Soviel ersichtlich, war das politische Lehenswesen in China nicht primär mit der Grundherrschaft (im okzidentalen Sinn) als solcher verknüpft. Sondern beide sind, wie in Indien, aus dem „Geschlechterstaat" erwachsen, nachdem die Häuptlingssippen den alten Banden des Männerhauses und seiner Derivate sich entzogen hatten. Die Sippe stellte nach einer Notiz ursprünglich die Kriegswagen, und sie war auch die Trägerin der alten ständischen Gliederung. Die an der Schwelle der sicheren geschichtlichen Kunde in einigermaßen deutlichen Umrissen erscheinende wirkliche politische Verfassung war die gradlinige Fortsetzung jener bei allen Eroberungsreichen urwüchsigen Verwaltungsstruktur, wie sie noch den großen Negerreichen des 19. Jahrhunderts eignete: dem „Reich der Mitte", das heißt: dem direkt vom siegreichen Herrscher, als Hausmacht, durch seine Beamten: persönliche Klienten und Ministerialen, verwalteten „inneren" Gebiet um den Königssitz herum, wurden immer mehr durch Tributärfürsten beherrschte „Außen"-Gebiete angegliedert, in deren Verwaltung der Kaiser: der Herrscher des Reichs der Mitte, soweit, und nur soweit, eingriff, als die Erhaltung seiner Macht und die mit ihr verbundenen Tributinteressen dies unbedingt erheischten und: als er es vermochte. Daher naturgemäß bei zunehmender Entfernung vom Hausmachtgebiet mit abnehmender Stetigkeit und Intensität. Ob die Beherrscher der Außengebiete praktisch absetzbare oder erbliche Dynasten waren, wie oft das in der Theorie des Tschou-li anerkannte Beschwerderecht ihrer Untertanen beim Kaiser praktisch war und zu Eingriffen seiner Verwaltung führte, ob die neben und unter ihnen stehenden Beamten, wie die Theorie wollte, von den Beamten des Kaisers ernannt und entsetzt und praktisch von ihnen abhängig waren, ob also die Zentralverwaltung der drei großen und drei kleinen Räte (kung und ku) praktisch über die Hausmacht hinausgreifen konnte und ob die Wehrkraft der Außenstaaten dem Oberlehensherrn praktisch zur Verfügung stand: dies waren die jeweils durchaus labil gelösten politischen Probleme. Die politische Feudalisierung, welche sich aus diesem Zustand entwickelte, nahm nun hier die gleiche Wendung, wie wir sie in konsequentester Durchführung in Indien wiederfinden werden: Berücksichtigung bei der Besetzung der abhängigen Stellungen, vom Tributärfürsten bis zu dessen höfischen und Provinzialbeamten, beanspruchten und erreichten nur Sippen schon herrschender politischer Gewalthaber und ihrer Gefolgschaft. Vor allem die kaiserliche Sippe selbst. Ebenso aber die Sippen derjenigen Fürsten, welche sich ihm rechtzeitig unterworfen und im vollen oder teilweisen Besitz ihrer Herrschaft belassen waren1). Und endlich die Sippen aller derjenigen, die sich als Helden und Vertrauensleute ausgezeichnet hatten. Das Charisma haftete jedenfalls längst nicht mehr am einzelnen streng persönlich, sondern - wie wir dies als Typus später bei Erörterung der indischen Verhältnisse näher kennenlernen werden - an seiner Sippe. Nicht der durch freie Kommendation in die Vasallität und Investitur erlangte Lehensbesitz schuf den Stand, sondern - im Prinzip wenigstens - umgekehrt: die Zugehörigkeit zu jenen adligen Sippen qualifizierte, je nach dem herkömmlichen Rang der Familie, zu einem Amtslehen bestimmten Ranges. Minister und selbst bestimmte Gesandtenposten finden wir im chinesischen feudalen Mittelalter fest in den Händen bestimmter Familien, und auch Konfuzius war vornehm, weil er von einer Herrscherfamilie abstammte. Die auch in den Inschriften späterer Zeiten hervortretenden „großen Familien" waren diese charismatischen Sippen, die ihre Stellung ökonomisch vorwiegend aus politisch bedingten Einkünften, daneben aus erblich zusammengehaltenem Grundbesitz bestritten. Der Gegensatz gegen den Okzident war natürlich in mancher Hinsicht relativ, aber in seiner Bedeutsamkeit immerhin nicht gering. Im Okzident war die Erblichkeit der Lehen erst Entwicklungsprodukt. Und vollends die ständische Scheidung der Lehensinhaber, je nachdem sie Gerichtsbann erhalten hatten oder nicht, die Scheidung der beneficia nach der Art des Dienstes, endlich die ständische Scheidung des Ritterstandes von anderen, zuletzt auch vom städtischen Patriziat, vollzog sich innerhalb einer schon fest durch Appropriation des Bodens und (weitgehend) aller möglichen Verkehrserwerbschancen gegliederten Gesellschaft. Die erbcharismatische Stellung der (in vielem noch sehr hypothetischen) „Dynasten" im frühesten deutschen Mittelalter würde den chinesischen Verhältnissen am ehesten entsprechen. Aber in den Kerngebieten des westlichen Feudalismus war unter dem Umsturz der traditionalen Rangordnungen durch die Eroberung und Wanderung offenbar das feste Gefüge der Sippen stark gelockert, und die Kriegsnotwendigkeiten erzwangen gebieterisch die Aufnahme jedes tüchtigen, militärisch geschulten, Mannes in die Ritterschaft, also: die Zulassung jedes ritterlich Lebenden zur Ritterwürde. Erst die weitere Entwicklung führte dann zum Erbcharisma, schließlich zur „Ahnenprobe". In China war dagegen das Erbcharisma der Sippe - in der für uns zugänglichen Zeit - stets das Primäre (mindestens der Theorie nach2); erfolgreiche Parvenüs hat es immer gegeben). Nicht etwa (wie später im Okzident) die Erblichkeit des konkreten Lehens also: - die vielmehr als grober Mißbrauch galt -, sondern der durch den ererbten Sippenrang gegebene Anspruch auf ein Lehen bestimmten Ranges. dass die Tschou-Dynastie die fünf Adelsgrade „eingerichtet" und dann das Prinzip der Vergebung von Lehen nach dem Adelsrang eingeführt haben soll, ist wohl Legende; dass aber damals die hohen Vasallen (Tschou-Lou, die „Fürsten") nur aus Nachkommen alter Herrscher ausgelesen wurden, ist glaubhaft3). Das entsprach japanischen Frühzuständen und war: „Geschlechterstaat". Als die Wei (nach dem Sturze der Han-Dynastie) ihre Hauptstadt nach Lo yang verlegten, führten sie nach der Annalistik die „Aristokratie" mit sich. Diese bestand aus ihrer eignen Sippe und aus alten erbcharismatischen Sippen. Ursprünglich also natürlich: Stammeshäuptlingsfamilien. Damals aber schon: Nachkommen von Amtslehen- und Amtspfründeninhabern. Und nun verteilten sie - noch damals] - den „Rang" (und dementsprechend den Anspruch auf Pfründen) je nach dem Amt, das einer der Vorfahren der Familie gehabt hatte (ganz das Prinzip der römischen Nobilität und des russischen Mjestnitschestwo)4). Ganz ebenso wie in der Teilstaatenzeit die höchsten Ämter fest in den Händen bestimmter Sippen (hohen erbcharismatischen Ranges) sich befanden5). Die Entstehung eines eigentlichen „Hofadels" tritt erst in der Zeit Schi hoang Ti's (von 221 vor Chr. an) gleichzeitig mit dem Sturz des Feudalismus auf: damals zuerst wird eine Rangverleihung in der Annalistik erwähnt6). Und da gleichzeitig die finanziellen Notwendigkeiten erstmalig den Ämterkauf - also: die Auslese der Beamten nach dem Geldbesitz - erzwangen, verfiel der Erbcharismatismus trotz prinzipieller Aufrechterhaltung der Rangunterschiede. Noch 1399 findet sich die Degradation zum „Plebejer" (ming) erwähnt7), allerdings damals unter ganz anderen Verhältnissen und in anderem Sinne8) . In der Feudalzeit entsprach der erbcharismatischen Rangabstufung eine Ordnung der Lehen, nach Beseitigung der Subinfeudation und Übergang zur Beamtenverwaltung: der Pfründen, die bald fest klassifiziert wurden: unter den Tsin und, nach ihrem Muster, den Han, in 16 Klassen von Geld- und Reisrenten fest abgestuft9). Das bedeutete schon die volle Beseitigung des Feudalismus. Den Übergang stellte der Zustand dar10): dass die Ämter in zwei dem Range nach verschiedene Kategorien geschieden waren: koan nei heu: Landpfründen, und lie heu: Rentenpfründen, die auf die Abgaben bestimmter Ortschaften angewiesen waren. Die ersteren waren die Nachfolger der alten Lehen der reinen Feudalzeit. Diese bedeuteten natürlich praktisch sehr weitgehende herrschaftliche Rechte über die Bauern. Sie bestanden so lange, als nicht das Ritterheer durch das fürstliche, später kaiserliche, aus Bauern ausgehobene und disziplinierte stehende Heer ersetzt war. Äußerliche Ähnlichkeit des alten Feudalismus mit dem okzidentalen bestand also, trotz der innerlichen Unterschiede, in weitgehendem Maße. Insbesondere waren die nicht (ökonomisch und durch Waffenübung) Wehrfähigen natürlich von jeher in China ebenso von allen politischen Rechten entblößt wie überall sonst. Und zwar dies sicher schon vor dem Feudalismus. Dass angeblich der Fürst in der Tschou-Zeit das „Volk" vor Kriegen und bei Kapitalstrafen befragt, das heißt: die wehrhaften Sippen, entsprach den bei Bestand eines Heerbanns allgemein herrschenden Zuständen. Vermutlich ist durch das Aufkommen der Kriegswagen die alte Heeresverfassung gesprengt oder obsolet geworden und der erbcharismatische „Feudalismus" zuerst entstanden, der dann auf die politischen Ämter übergriff. Das älteste schon zitierte Dokument über die Verwaltungsorganisation: das Tschou-Li11), zeigt bereits ein stark schematisch konstruiertes12), aber immerhin auf bureaukratisch geleiteter Bewässerung, ebenso geleiteten Spezialkulturen (Seide), Rekrutierungslisten, Statistik, Magazinen ruhendes, sehr rational durch Beamte geleitetes Staatswesen, dessen Realität freilich recht problematisch erscheinen muss, da diese Rationalisierung der Verwaltung auf der anderen Seite, nach der Annalistik, erst als Produkt der Konkurrenz der feudalen Teilstaaten auftrat13). Immerhin mag man glauben, dass der Feudalzeit eine patriarchale Epoche nach Art des „Alten Reichs" in Ägypten vorausging14). Denn hier wie dort ist an dem sehr hohen Alter der - aus der Königsklientel erwachsenen - Wasser- und Baubureaukratie kein Zweifel möglich. Ihre Existenz temperierte von Anfang an den feudalen Charakter der Teilstaatenepoche und lenkte das Denken der Literatenschicht - wie wir sehen werden - immer wieder in die Bahn des verwaltungstechnischen und utilitarischen Bureaukratismus. - Aber für mehr als ein halbes Jahrtausend hat jedenfalls der politische Feudalismus geherrscht.
