich stillen Flussesstrand,
An starker Berge dunklem Rand,
Wo Bambuswurzeln tief sich gründen,
Wo Pinienkuppeln breit sich runden,
Der Brüder friedlicher Verein
Mög stets voll edler Liebe sein!
Und frei von allen Ränken sein!
Ahnfraun und Ahnherrn heiliges Teil
Dehnt sich des Hauses Mauer steil,
Nach West und Süden offne Tür,
Hier wohnt, hier weilt er für und für.
Hier ist sein Glück, sein Wort ist hier.
Fest stehn gefügt die Rahmenwerke,
Und fest gestampft der Wände Stärke,
Von Wind und Regen unversehrt,
Ratten und Vögeln stark verwehrt,
Von Gegenwart des Herrn geehrt.
Voll Hoffnung steht es und gerad,
So wie des Pfeiles schneller Pfad.
Und wie des Vogels neues Kleid,
Wie des Fasanen Flug so weit
Steht's zum Empfang des Herrn bereit.
Der Hof ist weit und wohl geschlichtet,
Die Säulen hoch und glatt gerichtet.
Froh spielt das Licht an Saales Bord,
Geräumige Schatten winken dort,
Hier ist des Herren Ruheort.
In kühle Matten eingehüllt
Deckt ihn des Schlummers Stille mild.
Und wenn er dann vom Schlaf erwacht,
Ruft er den Magier mit Bedacht.
Was hat der Herr im Traum erschaut?«
»Braunbären, Graubären allzumal,
Ottern und Nattern in großer Zahl.«
Der Magier deutet nun den Traum:
»Braunbären und Graubären Söhne bedeuten,
Ottern und Nattern Töchter bedeuten.
Es werden euch Söhne geboren werden,
Die auf prächtigen Betten schlafen werden,
In bunte Gewänder gekleidet werden,
Mit Jadezeptern spielen werden,
Mit lauter Stimme schreien werden,
In roten Schärpen erscheinen werden,
Das Haus durch Herrschaft berühmt machen werden.«
»Es werden euch Töchter geboren werden,
Sie werden schlafen auf der Erden,
Sie werden in Windeln gewickelt werden,
Sie werden spielen mit tönernen Scherben,
Nicht gut, nicht böse werden sie handeln,
Sie werden nur Essen und Trinken behandeln
Und ohne Verdruss für die Eltern wandeln.«
Diese alten Sitten sind heute überholt. Die Frauenwelt in
China ist längst herausgetreten aus den Fesseln alter Vorurteile. Die Mädchen
sind heute in China viel freier als z. B. in Japan, wo das alte ritterliche
Ideal noch weit mehr gepflegt wird. Selbst Freiheit der Gattenwahl wird immer
mehr proklamiert, und in Verbindung damit ist die Frauenwelt Jung-Chinas auch
streng gegen die bequeme Sitte vorgegangen, die es dem Gatten erlaubt, zu seiner
eigenen Freude neben der Gattin noch eine Anzahl von Dienerinnen bzw.
Nebenfrauen der Familie einzugliedern. Mit der freien Gattenwahl fällt
natürlich ein Hauptgrund für das Vorhandensein der Nebenfrau weg, da ja dann
ein jeder Mann es sich selbst zuzuschreiben hat, wenn es sich herausstellen
sollte, dass seine Gattin weniger befriedigend ist, als er erhofft hatte. Nur
die Frage männlicher Nachkommenschaft wird in den Ehesachen so lange eine Rolle
spielen, als
Aus dem bisherigen geht schon hervor, dass die Heirat im
Leben des Mannes nicht eine so einschneidende Epoche bildet wie in Europa, da
sie ja keineswegs mit der Gründung eines eigenen Hausstandes zusammenfällt.