Eine Periode faktisch so gut wie ganz unabhängiger Lehenstaaten füllte die Zeit vom 9.-3. Jahrhundert vor Chr. aus. Von den in Kürze schon oben berührten Zuständen dieses Feudalzeitalters gibt die Annalistik15) ein immerhin leidlich klares Bild. Der Kaiser war Oberlehensherr; vor ihm stiegen die Vasallen vom Wagen; auf Verleihung durch ihn allein konnten letztlich „rechtmäßige" politische Besitztitel zurückgeführt werden. Er erhielt von den Vasallenfürsten Geschenke, deren Freiwilligkeit ihn mit wachsender Ohnmacht in peinliche Abhängigkeit brachte. Er verlieh fürstlichen Rang in Abstufungen. Die Untervasallen hatten keinen direkten Verkehr mit ihm16). Die Entstehung der Lehen aus der Übergabe einer Burg zur Bewachung, die dann zur Verleihung wurde, ist mehrfach (so für die Entstehung des Lehensstaats Tsin) berichtet. Die Lehen waren in der Theorie im Erbfall neu zu muten, und der Kaiser verlieh sie rechtlich nach Ermessen dem qualifizierten Erben; indessen bei einem Konflikt zwischen der Bestimmung des Vaters und der des Kaisers über die Person des Erben gab, nach Bericht der Annalen, der Kaiser nach. Die Größe der Ritterlehen hat wohl geschwankt. Es findet sich in der Annalistik17) die Notiz, dass Lehen 10000 bis 50000Mou (ä 5,26 Ar, also 526-2630Hektar) mit 100-500Menschen umfassen sollen. An andren Stellen wird die Stellung eines Kriegswagens auf 1000Menschen18) als normal gerechnet, nach andren (594 vor Chr.) rechneten 4 Siedlungseinheiten (wohl nicht bestimmter Größe19)) = 144 Kriegern, wieder andre (später) rechnen bestimmte Deputate von Kriegswagen, Gepanzerten, Pferden und Proviant (Vieh) auf bestimmte - später meist sehr große - Einheiten20). Die ganze Art der späteren Steuer-, Fron- und Rekrutierungsumlegung knüpfte offensichtlich an diese Überlieferungen der Feudalzeit an: auch sie gingen in der älteren Zeit von Wagen- und Ritter-Gestellungen, erst später von der Gestellung der Rekruten für die Armee, Fronarbeitern und Natural-, dann Geldlieferungen aus, wie wir sehen werden.
Gesamtlehen, also Ganerbschaften unter Leitung des Ältesten21), fanden sich. Die Primogenitur und die Designation des Nachfolgers aus den Söhnen und Anverwandten durch den Herrscher oder durch die höchsten Beamten standen auch im Kaiserhaus nebeneinander. Gelegentlich nahmen die Vasallen die Übergehung des ältesten Sohnes oder des Sohnes der Hauptfrau zugunsten eines jüngeren oder eines Konkubinensohns zum Anlaß der Auflehnung gegen den Kaiser. Später und bis in die letzte Zeit der Monarchie galt, aus rituellen Gründen, die mit den Ahnenopfern zusammenhingen, die Regel: dass der Nachfolger aus einer dem toten Herrscher gegenüber jüngeren Generationsstaffel gewählt werden solle22). Politisch waren die oberlehensherrlichen Rechte fast auf ein Nichts zusammengeschrumpft. Das war die Folge davon, dass nur die Grenzvasallen: die Markgrafen, Kriege führten, und also: Militärmächte waren, der Kaiser - wohl eben deshalb - zunehmend nur pazifistischer Hierarch.
Der Kaiser war Oberpontifex mit rituellen Vorrechten: die höchsten Opfer zu bringen blieb ihm vorbehalten. Ein Krieg gegen ihn seitens eines Vasallen galt in der Theorie als rituell verwerflich und konnte magische Nachteile bringen, - was nicht hinderte, dass er gegebenenfalls dennoch unternommen wurde. Er beanspruchte, wie im römischen Reich der Bischof von Rom den Vorsitz der Konzilien, so seinerseits für sich oder seinen Legaten den Vorsitz in den von der Annalistik als mehrfach vorgekommen erwähnten Fürstenversammlungen; indessen in der Zeit der Hausmeier-(Protektor-)Macht einzelner großer Vasallen wurde dieser Anspruch mißachtet, (was freilich in den Augen der literarischen Theorie ein ritueller Verstoß war). Solche Fürstenkonzile kamen öfter vor: ein solches von 650 vor Chr. wendete sich z.B. gegen die Entrechtung des wahren Erben, gegen Erbämter, gegen Ämterkumulation, gegen die Todesstrafe bei hohen Beamten, gegen „krumme" Politik, gegen Verkaufsschranken für Getreide und trat für Pietät, Ehrung des Alters und der Talente ein.
Nicht in diesen gelegentlichen Fürstenversammlungen, sondern in der „Kultureinheit" kam die Einheit des Reichs praktisch zum Ausdruck. Und wie im Okzident im Mittelalter, so auch hier war jene Kultureinheit durch drei Elemente repräsentiert: 1. die Einheit der ständischen Rittersitte, 2. die religiöse, das hieß: rituelle Einheit und 3. die Einheit der Literatenklasse. Die rituelle Einheit und die Einheit des Standes der ritterlichen wagenkämpfenden Vasallen, der Burglehensinhaber, äußerte sich in ähnlichen Formen wie im Okzident. Wie dort „Barbar" und „Heide" identisch waren, so galt in China als Merkmal des Barbaren oder Halbbarbaren vor allem die rituelle Unkorrektheit: dass er die Opfer fehlerhaft darbrachte, ließ den Fürsten von Tsin noch weit später als einen Halbbarbaren erscheinen. Ein Krieg gegen einen rituell unkorrekten Fürsten galt als verdienstliches Werk. Auch später ist jede der zahlreichen tatarischen Erobererdynastien Chinas von den Trägern der rituellen Tradition alsbald als „legitim" behandelt worden, wenn sie sich den rituellen Regeln (und damit der Macht der Literatenkaste) korrekt angepasst hatte. Teils rituellen, teils ritterlich-ständischen Ursprungs waren nun auch diejenigen „völkerrechtlichen" Ansprüche, welche wenigstens die Theorie als Ausdruck der Kultureinheit an das Verhalten der Fürsten stellte. Es findet sich der Versuch, durch eine Fürstenversammlung einen Landfrieden zu vereinbaren. Rituell unkorrekt war nach der Theorie ein Krieg gegen einen in Trauer oder gegen einen in Not befindlichen, namentlich einen durch Hungersnot bedrängten Nachbarfürsten; gegenüber diesem statuierte die Theorie die brüderliche Nothilfepflicht als ein den Geistern wohlgefälliges Werk. Wer seinen Lehensoberen Böses zufügte oder für eine ungerechte Sache focht, gewann keinen Platz im Himmel und Ahnentempel23). Die Ansage von Ort und Zeit der Schlacht galt als Rittersitte. Der Kampf musste irgendwie zur Entscheidung gebracht werden: „man muss wissen, wer Sieger und Besiegter ist24)", denn der Kampf war Gottesurteil.
Die Praxis der Fürstenpolitik sah freilich in der Regel wesentlich anders aus. Sie zeigte einen rücksichtslosen Kampf der großen und kleinen Vasallen gegeneinander; die Untervasallen benutzten jede Gelegenheit sich selbständig zu machen, die großen Fürsten warteten ausschließlich auf jede Chance, die Nachbarn zu überfallen, und die ganze Epoche war ein Zeitalter von - nach den Annalen zu schließen - unerhört blutigen Kriegen. Die Theorie war gleichwohl nicht bedeutungslos, sondern wichtig als Ausdruck der Kultureinheit. Deren Träger wurden: die Literaten, d.h. die Schriftkundigen, deren sich die Fürsten im Interesse der Rationalisierung ihrer Verwaltung im Machtinteresse in ähnlicher Art bedienten, wie die indischen Fürsten der Brahmanen und die okzidentalen Fürsten der christlichen Kleriker. Noch die Oden aus dem 7. Jahrhundert besingen nicht: Weise und Literaten, sondern: Krieger. Der stolze altchinesische Stoizismus und die völlige Ablehnung der „Jenseits"-Interessen war eine Erbschaft dieser militaristischen Epoche. Aber für 753 wird die Ernennung eines offiziellen Hofannalisten (und das hieß auch: Hofastronomen) im Tsin-Staat erwähnt. Die „Bücher" - Ritualbücher und Annalen (Sammlungen von Präzedenzfällen) - der Fürsten begannen, auch als Beuteobjekte, eine Rolle zu spielen25), und die Bedeutung der Literaten stieg sichtlich. Sie führten die Rechnungen und die diplomatische Korrespondenz der Fürsten, von welcher die Annalistik zahlreiche (vielleicht als Paradigmata redigierte) Beispiele erhalten hat; sie gaben die meist recht „machiavellistischen" Mittel an, auf kriegerischem und diplomatischem Wege die Nachbarfürsten zu überwinden, schmiedeten die Allianzen und sorgten für die Kriegsbereitschaft. Vor allem durch rationale Heeresorganisation, Magazin- und Steuerpolitik: es ist offenbar, dass sie als Rechnungsführer der Fürsten dazu befähigt waren26). Die Fürsten suchten sich gegenseitig in der Wahl der Literaten zu beeinflussen, sie sich abspenstig zu machen, die Literaten ihrerseits korrespondierten miteinander, wechselten den Dienst, führten oft eine Art von Wanderleben27) von Hof zu Hof wie etwa okzidentale Kleriker und Laienintellektuelle des ausgehenden Mittelalters. Sie fühlten sich als eine ebenso einheitliche Schicht wie diese.
Die Konkurrenz der Teilstaaten um die politische Macht entband die Rationalisierung der Wirtschaftspolitik der Fürsten28). Sie war das Werk jener Literatenschicht. Ein Literat: Yong, gilt als Schöpfer der rationalen inneren Verwaltung, ein anderer, Wei Jan, als Schöpfer der rationalen Heeresverfassung in demjenigen Teilstaat, der später alle anderen überflügelte. Große Volkszahl und vor allem: Reichtum - des Fürsten wie seiner Untertanen - wurde hier wie im Okzident als Machtmittel politisches Ziel29). Wie im Okzident, so hatten auch hier die Fürsten und ihre literarisch-rituellen Berater den Kampf vor allem gegen ihre eigenen Untervasallen zu führen, von deren Renitenz ihnen das gleiche Schicksal drohte, welches sie ihren eigenen Lehensherren bereitet hatten. Fürstenkartelle gegen die Subinfeudation, die Festlegung des Grundsatzes durch die Literaten: dass die Erblichkeit einer Beamtenstelle rituell anstößig und dass Nachlässigkeit in der Ausführung der Amtspflicht magische Nachteile (frühen Tod) nach sich ziehe30), kennzeichnen die Verdrängung der alten Verwaltung durch Vasallen und also: durch die charismatisch qualifizierten großen Familien, zugunsten der Beamtenverwaltung. Schaffung von fürstlichen Leibgarden31), fürstlich equipierten und verpflegten Heeren mit Offizieren statt der Vasallenaufgebote brachten in Verbindung mit der Steuer- und Magazinpolitik die entsprechende Umwälzung auf militärischem Gebiet. Der ständische Gegensatz der großen charismatisch qualifizierten Sippen: derjenigen, welche dem Fürsten auf ihren Kriegswagen mit ihrem Gefolge in das Feld folgten, gegenüber dem gemeinen Volk, wird in der Annalistik überall als selbstverständlich vorausgesetzt. Es bestanden feste Kleiderordnungen32); die „großen Familien" suchten durch Ehepolitik33) ihre Stellung zu sichern, und auch die rationalen Ordnungen der Teilstaaten, z.B. diejenigen Yongs im Tsin-Staate, hielten die Ständescheidung fest. „Edle" und Volk werden stets geschieden, - wobei jedoch deutlich hervortritt: dass unter „Volk" freie, nur von der Lehenshierarchie, dem Ritterkampf und der Ritterbildung ausgeschlossene Plebejersippen, nicht etwa: Hörige, zu verstehen sind. Es findet sich34) eine von den Edlen abweichende politische Stellungnahme des „Volks". Immerhin wird sich uns später zeigen, dass die Lage der Masse der Bauern prekär war und erst die Entwicklung der Patrimonialstaaten hier wie überall die Fürsten mit den nicht privilegierten Schichten gegen den Adel zusammenführte.
Der Kampf der Teilstaaten verringerte deren Zahl zunehmend auf einen immer kleineren Kreis rational verwalteter Einheitsstaaten. Schließlich gelang es im Jahre 221 dem Fürsten von Tsin, nach Verdrängung der nominellen Dynastie und aller ändern Vasallen als „erster Kaiser" ganz China dem „Reich der Mitte", dem Patrimonium des Herrschers, einzuverleiben, d.h. der eigenen Beamtenverwaltung zu unterstellen. Eine echte „Selbstherrschaft", unter Beseitigung des alten feudalen Kronrats, mit zwei Großwesiren (nach Art derpraefecti praetorio), Scheidung der Militär- von den Zivilgouverneuren (nach Art der spätrömischen Institutionen), beide überwacht von fürstlichen Aufsichtsbeamten (nach persischer Art), aus denen später die reisenden „Zensoren" (missi dominici) entwickelt wurden, und streng bureaukratische Ordnung mit Avancement nach Verdienst und Gnade bei allgemeiner Zulassung zum Amt traten an die Stelle der alten theokratisch-feudalen Ordnung. Für diese „Demokratisierung" des Beamtentums wirkte dabei nicht nur das überall wirksam gewesene natürliche Bündnis des Selbstherrschers mit den Plebejerschichten gegen die ständisch Vornehmen, sondern auch ein finanzielles Moment: Es ist, wie schon bemerkt, kein Zufall, dass die Annalistik diesem „ersten Kaiser" (Schi Hoang Ti) die erstmalige Praktizierung des Ämterverkaufs zuschreibt. Dieser musste ja die Folge haben: bemittelte Plebejer in die Staatspfründen zu bringen. Indes der Kampf gegen den Feudalismus war prinzipiell. Alle Verlehnung politischer Macht, auch innerhalb der Sippe des Kaisers, wurde verboten. Die ständische Gliederung blieb zwar unangetastet35). Aber mit der Etablierung einer festen Ämterhierarchie, für welche die Vorstufen schon in einigen der Teilstaaten geschaffen worden waren, steigerte sich die Chance des Aufstiegs von Beamten niederer Herkunft. Tatsächlich setzte sich das neue Kaisertum gegen die feudalen Gewalten mit Hilfe plebejischer Mächte durch. Bis dahin war Leuten plebejischer Abkunft der Aufstieg zu politischem Einfluss nur innerhalb der Schicht der Literaten unter besonderen Umständen möglich gewesen. Es finden sich in den Annalen der Teilstaaten seit dem Beginn der Rationalisierung der Verwaltung Beispiele von fürstlichen Vertrauensmännern armer und unedler Abkunft, welche ihre Stellung nur ihrem Wissen verdankten36), und die Literaten beanspruchten kraft dieser ihrer Fähigkeiten und der Beherrschung der Riten für die höchsten Ämter den Vorzug selbst vor den nächsten Angehörigen der Fürsten37). Aber nicht nur war diese Stellung von den großen Vasallen nicht unbestritten, sondern in aller Regel fand sich der Literat in einer unoffiziellen Stellung, als eine Art von Minister ohne Portefeuille oder, wenn man will, von „Beichtvater" des Fürsten, und im Kampf mit dem Lehensadel, der hier, wie auch im Okzident, die Heranziehung von Fremden bei der Besetzung der Ämter, welche er selbst zu monopolisieren trachtete, bekämpfte. In den ersten Jahren Schi Hoang Ti's - im Jahre 237, noch vor Einigung des Reichs - findet sich denn auch eine Austreibung der fremdbürtigen Literaten (und Händler) berichtet. Aber die Machtinteressen des Fürsten führten ihn zunächst zum Widerruf dieser Maßregel38) und sein erster Minister blieb seitdem ein Literat, der sich selbst als Parvenü niederer Abkunft bezeichnet. Nach der Einigung des Reichs aber wendete sich der rationale traditionsfeindliche Absolutismus des Selbstherrschers - wie er auch in seinen Inschriften deutlich zutage tritt39) - mit Wucht auch gegen die soziale Macht der Bildungsaristokratie der Literaten. Das Altertum sollte nicht über die Gegenwart und seine Interpreten nicht über den Monarchen herrschen: „der Kaiser ist mehr als das Altertum"40). In einer gewaltigen Katastrophe suchte er - wenn wir der Überlieferung glauben können - die gesamte klassische Literatur und den Literatenstand selbst zu vernichten. Die heiligen Bücher wurden verbrannt und angeblich 460 Literaten lebendig begraben. Das damit inaugurierte Hereinbrechen des reinen, auf persönliche Günstlinge ohne Rücksicht auf Herkunft oder Bildung sich stützenden, Absolutismus kennzeichnete die Ernennung eines Eunuchen zum Großmeister des Haushalts41) und zum Lehrer des zweiten Sohnes, den nach dem Tode des Kaisers der Eunuch in Gemeinschaft mit dem Parvenuliteraten gegen den ältesten Sohn und den Kommandierenden des Heeres auf den Thron hob. Die von der Bildungsaristokratie der Literaten fortan durch alle Jahrhunderte des Mittelalters mit wechselndem Erfolg stets bekämpfte Günstlingswirtschaft des reinen orientalischen Sultanismus mit ihrer Verbindung von ständischer Nivellierung und absoluter Autokratie schien nun über China hereinzubrechen. Der Kaiser hatte, als Ausdruck der Stellung, die er beanspruchte, den alten Namen „Volk" (Min) für die Gemeinfreien beseitigt und den Namen Kien tscheu, „Schwarzköpfe", sicherlich gleichbedeutend mit: „Untertanen", an die Stelle gesetzt. Die kolossale Anspannung der Fronlasten42) für die kaiserlichen Bauten erforderte die rücksichtslose ungefesselte Disposition über die Arbeitskräfte und Steuerkräfte43) des Landes, nach Art des pharaonischen Reichs. Andererseits wird von dem unter Schi Hoang Ti's Nachfolger allmächtigen Palasteunuchen ausdrücklich berichtet44), dass er empfohlen habe, die Herrscher sollten sich mit dem „Volk" verbinden und die Ämter ohne Rücksicht auf Stand oder Bildung vergeben; es sei jetzt die Zeit, wo der Säbel herrschen müsse, nicht aber feine Manieren: ganz dem typischen orientalischen Patrimonialismus entsprechend. Der Kaiser wehrte andrerseits den Versuch der Magier45) ab, ihn - unter dem Vorwand der Erhöhung seines Prestiges - „unsichtbar" zu machen, d.h. wie den Dalai Lama zu internieren und die Verwaltung ganz in die Hände der Beamten zu legen, behielt sich vielmehr die „Selbstherrschaft" im eigentlichsten Sinn vor.
Die gewaltsame Reaktion gegen diesen schroffen Sultanismus kam gleichzeitig teils von Seiten der alten Familien, teils von seilen des Literatenstandes, teils von seilen des durch die Schanzarbeit erbitterten Heeres und der durch Rekrutierung, Fronden und Abgaben überlasteten Bauernsippen unier der Führung von Männern niederer Herkunft46). Nicht die vornehmen Schichten aber, sondern ein Parvenü errang den Sieg, stürzte die Dynastie und begründete, während das Reich zunächst wieder in Teilstaaten zerfiel, die Macht der neuen Dynastie, welche das Reich wieder einte. Aber der Erfolg fiel schließlich doch wiederum den Literaten zu, deren rationale Wirtschafts- und Verwaltungspolitik auch diesmal für die Herstellung der Kaisermacht ausschlaggebend und der von ihnen stets bekämpften Günstlings- und Eunuchenverwallung damals technisch überlegen war. Vor allem wirkte aber das gewaltige Prestige ihrer Ritual- und Präzedenzienkenntnis und ihrer - damals noch eine Art von Geheimkunst bildenden - Schriftkunde entscheidend in dieser Richtung.
Schi Hoang Ti halle Einheit der Schrift, des Maßes und Gewichtes, der Gesetze und Verwallungsreglements geschaffen oder doch erstrebt. Er rühmte sich, den Krieg abgeschafft47) und Frieden und innere Ordnung gestiftet, dies alles durch „Arbeit Tag und Nacht" erreicht zu haben48). Von der äußeren Einheitlichkeit blieb nicht alles erhallen. Aber das Wichtigste war die Abschaffung des Feudalsystems und die Durchführung eines Regiments von durch persönliche Eignung qualifizierten Beamten. Als Frevel an der alten theokratischen Ordnung von den Literaten verwünscht, wurden diese patrimonialistischen Neuerungen doch von der Restauration der Han-Dynastie beibehalten und kamen schließlich nur den Literaten zugute.
Rückschläge in den Feudalismus sind auch weil später noch eingetreten. In der Epoche Se Ma Tsien's (2. Jahrhundert vor Chr.), unter den Kaisern Tschu fu yen und U, musste der neuerstandene Feudalismus abermals niedergeworfen werden, der zuerst aus der Verlehnung von Ämtern an kaiserliche Prinzen wieder entstanden war. Zunächst wurden kaiserliche Ministerresidenten an die Höfe der Vasallen zur Überwachung geschickt, dann die Ernennung aller Beamten an den kaiserlichen Hof gezogen, dann (127 vor Chr.) die Erbteilung der Lehen verfügt, um die Macht der Vasallen zu schwächen, schließlich (unter U) niedrig Geborenen (darunter einem gewesenen Schweinehirten) die bisher vom Adel beanspruchten Hofämter verliehen. Gegen die letzte Maßregel opponierte der Adel heftig, die Literaten aber setzten (124 vor Chr.) durch, dass ihnen die hohen Ämter vorbehalten blieben. Wir werden später sehen, wie in diese für Chinas politische und kulturliche Struktur entscheidenden Kämpfe der Gegensatz der konfuzianischen Literaten gegen den - damals mit den Aristokraten, später mit den Eunuchen verbündeten, literatenfeindlichen und der Volksbildung im Interesse ihrer Magie abgeneigten - Taoismus hineinspielte. Zum endgültigen Austrag kam der Kampf auch damals nicht. In der Standesethik des Konfuzianismus wirkten feudale Reminiszenzen stark nach. Für Konfuzius selbst darf als unausgesprochene, aber selbstverständliche, Voraussetzung unterstellt werden: dass die klassische Bildung, welche er als entscheidende Voraussetzung der Zugehörigkeit zum Herrenstande verlangte, der Tatsache nach auf die herrschende Schicht der überlieferten „alten Familien" beschränkt sei, zum mindesten der Regel nach. Auch der Ausdruck: Kiün tse, „fürstlicher Mann", für den konfuzianisch Gebildeten stammt - ursprünglich den „Helden", aber allerdings schon bei Konfuzius selbst den „Gebildeten" bedeutend - aus der Periode ständischer Herrschaft jener erbcharismatisch zur politischen Gewalt qualifizierten Sippen. Immerhin konnte dem neuen Prinzip des „aufgeklärten" Patrimonialismus: dass das persönliche Verdienst, und nur dieses, zu den Ämtern, einschließlich selbst des Herrscheramts, qualifiziere, die Anerkennung nicht ganz wieder entzogen werden49). Die feudalen Bestandteile der sozialen Ordnung traten immer stärker zurück, und in allen wesentlichen Punkten wurde doch der Patrimonialismus50), wie sich zeigen wird, die für den Geist des Konfuzianismus grundlegende Strukturform.