Wenn die Braut durch den Übertritt in eine andere Familie und durch ihre neue
gesellschaftliche Stellung einen ganz neuen Lebensabschnitt begann, so blieb
für den jungen Mann seine Stellung innerhalb des Hauses ziemlich unverändert,
höchstens dass er mit seiner jungen Frau ein besonderes Gebäude innerhalb des
allgemeinen Familiengehöftes zugewiesen erhielt. Die Auswahl der
Lebensgefährtin war durch die Eltern längst schon vorgenommen. Die Hochzeit
wurde festgesetzt, wenn etwa aus Anlass häuslicher Geschäfte eine weitere
Arbeitskraft der Mutter des Jünglings erwünscht erschien. Der Bräutigam kam
dann, wenn er auswärts war, für ein paar Tage nach Hause. Wenn er z. B. eine
Schule an einem anderen Orte besuchte, so genügte eine Woche Urlaub, worauf der
junge Gatte dann wieder wie bisher zur Schule ging. Damit hängt zusammen, dass
der Mann, solange seine Eltern noch der Haushaltung vorstehen, oft jahrelang mit
kurzen Unterbrechungen von Hause fort ist. Die Frau ist ja ebenso wie die Kinder
wohlversorgt in der Familie. Darum war es für eine junge Frau ein wichtigeres
Problem, wie sie sich zur
Jung-China hofft sehr viel von der Ehereform, die, wie
erwähnt, sich durchzusetzen beginnt. Man will sein Eheglück in eigene Hand
nehmen und selber darüber wachen. Es ist selbstverständlich, dass die alte
Form der Ehe nicht länger aufrechterhalten werden kann, wenn die
Persönlichkeiten differenzierter werden. Die chinesische Familie, die wenig auf
das Individuum Rücksicht nahm, setzte voraus, dass die einzelne Persönlichkeit
in den größeren Zusammenhang sich reibungslos einordnete, was natürlich nur
bei schwächer entwickelter Eigenart und Selbstbewusstheit der Charaktere
möglich ist.
Es ist unzweifelhaft, dass auf dem Lande die alte Ehe noch
lange bestehen bleiben wird, weil dort noch immer die großen übergreifenden
Bindungen eines auf den Ackerbau gegründeten Patriarchalismus vorhanden sind.
Dagegen werden in den Städten neue Verhältnisse und damit auch neue Ehen sich
bilden müssen. Die Zertrümmerung der Großfamilie, die für den Großstädter
schon aus wirtschaftlichen Gründen unvermeidlich ist, produziert neue Eheformen.
Nur ist die Frage,
Am Schluss des Lebens stehen endlich die Sitten, die sich
um die Beerdigung gruppieren. Hier hat die rote Farbe ein Ende. Der farblose
Sack ist die Trauerkleidung, und Askese in den äußeren Verhältnissen, aus
denen alle Bequemlichkeit entfernt wird, entspricht der Herzenstrauer der
Hinterbliebenen. Trotz dieser Trauer, die siebenundzwanzig Monate lang dauert,
ist der Tod nicht etwas, das außerhalb aller Erwägung bliebe, solange die
Eltern leben. Dass die Menschen sterblich sind, ist eine Tatsache, über die
sich in China niemand hinwegzutäuschen sucht. Wenn die Zeit herannaht, da nach
des Lebens Last und Hitze die Ruhe winkt, so bestellt man gern rechtzeitig sein
Haus, und es ist eine zarte Rücksicht der Kinder, wenn sie für altgewordene
Eltern schon zu deren Lebzeiten Sarg und Totenkleider besorgen. Diese können
dann ohne Sorge an den letzten dunklen Gang der Rückkehr denken.