Wie bei ausgedehnten patrimonialstaatlichen Gebilden unter unentwickelter Verkehrstechnik durchweg, so blieb auch hier das Maß der Zentralisation der Verwaltung eng begrenzt. Auch nach Durchführung des Beamtenstaates blieb nicht nur der Gegensatz der „inneren", d.h. im altkaiserlichen Patrimonium angestellten, zu den „äußeren", den Provinzialbeamten und der Rangunterschied beider bestehen, sondern es blieb - mit Ausnahme einer Anzahl der höchsten Ämter in jeder Provinz - die Ämterpatronage und vor allem, nach stets neuen vergeblichen Zentralisationsversuchen, fast die gesamte Finanzwirtschaft schließlich den einzelnen Provinzen überlassen. Darum ist freilich in allen großen Finanzreformperioden immer erneut gekämpft worden. Wang-An-Schi (11. Jahrhundert) ebenso wie andre Reformer haben die effektive Durchführung der Finanzeinheit: Ablieferung aller Steuererträge nach Abzug der Kosten der Erhebung und: Reichsbudget, gefordert. Die ungeheuren Transportschwierigkeiten und das Interesse der Provinzialbeamten haben stets wieder Wasser in diesen Wein gegossen. Außer unter ganz ungewöhnlich energischen Herrschern haben die Beamten - wie schon die Zahlen der publizierten Katastrierungen ergaben - ganz regelmäßig sowohl die steuerpflichtige Fläche als die Kopfzahl der Zensiten um ca. 40% zu niedrig angegeben51). Die lokalen und provinzialen Unkosten mussten ferner natürlich vorabgezogen werden. Dann aber ergab sich für den Zentralfiskus eine höchst schwankende Resteinnahme. Schließlich kapitulierte er: Die Statthalter wurden seit Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart wenigstens der Tatsache nach ähnlich den persischen Satrapen auf einen in Normalpauschalien festgesetzten, nur theoretisch nach Bedarf variablen, Tribut gesetzt. Davon wird noch zu reden sein. Diese Steuerkontingentierung hatte Folgen für die Machtstellung der Provinzialstatthalter auf allen Gebieten.
Sie präsentierten die meisten Beamten des Bezirkes zur Anstellung. Diese erfolgte zwar durch die Zentralgewalt. Aber schon die kleine Zahl der offiziellen Beamten52) führt zu dem Schluss: dass unmöglich sie selbst die Verwaltung ihrer riesigen Sprengel zu führen in der Lage sein konnten. Bei den schlechthin alles umfassenden Pflichten eines chinesischen Beamten konnte ein Bezirk vom Umfang eines preußischen Kreises, der einen Beamten hatte, selbst von Hunderten solcher nicht sachgemäß verwaltet werden. Das Reich glich einer Konföderation von Satrapien mit pontifikaler Spitze. Die Macht lag formell - auch nur: formell - bei den großen Provinzialbeamten. Die Kaiser ihrerseits aber verwendeten nach der Schaffung der Reichseinheit in ingeniöser Weise die dem Patrimonialismus eigentümlichen Mittel der Erhaltung ihrer persönlichen Gewalt: kurze Amtsfristen: offiziell drei Jahre, nach deren Ablauf der Beamte in eine andere Provinz versetzt werden sollte53), Verbot der Anstellung eines Beamten in seiner Heimatprovinz, Verbot der Anstellung von Verwandten im gleichen Sprengel, und ein systematisches Spionagesystem in Gestalt der sogenannten „Zensoren". All dies aber, ohne damit - aus gleich zu erwähnenden Gründen, -sachlich eine präzise Einheitlichkeit der Verwaltung herzustellen. Das Prinzip, in den zentralen Kollegialbehörden den Präsidenten des einen Yamen zugleich als Mitglied anderer Kollegien anderen zu unterstellen, hemmte die Präzision der Verwaltung, ohne die Einheitlichkeit wesentlich zu fördern. Erst recht versagte sie gegenüber den Provinzen. Die einzelnen großen lokalen Verwaltungsbezirke bestritten, sahen wir -mit gelegentlichen Unterbrechungen in Zeiten starker Herrscher - ihre heimischen Ausgaben aus den Steueraufkünften vorab und machten falsche Katasterangaben. Soweit die Provinzen finanziell - als Militär- oder Arsenalstandorte - „passiv" waren, bestand ein verwickeltes System von Anweisungen auf die Einnahmen der Überschussprovinzen und im übrigen kein verlässlicher Etat, weder der Zentrale noch der Provinzen, sondern traditionelle Appropriationen. Klarer Einblick in die Finanzen der Provinzen fehlte der Zentralgewalt, wir werden sehen mit welchem Resultat. Bis in die letzten Jahrzehnte waren es die Provinzialstatthalter und nicht die Zentralregierung: - die dafür nicht einmal ein Organ besaß -, welche die Verträge mit den fremden Mächten abschlössen. Fast alle wirklich wichtigen Verwaltungsanordnungen gingen formell von den Provinzialstatthaltern, in Wahrheit, wie wir sehen werden, von den ihnen untergeordneten, und zwar den unoffiziellen, Beamten aus. Die Anordnungen der Zentralgewalt wurden daher bis in die Gegenwart von den Unterinstanzen oft mehr als ethisch maßgebliche Vorschläge oder Wünsche, denn als Befehle behandelt, wie dies ja der pontifikalen, charismatischen, Natur des Kaisertums entsprach. Sie stellten auch inhaltlich, wie jeder Blick zeigt, mehr Kritiken der Amtsführung als Anordnungen dar. Der einzelne Beamte persönlich war freilich jederzeit frei absetzbar. Aber die reale Macht der Zentralgewalt zog davon keinen Vorteil. Denn das Prinzip: keinen Beamten in seiner Heimatprovinz anzustellen, und der vorschriftsmäßige dreijährige Wechsel von Provinz zu Provinz oder doch von Amt zu Amt, führte zwar dazu, dass diese Beamten der Zentralgewalt gegenüber nicht zu selbständigen Mächten nach Art feudaler Vasallen emporwuchsen und dass also die äußerliche Einheit des Reichs erhalten blieb. Aber um den Preis: dass diese offiziellen Beamten in ihren Amtssprengeln niemals bodenständig wurden. Der Mandarin, welcher, begleitet von einer ganzen Schar von Sippengenossen, Freunden und persönlichen Klienten, sein Amt in einer ihm unbekannten Provinz antrat, deren Dialekt er in aller Regel nicht verstand, war zunächst schon sprachlich meist auf die Dienste eines Dolmetschers angewiesen. Er kannte ferner das örtliche Recht der Provinz nicht, welches auf zahlreichen Präzedenzfallen beruhte, die er - da sie der Ausdruck heiliger Tradition waren - nicht ohne Gefahr zu verletzen wagen durfte. Und er war deshalb völlig abhängig von den Belehrungen eines unoffiziellen, ebenso wie er selbst literarischen, aber mit den örtlichen Gewohnheiten kraft örtlicher Abstammung genau vertrauten Beraters, einer Art von „Beichtvater", der als sein „Lehrer" bezeichnet und von ihm mit Respekt, oft mit Devotion, behandelt wurde. Nächstdem war er abhängig von seinen nicht zu den offiziellen, vom Staat bezahlten, dem Fremdbürtigkeitszwang unterliegenden Beamten, sondern zu dem von ihm aus seiner Tasche zu bezahlenden unoffiziellen Beamtenstab gehörigen Gehilfen. Diese wählte er naturgemäß aus der Zahl der aus der Provinz gebürtigen, zum Staatsdienst qualifizierten, aber noch nicht mit einem Amt beliehenen Amtsanwärter, auf deren örtliche Personen- und Sachkunde er sich verlassen konnte, aber auch, in Ermangelung aller eigener Orientiertheit, musste. Und endlich war er, wenn er einen Gouverneurposten in einer neuen Provinz übernahm, abhängig von der geschulten Sach- und Ortskunde der Chefs der üblichen Ressorts54) jeder Provinz, welche immerhin einige Jahre Kenntnis der örtlichen Verhältnisse vor ihm voraus hatten. Es ist völlig klar, was die Folge sein musste: die wirkliche Macht lag in der Hand jener unoffiziellen, ortsgebürtigen Unterbeamten, welche in ihrer Geschäftsführung zu kontrollieren und zu korrigieren ganz außerhalb der Macht der offiziellen Beamten lag, und ihnen um so weniger möglich war, je höher ihr eigener Rang war. Die Orientiertheit sowohl der von der Zentralverwaltung angestellten Lokal- wie der Zentralbeamten über die lokalen Verhältnisse war daher viel zu labil, um konsequent und rational durchgreifen zu können.
Das weltberühmte und höchst wirksame Mittel des chinesischen Patrimonialismus, eine feudal-ständische Emanzipation der Amtsträger von ihrer Macht zu unterbinden: die Einführung der Examina und die Verleihung der Ämter nach Bildungsqualifikationen, statt nach Geburt und ererbtem Rang, war zwar für den Charakter der chinesischen Verwaltung und Kultur von einschneidendster Bedeutung, wie später zu besprechen sein wird. Aber einen präzis funktionierenden Mechanismus in den Händen der Zentralinstanz vermochte man angesichts jener Verhältnisse dadurch nicht herzustellen. Wir werden aber, wenn wir auf die Beamtenbildung näher zu sprechen kommen, sehen, dass dem auch Hindernisse, die aus der innersten Eigenart der (zum Teil religiös bedingten) Standesethik des Beamtentums folgten, sich in den Weg stellten. Die Patrimonialbureaukratie war zwar in China wie im Okzident der feste Kern, an dessen Entfaltung die Bildung des Großstaats anknüpfte. Das Auftreten von Kollegialbehörden und die Entwicklung von „Ressorts" waren dabei hier wie dort die typischen Erscheinungen. Aber der „Geist" der bureaukratischen Arbeit war hier und dort - wie wir sehen werden - ein überaus verschiedener.
Soweit dieser abweichende „Geist" auf rein soziologischen Momenten beruhte, hing er mit dem System der öffentlichen Lasten zusammen, wie es sich in China in Verbindung mit dem Schwanken der Geldwirtschaft entwickelt hatte.
Der ursprüngliche Zustand war hier wie anderwärts der: dass dem Häuptling bzw. Fürsten ein Ackerlos (Kong tien, dem homerischen ? [griechisches Wort] entsprechend) ausgewiesen und von den Volksgenossen gemeinsam bestellt wurde55). Hier liegt der Ursprung der allgemeinen Fronpflicht, die dann in der zwingenden Notwendigkeit der Wasserbauten ihre weitere Stütze fand. Diese „Schaffung" des Landes durch die Strombauverwaltung legte auch den immer wieder auftauchenden und noch jetzt (wie in England) terminologisch erhaltenen Gedanken des Bodenregals des Kaisers nahe, - der aber die Scheidung verpachteter Domänen und besteuerten Privatlandes hier so wenig wie in Ägypten hinderte. Die Steuern andrerseits scheinen sich teils -nach einzelnen Resten in der Terminologie - aus den üblichen Geschenken, teils aus Tributpflichten Unterworfener, teils aus dem Bodenregalanspruch entwickelt zu haben. Staatsland, Steuerpflicht, Fronpflicht standen in wechselnden Relationen dauernd nebeneinander. Was von ihnen vorwog, richtete sich teils nach dem jeweiligen Grade der - wie wir sahen, aus Valutagründen höchst labilen - Geldwirtschaft des Staats, teils nach dem Grade der Befriedung, teils schließlich nach dem Maß der Verläßlichkeit des Beamtenapparats.
Die ursprüngliche Herkunft des Patrimonialbeamtentums aus der Vorflut- und Kanalisierungsarbeit, also aus dem Bauwesen, die Herkunft der Machtstellung des Monarchen aus den, zunächst im Wasserregulierungsinteresse, unumgänglichen Fronden der Untertanen (wie in Ägypten und Vorderasien), die Herkunft des Einheitsreichs aus dem immer weiter um sich greifenden Interesse an Einheitlichkeit dieser Wasserregulierung für immer größere Gebiete im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach politischer Sicherung des Kulturlandes gegen die Nomadeneinbrüche drücken sich anschaulich darin aus, dass nach der Legende der „heilige" (legendäre) Kaiser Yü die Vorflut und den Kanalbau reguliert, und der erste rein bureaukratische Herrscher, der „Schi Hoang Ti", zugleich als größter Bauherr für Kanäle, Straßen und Festungen und, vor allem, als Erbauer der großen Mauer galt (die in Wahrheit von ihm nur zu einem gewissen Abschluss gebracht wurde). Diese Bauten dienten sämtlich, neben der Bewässerung, fiskalischen, militärischen und Verproviantierungsinteressen, der berühmte Kaiserkanal vom Yangtse zum Hoangho z.B. dem Transport des Reistributs aus dem Süden nach der neuen Hauptstadt (Peking) des Mongolenkhans56). 50000 Fronarbeiter waren in einem bestimmten Zeitpunkt nach einem amtlichen Bericht an der Eindeichung eines Flusses beschäftigt, und die Bauzeiten erstreckten sich über viele Jahrhunderte stückweiser Fertigstellung. Als die eigentlich ideale Form der Deckung des öffentlichen Bedarfes galt noch dem Mencius die Fron und nicht die Steuer. Wie in Vorderasien siedelte der König seine Untertanen trotz ihres Widerstandes um, nachdem die Divination den geeigneten Ort für eine neue Hauptstadt bezeichnet hatte. Teils strafweise Deportierte, teils im Wege der Zwangsrekrutierung beschaffte Soldaten bewachten die Deiche und Schleusen und stellten einen Teil der Arbeitskräfte für die Bauten und Rodungen. Schritt für Schritt wurde in den Grenzprovinzen des Westens durch die Arbeitskräfte des Heeres der Wüste Boden abgewonnen57). Schwermütige Klagen über die furchtbare Last dieses eintönigen Schicksals, vor allem bei den Fronden an der großen Mauer, finden sich in erhaltenen Gedichten58). Die klassische Lehre musste sehr nachdrücklich gegen die Vergeudung der Untertanenfronden zu privaten fürstlichen Bauzwecken nach ägyptischer Art Front machen, welche auch hier die Begleiterscheinung der Entwicklung einer bureaukratischen Organisation der öffentlichen Arbeiten war. Anderseits: sobald das Fronsystem in Verfall geriet, begann nicht nur in den zentralasiatischen Gebieten das Vordringen der Wüste auf Kosten des ihr abgerungenen, heute völlig versandeten Kulturbodens59), sondern wankte die politische Leistungsfähigkeit des Reichs überhaupt. Über die mangelhafte Bestellung der Krongüter durch die Bauern wird in den Annalen geklagt. Nur Ausnahmepersönlichkeiten vermochten den Fronstaat einheitlich zu organisieren und zu leiten.
Die Fron blieb aber die klassische Form der Staatsbedarfsdeckung. Wie naturalwirtschaftliche (durch Fronden bewirkte) und geldwirtschaftliche (durch Submission bewirkte) Deckung der Staatsbedürfnisse sich praktisch zueinander verhielten, zeigt (für das 17. Jahrhundert) eine Erörterung vor dem Kaiser über die Frage, nach welchem von beiden Systemen gewisse Reparaturen am Kaiserkanal zu bewerkstelligen seien. Man beschloss, die Bauten gegen Geld zu vergeben, da sonst die Reparaturen zehn Jahre in Anspruch genommen hätten60). Eine Entlastung der Zivilbevölkerung wurde immer wieder - in Friedenszeiten - durch Heranziehung des Heeres zum Frondienst versucht61).
Neben den Militärgestellungen, Fronden und Leiturgien finden sich schon in früher Zeit Steuern. Die Fron auf dem Königsland scheint besonders früh (im 6. Jahrhundert v. Chr.) im Teilstaat Tsin abgeschafft zu sein, dessen Herrscher später (irn 3. Jahrhundert v. Chr.) der „erste Kaiser" des Gesamtreiches wurde.
Abgaben haben natürlich schon in weit älterer Zeit existiert. Die Bedürfnisse des kaiserlichen Hofhalts waren, wie fast überall, als spezifische Naturalabgaben auf die einzelnen Gebiete verteilt62), und dies System ist in Resten bis in die Gegenwart erhalten geblieben. Das Naturalabgabensystem stand mit der Schaffung des patrimonialen Heeres und Beamtentums im engsten Zusammenhang. Denn beide wurden hier wie sonst aus den fürstlichen Magazinen verpflegt, und es entwickelten sich feste Naturalpräbenden. Dennoch war zuweilen auch die Geldwirtschaft des Staats daneben, zum mindesten unter der Han-Dynastie, um den Beginn unserer Zeitrechnung, schon weit vorgeschritten, wie die Urkunden zeigen63). Und dies Nebeneinander von gelegentlichen Fronden (für Bauzwecke vor allem, daneben für Kurierdienste und Verkehr), Natural- und Geldabgaben und Gebühren, mit fürstlicher Oikenwirtschaft für gewisse Luxusbedürfnisse64) des Hofes, hat unter, im allgemeinen, zunehmender Verschiebung nach der Seite der Geldwirtschaft bis in die Gegenwart fortbestanden. Diese Verschiebung nach der Seite der Geldsteuern hat sich auch und vor allem auf die bis in die allerletzte Zeit weitaus wichtigste Steuer: die Grundsteuer, erstreckt, deren interessante Geschichte hier im einzelnen zu verfolgen nicht die Absicht ist63). Wir kommen darauf weiter unten, soweit nötig, bei Erörterung der Agrarverfassung etwas näher zu sprechen. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass auch hier, wie in den Patrimonialstaaten des Okzidents, das gelegentlich stärker differenzierte Steuersystem, weil das nicht in Grund und Boden angelegte Vermögen für die Steuertechnik der extensiven kaiserlichen Verwaltung nicht „sichtbar" blieb, zunehmend in der Richtung der Unifizierung der Steuern durch Verwandlung aller anderen Abgaben in Zuschläge zur Grundsteuer sich entwickelte. Diese Tendenz zur Verflüchtigung alles nicht sichtbaren Besitzes ist vielleicht für die stets erneuten Versuche, den Staatsbedarf tunlichst naturalwirtschaftlich: durch Fronden und Leiturgien, zu decken, mitbestimmend gewesen. Daneben und in Wahrheit wohl in erster Linie auch: die Währungsverhältnisse. Für die Grundsteuer selbst aber galten zwei ebenfalls in extensiv verwalteten Patrimonialstaaten universelle Entwicklungstendenzen: Einmal die zur Umwandlung in Geldabgaben, von welcher auch alle anderen Lasten, insbesondere die Fronden und sonstigen Leiturgien, ergriffen wurden. Ferner aber die Tendenz zur Umwandlung in eine Repartitionssteuer und schließlich in einen fest kontingentierten Tribut, der auf die Provinzen nach festem Maßstabe verteilt wurde. Der ungemein wichtige Vorgang wurde schon einmal kurz berührt. Die Befriedung des Reichs unter der Mandschu-Dynastie gestattete dem Hof den Verzicht auf bewegliche Einkünfte und führte zu dem berühmten, als Quelle der neuen Blüte Chinas im 18. Jahrhundert gepriesenen Edikt von 1713, welches die Grundsteuerpflichtigkeiten der Provinzen - der Absicht nach - in feste Abgaben verwandelte. Wir werden davon gleich zu reden haben. Neben der Grundsteuer spielten namentlich die Salzgabelle, die Bergwerke und erst in letzter Linie die Zölle eine Rolle in den Einkünften der Zentral Verwaltung. Auch für sie wurde aber der nach Peking abzuführende Betrag tatsächlich ein traditionell feststehender. Erst die Kriege mit europäischen Mächten und die finanzielle Notlage im Gefolge der Taiping-Revolution (1850-64) ließen die „Likin"-Zölle unter der glänzenden Finanzverwaltung Sir Robert Harts in den Vordergrund der Finanzen des Reichs treten.
Die Befriedung des Reichs im Zusammenhang mit dieser Steuerkontingentierung und ihren Folgen: der Entbehrlichkeit und dem Wegfall der Fronausnutzung, des Passzwangs und aller Freizügigkeitsschranken, aller Kontrolle über Berufswahl, Hausbesitzverhältnisse und Produktionsrichtung, hat eine gewaltige Vermehrung der Bevölkerung im Gefolge gehabt. Während es scheint, dass die nach den freilich zum Teil äußerst problematischen Katasterziffern sehr stark schwankende Volksdichte Chinas zu Beginn der Mandschu-Herrschaft nicht wesentlich höher war als unter Schi-Hoang-Ti fast 1900 Jahre zuvor, jedenfalls aber die angebliche Volkszahl jahrhundertelang zwischen 50 und 60Millionen schwankte, wuchs sie von Mitte des 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts von 60 auf etwa 350-400Millionen66), entfaltete sich der sprichwörtliche chinesische Erwerbstrieb im kleinsten wie im größten und wurden auch sehr bedeutende Einzelvermögen akkumuliert. Was nun aber als etwas höchst Auffallendes an dieser Epoche erscheinen muss, ist: dass trotz dieser erstaunlichen Entwicklung der Volkszahl und ihres materiellen Befindens nicht nur die geistige Eigenart Chinas in eben dieser Zeit gänzlich stabil blieb, sondern auch auf ökonomischem Gebiet, trotz jener scheinbar so überaus günstigen Bedingungen, nicht der geringste Ansatz zu einer modern-kapitalistischen Entwicklung sich findet. dass ferner auch der einst bedeutende Eigenhandel Chinas nach außen keinerlei Neubelebung erfuhr, sondern nur Passivhandel in einem einzigen, den Europäern unter strenger Kontrolle geöffneten Hafen (Kanton) stattfand. dass auch von einem von innen, aus eigenem kapitalistischen Interesse der Bevölkerung heraus, entstandenen Streben, diese Schranke zu sprengen, nicht das mindeste (sondern ausschließlich: das Gegenteil) bekannt ist. Und dass überhaupt auf dem Gebiet der Technik, Wirtschaft und Verwaltung auch nicht die geringste, im europäischen Sinn, „fortschrittliche" Entwicklung einsetzte, vollends aber die Steuerkraft des Reichs, wenigstens dem Anschein nach, keinem ernsten Stoß gewachsen war, als die Erfordernisse der Außenpolitik dies gebieterisch erheischt hätten. Wie ist dies alles angesichts jener bei aller Kritik doch nicht zu bezweifelnden ganz ungewöhnlich mächtigen Volkszunahme zu erklären? Das ist unser Zentralproblem.
Es hatte sowohl ökonomische wie geistige Ursachen. Die ersteren, von denen jetzt zunächst zu sprechen ist, waren durchaus staatswirtschaftlicher und also politisch bedingter Natur, teilten aber mit den „geistigen" den Umstand: dass sie aus der Eigenart der führenden Schicht Chinas: des Beamten- und Amtsanwärterstandes (der „Mandarinen"), hervorgingen. Von ihnen ist jetzt zu reden, und zwar zunächst von ihrer materiellen Lage.
Der chinesische Beamte war, sahen wir, zunächst auf Naturalpräbenden aus den königlichen Magazinen angewiesen. Später traten in zunehmendem Maß Geldgehalte an die Stelle. So blieb es. Formell also zahlte die Regierung ihren Beamten Gehalt. Aber einmal zahlte sie nur einem kleinen Bruchteil der wirklich in der Verwaltung tätigen Kräfte aus ihren eigenen Mitteln Gehalt, und dann bildete dies Gehalt nur einen kleinen, oft geradezu einen verschwindenden Teil ihres Einkommens. Der Beamte hätte davon gar nicht leben und noch weniger die ihm amtlich obliegenden Kosten der Verwaltung daraus bestreiten können. Das Verhältnis war vielmehr in Wahrheit stets dies: dass der Beamte, ebenso wie ein Feudalherr oder Satrap, der Zentralregierung (und der Unterbeamte der Provinzialregierung) für die Ablieferung bestimmter Abgabenbeträge haftete, seinerseits aber fast alle Kosten seiner Verwaltung aus den von ihm wirklich erhobenen Abgaben: Steuern und Gebühren, bestritt und den Überschuss für sich behielt. So wenig dies, in voller Konsequenz wenigstens, offiziell anerkanntes Recht war, so zweifellos galt es tatsächlich, und zwar definitiv infolge der seit der Kontingentierung der Regierungseinnahmen bestehenden Verhältnisse.