Natürlich ist der Tod und das Begräbnis in China umgeben
von einem reichen Kranz von Sitten. Denn die Lehre des Konfuzius, die die
Kindesehrfurcht in den Mittelpunkt der Volksmoral gestellt hat, musste den
Moment besonders betonen, da der treue Dienst der lebenden Eltern ein Ende nahm
und die Kindesehrfurcht aus der ethischen Form in die religiöse übergehen
musste. So war Fasten, Askese, Trauer vorgeschrieben. Mehr auf den Ernst der
Gesinnung kam es dem Meister an, als auf den Pomp äußerer Prachtentfaltung. Es
herrschte die Sitte, dass der Verstorbene begraben wird entsprechend dem Rang,
den er bei Lebzeiten innegehabt. Die Opfer aber wurden vollzogen entsprechend
dem Rang der hinterbliebenen Söhne
Neben den Totenbräuchen, die aus dem Konfuzianismus sich
ergeben, haben sich im Laufe der Jahrhunderte noch eine Menge Bräuche
eingefunden, die aus ganz anderen Quellen stammen. Die Versorgung der Toten ist
in China ein Kreuzungspunkt für alle Religionen geworden. Taoistenpriester
machen am Leichenhause ihre Musik, und auch Buddhistenmönche lese ihre Messen.
Neben den Sitten der Ehrung der Toten als vollendeter höherer Wesen geht eine
Menge von Bräuchen her, die in den Toten gefährliche Gespenster sehen, die
gebannt werden müssen. Während man betend emporschaut zu dem verklärten
Geistigen und es durch Opfer nährt und ehrt, ist das verwesende Körperliche
ein peinlicher Erdenrest, der gespenstig unpersönlich dem Leben feind ist.
In Peking war vor nicht gar langer Zeit die Beerdigung
eines hohen Staatsbeamten. Der Trauerzug schwankte stundenlang durch die
Straßen. Kräcker wurden abgebrannt und große Gongs geschlagen, um die bösen
Geister zu verscheuchen auf dem Weg der Leiche. Fahnen und Amtsinsignien wurden
getragen, weiße Zweige mit Papierstreifen umhüllt folgten. Ehrenschreine und
Ehrenschirme bewegten sich voran. Dann kamen die Grabbeigaben. Sie werden nicht
mehr wie früher aus Ton gebildet und dem Toten mit ins Grab gegeben, sondern
aus Papier gemacht und am Grab verbrannt. Alles was zum Luxus des Lebens
gehört, von der Villa und dem Automobil an bis zu den unentbehrlichen Pferden,
Dienern und Geräten, war vorhanden. Von über hundert wimmelnden Menschen wurde
unter einem Baldachin der prächtig verhüllte Sarg getragen. Der Chopinsche
Trauermarsch, von einer buntgekleideten Kapelle gespielt, wechselte ab mit den
schrecklichen Hörnerstößen und der wimmernden Klarinettenmusik und den
Trommeln und Gongs der Bonzen. Weißgekleidet schleppte sich der Sohn, auf
Diener gestützt und einen Trauerstab nach sich ziehend,
hinter dem Sarge her. Wagen und Autos ohne Zahl, Kränze und Blumen und
Ehrenschriften gaben dem Toten das Geleite zur Stadt hinaus in das sorgfältig
gemauerte Familiengrab.
In einer kleinen Nebengasse trugen zwei Arbeiter einen
kümmerlichen Sarg mit Stricken an einer Stange befestigt, der notdürftig nur
mit einer schmutzigen roten Bettdecke verhüllt war. Es war vielleicht die
einzige Bettdecke des Sohnes, der hinter dem Sarge ging. Er hatte sich irgendwo
einen weißen europäischen Stoffkinderhut gekauft, damit er auch etwas Weißes
trüge. Der Hut war schmutzig, und viele Leute lachten über den Anblick. Doch
der Sohn bemerkte nichts davon. Er musste sich beherrschen, sein Schluchzen zu
unterdrücken. Er hatte keine Zeit. Emsig schritten die Träger voran. Vor
Sonnenuntergang musste er begraben sein. Im Augenblick waren sie im Gedränge
der Straße verschwunden.
Als sie die Erde wegschaufelten, da fanden sie einen
gebleichten Totenschädel. Vielleicht war es derselbe, der einst dem Zhuangzi im
Traum erschienen war und sprach: »Im Tode gibt es weder Fürsten noch Knechte
und nicht den Wechsel der Zeiten. Wir lassen uns treiben, und unser Lenz und
Herbst sind die Bewegungen von Himmel und Erde.«