Die sogenannte Fixierung der Grundsteuer im Jahre 1713 war der Sache nach eine finanzpolitische Kapitulation der Krone vor den Amtspfründnern. Denn in Wahrheit wurde ja nicht etwa die Steuerpflichtigkeit der Grundstücke in eine feste Grundrente verwandelt (wie z.B. in England), sondern es wurde vielmehr dasjenige, was den Provinzialbeamten von der Zentralverwaltung als Steueraufkommen ihres Bezirks angerechnet wurde: der Betrag also, von welchem sie einen Pauschalquotienten als Tribut an die Krone abzugeben hatten, fixiert und so - auf den Effekt gesehen - nur die Höhe der Besteuerung der Pfründen dieser Satrapen durch die Zentralverwaltung für alle Zeiten festgelegt67). Dem genuinen Charakter aller spezifisch patrimonialen Verwaltung entsprechend wurde das Einkommen, welches der Beamte aus der Verwaltung seines Bezirks zog, als seine Pfründe behandelt, die von seinen Privateinkünften nicht wirklich geschieden war68). Die Inhaber der Amtspfründen ihrerseits dagegen waren soweit wie möglich davon entfernt, die Grundsteuer (oder irgendwelche andere Flüchtigkeit) der Steuerzahler als in ihrem Gesamtaufkommen pauschaliert zu behandeln. Und es konnte auch praktisch gar keine Rede davon sein, dass die Reichsregierung eine solche Festlegung hätte ernstlich beabsichtigen können. Der Amtsinhaber musste ja, wiederum dem patrimonialen Prinzip entsprechend, von den ihm zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht nur alle sachlichen Bedürfnisse der bürgerlichen Verwaltung und Rechtspflege seines Bezirks bestreiten, sondern, und zwar vor allem, auch seinen unoffiziellen - von Kennern selbst für die kleinste Verwaltungseinheit (hsien) auf zwischen 30 und 300 schwankend geschätzten, gar nicht selten aus dem Abhub der Bevölkerung rekrutierten - Beamtenstab, ohne den er, wie wir sahen, in der ihm fremden Provinz die Verwaltung zu führen gar nicht in der Lage war. Seine persönlichen waren von den Verwaltungsausgaben nicht geschieden. Die Zentralverwaltung hatte also keinerlei Übersicht über die wirklichen Bruttoeinkünfte der einzelnen Provinzen und Bezirke, die Provinzialstatthalter keine über diejenigen der Präfekten usw. Auf seilen der Steuerzahlenden andererseits stand nur der eine Grundsatz fest: sich nach Möglichkeit der Erhebung nicht traditionell feststehender Abgaben zu widersetzen, und wir werden sehen, dass und warum sie dies innerhalb weiter Grenzen mit großem Erfolg zu tun in der Lage waren. Indessen abgesehen von der prekären Natur dieses wesentlich von der Machtlage abhängigen Widerstands gegen die trotz allem stets erneut versuchten Übererhebungen hatten die Beamten zwei Mittel, die Einkünfte zu steigern. Einmal die Erhebung eines Zuschlags für die Erhebungskosten (mindestens 10%) und für jegliche Nichtinnehaltung des Termins, mochte diese vom Schuldner freiwillig oder unfreiwillig oder (und oft genug) geradezu absichtlich durch die Beamten herbeigeführt sein. Dann aber und namentlich: die Umwechslung der Naturalsteuer in Geld, der Geldsteuer zuerst in Silber, dann wieder in Kupfer und nochmals in Silber, zu wechselnden Kursen, deren Bestimmung der Steuereinnehmer sich vorbehielt69). Vor allen Dingen aber ist zu bedenken, dass jegliche Amtshandlung eines Beamten, nach patrimonialen Grundsätzen, durch „Geschenke" zu entgelten war und gesetzliche Gebührentarife nicht existierten. Mit Einschluss dieser Extraverdienste war die Gesamtbruttoeinnahme des Beamten dazu da, zunächst die sachlichen Unkosten seines Amtes und die diesem obliegenden Verwaltungsaufgaben vorab zu bestreiten. Der Bruchteil, den diese eigentlichen „Staats"-Ausgaben der inneren Verwaltung ausmachten, war aber meist überaus gering. Demnächst und namentlich aber war dies Bruttoeinkommen des auf der untersten Staffel, unmittelbar an der Steuerquelle selbst, stehenden Beamten nun der Fonds, aus welchem die über ihm stehenden Beamten ihre Einnahmen schöpften. Er hatte an seinen Vorgesetzten abzuführen nicht nur den vergleichsweise recht oft nicht großen Betrag, den nach dem überkommenen Kataster beizubringen ihm oblag. Sondern außerdem und vor allem hatte er ihm beim Amtsantritt und sodann in regelmäßigen Fristen „Geschenke" zu machen, so hoch wie nur irgend möglich, um dessen für sein eigenes Schicksal maßgebendes Wohlwollen zu erhalten70). Und er hatte dabei dessen unoffizielle Berater und Subalternbeamte, soweit sie von Einfluss auf sein Schicksal sein konnten (bis zum Türhüter herab, wenn er eine Audienz wünschte) mit reichlichen Trinkgeldern zu versehen. Dies setzte sich von Staffel zu Staffel bis zu dem Palasteunuchen fort, der auch von den allerhöchsten Beamten seinen Tribut nahm. Das Verhältnis zwischen offiziell bekanntgegebenem und tatsächlichem Steueraufkommen aus der Grundsteuer allein wird von guten Kennern71) wie 1:4 geschätzt. Das Kompromiss von 1712/ 13 zwischen der Zentralregierung und den Provinzialbeamten entsprach in geldwirtschaftlicher Form etwa der naturalwirtschaftlichen Fixierung der Feudalpflichten im Okzident. Mit dem Unterschiede zunächst: dass es sich in China, wie in allen spezifischen Patrimonialstaaten, nicht um Lehen, sondern um Pfründen handelte, und nicht um Militärdienstleistungen sich selbst ausrüstender Ritter, auf deren Heeresdienst der Fürst angewiesen war, sondern um Natural- und, vor allem, Geldtribute der für Patrimonialstaaten typischen Gebühren- und Steuerpfründner, auf deren Verwaltungsleistungen die Zentralgewalt angewiesen war. Und noch ein weiterer wichtiger Unterschied gegenüber dem Okzident lag vor. Dort kannte man die Pfründe, auch die Gebühren- und Steuerpfründe ja auch. Am frühesten auf kirchlichem, später, nach dem kirchlichen Muster, auf dem Gebiet der Patrimonialstaaten. Aber sie war dann entweder lebenslänglich (außer bei Entsetzung auf Grund eines förmlichen Verfahrens) oder auch erblich appropriiert, wie das Lehen auch, oft sogar durch Kauf übertragbar. Und die Gebühren, Zölle, Steuern, auf denen sie ruhte, waren durch Privileg oder feste Gewohnheit fixiert. In China war, sahen wir, gerade der „etatsmäßige" Beamte frei absetzbar und versetzbar, ja: musste er in kurzen Fristen versetzt werden. Teils (und vor allem) im Interesse der Erhaltung der politischen Macht der Zentralverwaltung; daneben aber auch - wie gelegentlich hervortritt: - damit auch andere Anwärter die Chance hätten, einmal an die Reihe zu kommen72). Das Beamtentum als Ganzes war im Genuss des gewaltigen Pfründeneinkommens gesichert, der einzelne Beamte dagegen gänzlich prekär gestellt und daher, da der Erwerb des Amts (Studien, Kauf, Geschenke und „Gebühren") ihm gewaltige Kosten gemacht und ihn oft in Schulden gestürzt hatte, genötigt, in der kurzen Amtszeit soviel als möglich aus dem Amt herauszuwirtschaften. Er war infolge des Fehlens fester Taxen und Garantien dazu auch in der Lage. dass das Amt dazu da sei, ein Vermögen zu erwerben, verstand sich durchaus von selbst, und nur das Übermaß galt als tadelnswert73).
Aber noch andere und weiter reichende Wirkungen gingen auf diesen Zustand zurück. Zunächst: die Machtstellung der Zentralverwaltung gegenüber den Personen der Beamten wurde allerdings durch das System der Versetzungen auf das wirksamste gesichert. Jeder Beamte war infolge dieser fortwährenden Umschichtungen und des steten Wechsels seiner Chancen der Konkurrent jedes anderen um die Pfründe. Ihre Lage war infolge dieser Unmöglichkeit, ihre persönlichen Interessen zu vereinigen, gänzlich prekär nach oben: die ganze autoritäre innere Gebundenheit dieses Beamtentums hing damit zusammen. Zwar gab es unter den Beamten „Parteien". Zunächst nach Landsmannschaften und, damit zusammenhängend, nach der überkommenen Eigenart der Schulen, die sie erzogen hatten. Der „konservativen" Schule der nördlichen Provinzen stand in den letzten Jahrzehnten die „fortschrittliche" der mittleren Provinzen und die „radikale" der Kantonesen gegenüber; von dem Gegensatz der Anhänger der Erziehung nach der Methode der Sung gegen die der Han innerhalb eines und desselben Yamen sprachen kaiserliche Edikte noch in dieser Zeit. Indessen infolge des Grundsatzes der Fremdbürtigkeit der Beamten und der steten Versetzung von Provinz zu Provinz und weil überdies die Anstellungsbehörde sorgsam auch darauf hielt, die rivalisierenden Schulen und Landsmannschaften in einem und demselben Amtsbezirk und derselben Ämterstaffelung möglichst zu mischen, konnte sich wenigstens auf dieser Basis kein landsmannschaftlicher Partikularismus entwickeln, der die Einheit des Reichs gefährdet hätte: - dieser hatte ganz andere Grundlagen, wie gleich zu erwähnen ist. Auf der anderen Seite war aber die Schwäche der Beamten nach oben mit ihrer schon erörterten ebenso großen Schwäche nach unten erkauft. Und eine noch weit wichtigere Folge der Struktur dieses Pfründentums war der extreme administrative und wirtschaftspolitische Traditionalismus, den sie mit sich führte. Soweit dieser gesinnungsmäßig begründet war, ist später von ihm zu sprechen. Aber er hatte daneben auch höchst „rationale" Gründe.
Jeglicher Eingriff irgendwelcher Art in die überkommene Wirtschafts- und Verwaltungsform griff in unabsehbar viele Sportel- und Pfründeninteressen der ausschlaggebenden Schicht ein. Und da jeder Beamte einmal in die mit Verkürzung der Einnahmechancen bedrohte Stellung versetzt werden konnte, so stand die Beamtenschaft in solchen Fällen wie ein Mann zusammen und obstruierte mindestens ebenso stark wie die Steuerträger gegen den Versuch, Änderungen des Sportel- oder Zoll- oder Steuersystems durchzuführen. Die okzidentale Art der dauernden Appropriation von Zoll-, Geleit-, Brücken- und Wegegeld-, Stapel- und Straßenzwang-, Sportel- und anderen Einnahmechancen machte dagegen die im Spiel befindlichen Interessen übersehbar und ermöglichte es in aller Regel, bestimmte Interessentengruppen zusammenzuschließen und mit Gewalt oder durch Kompromiß oder Privileg die einzelnen Verkehrsobstruktionen abzulösen. Aber davon war in China keine Rede.
Diese Einnahmechancen waren ja dort, soweit die Interessen der obersten, ausschlaggebenden, Beamtenschicht in Betracht kamen, nicht individuell appropriiert, sondern: dem Stande dieser versetzbaren Beamten als Ganzem. Geschlossen stand er daher jedem Eingriff entgegen und verfolgte die einzelnen rationalistischen Ideologen, welche nach „Reform" riefen, solidarisch mit tödlichem Hass. Nur eine gewaltsame Revolution, sei es von unten, sei es von oben, hätte hier Wandel schaffen können. Die Beseitigung des Tributtransports auf dem Kaiserkanal mit Kähnen zugunsten des um ein Vielfaches billigeren Dampfertransports zur See, die Änderung der überkommenen Arten der Zollerhebung, Personenbeförderung, Erledigung von Petitionen und Prozessen, alle und jede Neuerungen überhaupt konnten die Sportelinteressen jedes einzelnen, gegenwärtig oder künftig mögliche, gefährden. Wenn man etwa die Reihe der Reformprojekte des Kaisers aus dem Jahre 1898 überblickt und sich klar macht, welche ungeheuren Umwälzungen der Einkommensverhältnisse der Beamten sie bei auch nur teilweiser Durchführung herbeigeführt hätten, so kann man ermessen, welche ungeheuren materiellen Interessen gegen sie engagiert waren und wie völlig aussichtslos sie, in Ermangelung irgendwelcher außerhalb der Interessenten selbst stehenden Organe der Durchführung, sein mussten. In diesem Traditionalismus lag auch die Quelle des „Partikularismus" der Provinzen. Er war in erster Linie Finanzpartikularismus und dadurch bedingt, dass die Pfründen der Provinzialbeamten und ihres unoffiziellen Anhangs durch jede Zentralisierung der Verwaltung auf das schwerste gefährdet werden mussten. Hier lag das absolute Hemmnis einer Rationalisierung der Verwaltung des Reichs vom Zentrum aus ebenso wie einer einheitlichen Wirtschaftspolitik.
Es war aber ferner - und dies zu erkennen ist prinzipiell wichtig - das allgemeine Schicksal rein patrimonialer Staatsgebilde, wie die Mehrzahl der orientalischen es waren: dass gerade die Durchführung der Geldwirtschaft den Traditionalismus stärkte, statt ihn zu schwächen, wie wir erwarten würden. Deshalb, weil gerade erst sie durch ihre Pfründen jene Erwerbschancen der ausschlaggebenden Schicht schuf, welche nicht nur den „Rentnergeist" im allgemeinen74) stärkten, sondern die Erhaltung der bestehenden, für den Gewinnertrag der Pfründen ausschlaggebenden wirtschaftlichen Bedingungen zu einem alles beherrschenden Interesse der daran partizipierenden Schicht machte. Gerade mit Fortschreiten der Geldwirtschaft und gleichmäßig damit zunehmender Verpfründung der Staatseinnahmen sehen wir deshalb in Ägypten, in den Islamstaaten und in China, nach kurzen Zwischenperioden, die nur dauerten, solange die Pfründenappropriation noch nicht vollzogen war, jene Erscheinung eintreten, welche man als „Erstarrung" zu werten pflegt. Es war daher eine allgemeine Folge des orientalischen Patrimonialismus und seiner Geldpfründen: dass regelmäßig nur militärische Eroberungen des Landes oder erfolgreiche Militär- oder religiöse Revolutionen das feste Gehäuse der Pfründnerinteressen sprengten, ganz neue Machtverteilungen und damit neue ökonomische Bedingungen schaffen konnten, jeder Versuch einer Neugestaltung von innen aber an jenen Widerständen scheiterte. Die große historische Ausnahme bildet, wie gesagt, der moderne europäische Okzident. Zunächst deshalb, weil er der Befriedung in einem einheitlichen Reich entbehrte. Wir erinnern uns, dass die gleiche Staatspfründnerschicht, welche im Weltreich die Rationalisierung der Verwaltung hemmte, dereinst in den Teilstaaten ihr mächtigster Förderer gewesen war. Aber der Anreiz war nun fortgefallen. Wie die Konkurrenz um den Markt die Rationalisierung der privatwirtschaftlichen Betriebe erzwang, so erzwang bei uns und in dem China der Teilstaatenzeit die Konkurrenz um die politische Macht die Rationalisierung der staatlichen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Und wie andererseits in der Privatwirtschaft jede Kartellierung die rationale Kalkulation, die Seele der kapitalistischen Wirtschaft, abschwächt, so ließ das Aufhören der machtpolitischen Konkurrenz der Staaten miteinander die Rationalisierung des Verwaltungsbetriebs, der Finanzwirtschaft und der Wirtschaftspolitik kollabieren. Das Weltreich enthielt dazu keinen Antrieb mehr, wie er einst bei der Konkurrenz der Teilstaaten bestanden hatte. Aber dies war nicht der einzige Grund. Auch in der Epoche der Staatenkonkurrenz war in China die Rationalisierung der Verwaltung und Wirtschaft in engere Schranken gebannt als im Okzident. Deshalb, weil im Okzident - abgesehen von den schon erwähnten Unterschieden der Appropriation - starke, auf eigenen Füßen stehende Mächte vorhanden waren, mit welchen entweder die Fürstenmacht sich verbinden und die traditionellen Schranken zerbrechen konnte, oder welche, unter sehr besonderen Bedingungen, ihrerseits aus eigener militärischer Macht heraus die Bindungen durch die Patrimonialmacht abwerfen konnten, wie die fünf großen, für das Schicksal des Okzidents entscheidenden Revolutionen, die italienische des 12. und 13., die niederländische des 16., die englische des 17., die amerikanische und französische des 18. Jahrhunderts es getan haben. Gab es diese Mächte in China nicht? -
Fußnoten
1) Wegen der Macht der Ahnengeister charismatischer Sippen scheint man sich oft geradezu gescheut zu haben, unterworfene Häuptlingsfamilien ganz des Landes zu berauben (E. H. Parker, Ancient China simplified, London 1908, p. 57). Im Übrigen erklärt aber auch umgekehrt diese sippencharismatische Bedingtheit der Lehen- und Pfründenchancen die starke Stellung der Ahnengeister, wennschon sie nicht etwa ihre einzige Quelle war.
2) „Eine Familie schätzt man nach dem Alter, einen Gebrauchsgegenstand nach der Neuheit", sagt ein Spruch im Schu-king.
3) Vgl. für die Daten: Fr.Hirth, The ancient Hist. of China, New York 1908. Übersetzung der „Bambus"-Annalen von Biot im Journ. Asiat. 3e Serie vol. XII p. 537ff., XIII p.381ff. Über die Inschriften der Bronzevasen und die Oden des Schu-king als Quellen der Periode vom 18.-12. Jahrhundert v.Chr. Frank H. Chalfant, Early Chinese Writing, Mem. of the Carnegie Mus. (Pittsburgh) IV Sept. 1906.
4) S. dazu Chavannes Journ. As. X. Ser. 14,1909, p. 33, Note 2.
s) S. Kun-Yu (Discours des Royaumes) ed. de Harlez H Louvain 1895, p. II, V. 110.
6) S. Se MaTsien's Biographie Schi-Hoang-Ti'S[,j ed. Chavannes (1897) p. 139.
7) Yu tsiuan tung kian kong mu (Ming-Annalen) redigiert von Kaiser Kian Lung. übers. v. Delamarre h. a.
8) Nämlich damals: vom Graduierten, deshalb vor Fronden und Stockhieben Geschützten, zum Fronpflichtigen.
9) S. Chavannes'Ausgabe von Se Ma Tsien T. II App. I, p. 526, Note 1.
10) Se MaTsien's Biographie Schi Hoang Ti's, ed. Chavannes p. 149, Anm.
11) Übersetzt von Biot: Le Tcheou-li, ou rites desTcheou, 2 Bde. Paris 1851. Angeblich stammt es aus der Regierung Tschong Wangs, 1115 bis 1079 v. Chr. Es wird nur in seinem Kern für „echt" gehalten.
12) In den Bezeichnungen des Hausmeiers, Ackerbauministers, Zeremonienmeisters, Kriegsministers, Justizministers, Arbeitsministers als: Minister des Himmels, der Erde, des Frühlings, Sommers. Herbstes, Winters wohl zweifellos Literatenprodukt. Auch die Voraussetzung eines „Budgets", welches der Himmelsmandarin feststellt, ist sicher unhistorisch.
13) Se Ma Tsien hat uns die tatsächliche Verwaltungsorganisation der Tsin und Han aufbewahrt (s. dieselbe in T. II der von Chavannes besorgten Ausgabe von Se Ma Tsien App. I). Neben 2 Veziern stand darnach (bis auf Kaiser U) der Tai Wai als Militärchef der Generäle; der Tschong Tscheng als Kanzler und Vorgesetzter der Missi dominici und Provinzialbeamten; der fong tscheng für den Opferkult, zugleich Groß-Astrologe, Groß-Augur, Groß-Arzt und - charakteristischerweise - verantwortlich für Deiche und Kanäle; dann die po sehe (Literaten); der lang tschong ling: Palastintendant; der wei wei; Palastgardenchef; der tai pu: Rüstkämmerer; der ting wei: Chef der Justiz; der tien ko: Chef der Vasallen und Barbarenfürsten; der tsong tscheng: Aufseher der kaiserlichen Familie; der tsche su nei sehe: Magazinaufseher (und daher Minister für Ackerbau und Handel); der schao fu: Chef des kaiserlichen Haushalts (unter ihm der schangschu, ein Eunuch); der tschong wei: Chef der hauptstädti- schen Polizei: der tsiang tso schao fu: Bau-Intendant; der tschong sehe: Vorsteher des Hauses der Kaiserin und des Thronfolgers; der nei sehe: Präfekt der Hauptstadt; der später mit dem tien ko (s. o.) vereinigte tschu tsio tschong wei: Kontrolleur der Vasallen. Man sieht, diese Liste weist - sehr im Gegensatz zu den rationalen und deshalb historisch nicht sehr glaubhaften Konstruktionen des Tschou H - alle Irrationalitäten eines aus der häuslichen, rituellen und Militär-Verwaltung durch Hinzutritt von Justiz-, Wasserwirtschafts- und rein politischen Interessen herausgewachsenen Patrimonialbeamten- tums auf.
14) „Patriarchal" aber natürlich nicht im sultanistischen Sinn, sondern im Sinn des erbcharismatischen Sippenpatriarchalismus mit überragender Macht eines vielleicht zuerst durch Designation (welche auch die klassischen Bücher an den Anfang stellen), dann erbcharismatisch überlieferten Ritual-pontifex.
15) Zugänglich durch (teilweise) Übersetzung sind vor allem die Annalen Se Ma Tsien's (1. Jahrh. vor Chr., hrsg. von Chavannes). Zusammenstellungen der aus den Annalen zu entnehmenden politi- schen Entwicklung der Feudalstaaten von Tsin, Han, Wei, Tschao und U von P. Tschepe (S. J.) a. a. O. (trotz der unvermeidlichen, oft etwas naiv wirkenden, „christlichen" Betrachtungen brauchbar). Wenn Tschepe ohne Zusatz zitiert ist. sind die Tsin-Annalen gemeint. Dazu die schon mehrfach zitierten „Discours des royaumes".
16) Dieser politisch höchst wichtige Grundsatz für die fu yung (Untervasallen) erklärt sich am ungezwungensten aus dem Hervorgehen vieler politischer Vasallen aus ursprünglich selbständigen, dann tributär gewordenen Fürsten. Die Gaben der Vasallen selbst an den Kaiser galten - außer der pflichtmäßigen Militärhilfe - als freiwillig und der Kaiser hatte die Pflicht, sie durch Gegengaben zu entgelten. (Vgl. über diese Verhältnisse E. H. Parker, Ancient China simplified, London 1908, p. 144f.)
17) Zitiert bei P. Alb. Tschepe (S. J.), Hist. du Royaume de Tsin, 777-207.
l8) Nämlich auf 1000Salzkonsumenten im Staat Tsin, der zuerst rationalisiert wurde, nach Hirths Interpretation (in dessen Ancient History of China, New York 1908) einer Stelle bei Kuan Tse.
19) Denn die Angaben bei E.H.Parker, Ancient China simplified (Lond[on] 1908) p. 83 scheinen nicht annehmbar.
20) Davon wird bei Besprechung der Bodenbesteuerung noch die Rede sein.
21) Es war die rituelle Stellung der jüngeren Söhne zugunsten des Ältesten eine geminderte. Sie galten nicht mehr als „Vasallen", sondern als Beamte (Ministerialen) und opferten nicht an dem großen alten Ahnenaltar der Familie, sondern an Seitenaltären (s. Se Ma Tsiens Traktat „Riten" Vol. III der Ausgabe von Chavannes).
22) Dies hatte die Folge, dass in den letzten Jahrzehnten der Monarchie ein Minderjähriger auf den ändern als Kaiser folgte und teils ein Verwandter (Prinz Kung). teils Kaiserinnen-Witwen die Regierungführten.
23) Tschepe a.a.O. p. 54.
24) Tschepe a.a.O. p.66.
25) Die technische Beschaffenheit dieser alten ..Bücher" muß hier ganz dahingestellt bleiben. Papier ist erst ein weit späteres (Import-)Produkt. Aber geschrieben und gerechnet wurde längst vorher und zweifellos lange vor Konfuzius. Die später zu erwähnende Annahme v. Rosthorns, dass die Ritual- „Literatur" mündlich überliefert worden und der „Bücherbrand" daher eine Legende sei, scheint von de Groot, der diesen noch in seinem letzten Werk als Tatsache annimmt, nicht anerkannt zu werden.
26) Die Annalistik (Tschepe a.a.O. p. 133) bewahrt Berechnungen der Militärkraft der einzelnen Teilstaaten anlässlich eines Allianzplans auf. Darnach sollte z.B. ein Areal von 1000Quadrat-Li (l Li = 537Meter) 600Kriegswagen, 5000 Pferde, 50000 Mann (davon 10000 Train, der Rest Kämpfer) haben stellen können. Ein (angeblicher) Lastenreformplan aus dem 12. Jahrh. vor Chr. (vermutlich - nach vorderasiatischen Analogien - einige Jahrhunderte nach der Zeit der Einführung des Kriegswagens) verlangte von der gleichen Fläche 10000 Kriegswagen.
27) Vgl. Tschepe a. a. O. p. 67.
l 28) Die Teilstaatenepoche war eine Zeit sehr starken Patriotismus, besonders in den Grenzstaaten gegen die Barbaren (vor allem: Tsin). Als der Tsin-König in Gefangenschaft geraten war, brachten „2500" Familien durch Subskription die Mittel zur Fortführung des Krieges auf. Der Versuch eines Han-Kaisers im Jahre 112 n.Chr., bei schwerer Finanzlage auf eine solche „Kavaliersanleihe" zu greifen - wie sie bekanntlich noch im leopoldinischen Österreich des 17. Jahrhunderts vorkamen - scheint dagegen einen schwachen Erfolg gehabt zu haben.
29) Tschepe a.a.O. p. 142.
30) Beides in dem Vortrag eines Literaten, wiedergegeben beiTschepe a. a. O. p. 77.
31) Tschepe a.a.O. p. 61.
32) Tschepe a.a.O. p. 59.
33) Tschepe a.a.O. p. 14.
34) Tschepe p.38.
35) „Edle und Volk halten sich in den Schranken ihres Ranges''^,] sagt der Kaiser in einer in den Annalen überlieferten Inschrift (Tschepe a.a.O. p. 261). In einer ändern werden „Edle, Beamte und Volk" unterschieden.
36) S. die später zu erörternde Stelle bei Tschepe, Hist. du R. de Han, Var. Sinol. 31 p. 43 (für das Wei-Fürstentum im Jahre 407 v. Chr.).
37) a. a. O. (vorige Anmerkung).
38) Die Tradition lässt den Literaten Li-se, den seither allmächtigen Minister, die Bedeutung der Literaten (und der Fremdbürtigen, auch der Kaufleute, überhaupt) für die Fürstenmacht in einer Denkschrift darlegen (Tschepe a. a. O. p. 231).
39) Z. B. in der von Se Ma Tsien in seiner Biographie (ed. Chavannes T. II, p. 166) aufbewahrten: alles Handeln gegen die Vernunft sei verwerflich. Zahlreiche andere Inschriften (ebendort wiedergegeben) rühmen die rationale Ordnung, die der Kaiser im Reiche hergestellt habe. - Dieser „Rationalis- mus" hinderte ihn nicht, nach dem Unsterblichkeitselixir suchen zu lassen.
40) Ausspruch Schi Hoang Ti's, überliefert in seiner Biographie von Se Ma Tsien (ed. Chavannes T. II, p. 162). Übrigens war - wie später zu besprechen sein wird, - die Meinung der Literatenminister in den Teilstaaten und selbst noch die Meinung Wang An Schi's (11. Jahrhundert nach Chr.) grundsätzlich nicht immer einer ähnlichen Auffassung abgeneigt.
41) Die Eunuchenwirtschaft findet sich, scheint es. erstmalig im 8. Jahrhundert v. Chr.
42) Die Zahl der an der großen Mauer Frondenden wird auf 300000(7) angegeben, noch höhere Zahlen finden sich für die Fronlast im ganzen. Zwar ist die große Mauer im Lauf von langen Zeiträumen entstanden (da sie nach der Rechnung von Elisee Reclus mindestens 160 Millionen Kubikmeter aufgemauertes Massiv umfasst, ließe sich die erforderliche Arbeit wohl abschätzen).
43) Für diese kam namentlich die Heranschaffung des erforderlichen Proviants für die fronenden Soldaten und Sträflinge in Betracht. Die Annalistik berechnete (Tschepe a. a. O. p. 275), dass auf dem Transport bis zur Konsumstätte 18 200% Kosten entstanden seien (von je 182 Ladungen sei, infolge des Verzehrs unterwegs, immer nur eine an den Bestimmungsort gelangt, eine natürlich nur für einen Einzelfall vielleicht einmal zutreffende Angabe).
44) Tschepe p. 330f. Der Eunuch selbst war aus vornehmer, aber vorbestrafter Familie.
45) Von diesem Versuch berichtet die Annalistik, insbesondere Se Ma Tsien in seiner Biographie Schi Hoang Ti's (ed. Chavannes, II, p. 178) einiges. „Meister Lu", ein Taoist, den er mit dem
Aufsuchen des Unsterblichkeitskrauts betraut hatte, scheint der Urheber des Plans gewesen zu sein. Der „echte Mensch", hieß es, „verberge sich und zeige sich nicht (eine besondere Art von Anwendung gewisser später zu besprechender Grundsätze Lao tse's). Aber Schi Hoang Ti regierte tatsächlich selbst, und es war die Klage der „Weisen" aller Richtungen, dass sie von ihm nicht gebührend vorher befragt würden (p. 1791. c.). Erst der Nachfolger, Eul schi hoang ti, lebte als „tschen", „Verborgener", unter der Obhut seines Günstlings, erteilte aber infolgedessen auch seinerseits den Beamten keine Audienz (p. 206 1. c.): die typische Klage der Konfuzianer, wenn die Taoisten und Eunuchen (beide meist verbündet, worüber später) herrschten. Sein Sturz brachte schon unter dem Gründer der Han-Dynastie die „Gefolgschaft", d.h. die Feudalherren, wieder ans Ruder, obwohl die gesamte Bureau-kratie Schi Hoang Ti's bestehen blieb und, vor allem, der Literateneinfluß wieder hergestellt wurde.
46) Tschen-tschu, der Führer der Heeresrevolte, war Arbeiter, Liu pang, der Führer der Bauern und Gründer der Han-Dynastie. Feldwächter eines Dorfs. Ein Bund seiner Sippe mit ändern Bauernsippen bildete den Kern seiner Macht.
47) Tschepe p.259f. (angebliche Inschrift).
48) Tschepe p. 264f.
49) Freilich setzte es sich äußerst langsam und unter fortwährenden Rückschlägen selbst rein theoretisch durch. Wie es in der Praxis stand, davon ist später zu reden.
50) Es tritt in der Annalistik (vgl. Tschepe p. 67 und oft, auch in den früher zitierten Stellen) sehr deutlich der Gegensatz zu den Vasallen und deren Haß und Verachtung gegen die von Hof zu Hof wandernden Scholaren zutage. Vgl. die Auseinandersetzung Yong's mit den Großen des Hofs des Fürsten Hiao Kong bei Tschepe p. 118.
51) Dafür sind insbesondre die von Ma tuan lin wiedergegebenen Gesamteinkunftsziffern der Zentralkasse charakteristisch, deren riesige und völlig unmotivierte Differenzen (besonders im 16. Jahrhundert) von chinesischen Autoren auf diesen Grund zurückgeführt werden (vgl. Biot N.J. Asiat. 3, Ser. 5, 1838 und das. 6, 1838, p. 329). Es ist ja doch klar, was es bedeutet, wenn - nachdem schon 1370: 8,4 Mill. King (= 48 Mill. Ha) steuerbares Land katastriert war - 1502: 4.2 Mill., 1542: 4,3 Mill., 1582 aber wieder: 7 Mill. King (= 39,5 Mill. Ha) gezählt wurden. (1745 sollen - 30 Jahre nach der Steuerkontingentierung - 161,9 Mill. Ha gezählt worden sein.)
52) Am Ende des Jahrgangs 1879 der „Peking Gazette" ist eine Berechnung der ungefähren Zahl der gleichzeitig lebenden mit dem zweiten (Zivil-)Grade promovierten, also zu den ordentlichen Ämtern voll befähigten Amtsanwärter angestellt, aufgemacht nach dem durchschnittlichen Lebensalter der Promovierten - deren Maximalkontingent für jeden der beiden Grade festgelegt ist - und der Lebens- wahrscheinlichkeit : - zu hoch, sofern die Zahl der in höheren Jahren Promovierenden nicht ganz gering ist, zu niedrig, weil zu ihnen die Zahl der aus der Militärkarriere übernommenen - namentlich der Mandschus - und infolge von Kauf der Qualifikation zur Verfügung stehenden Anwärter hinzutritt. Nimmt man aber selbst an, dass die Zahl der gleichzeitig lebenden Anwärter darnach statt rund 21200 etwa 30000 betrage, so würde, bei Annahme von 250 Millionen Einwohnern, auf etwa 11-12000Einwohner nur ein solcher Anwärter kommen. Unterste staatliche Verwaltungsbezirke, denen je ein selbständiger staatlicher Beamter (der Tschih-hsien) vorsteht, gab es aber in den 18 Provinzen ein- schließlich der Mandschurei nur 1470, also (unter der gleichen Annahme) einen auf etwa 248000 Einwohner; mit Einschluss der höheren „etatsmäßig" vorgesehenen selbständigen Ämter käme etwa ein höheres Amt auf 200000 Einwohner. Rechnete man selbst noch einen Teil der unselbständigen und unständigen Beamten hinzu, so würde sich doch ein Verhältnis ergeben, bei welchem z.B. Deutschland mit nur etwa 1000 Verwaltungs- und richterlichen Beamten von Assessorenrang alles in allem auskommen müsste. - Ganz andere Zahlen ergeben sich, wenn man die chinesische polizeiliche Fortschreibung der Familien- und Einwohnerzahl zugrunde legt. Die Zahlen, welche für 1845/6 aus diesen Materialien Sacharow (Arbeiten der Kaiserl. RUSS. Gesandtschaft - einer geistlichen Mission -, übersetzt von Abel und Meckenberg, Berlin 1858) zur Verfügung gestellt wurden, ergaben als allein in dem Bezirk Peking und zwei ändern Bezirken beheimatet (also nicht: dort angestellt) an Militär- und Zivilbeamten 1845: rund 26500, 1846 gar: 15866 etatsmäßige und 23700 disponible (zwei schwer miteinander vereinbare Ziffern). Es sind hier aber offenbar nicht nur die mit dem zweiten Grade promovierten, sondern auch die Exspektanten und alle Mandschuoffiziere einbegriffen.
53) Bei einigen der höchsten Beamten wurde das Prinzip aus zwingenden Gründen häufig durchbrochen: Li Hung Tschang z. B. blieb mehrere Jahrzehnte höchster Verwaltungschef in Tschili. Aber im übrigen wurde, abgesehen von der Erlaubnis einer einmaligen Verlängerung um weitere 3 Jahre, das Prinzip bis in die neueste Zeit ziemlich streng durchgeführt.
54) Oft bis zu 6. Aber die offiziellen, wirklich wichtigen Persönlichkeiten waren unter dem „Vizekönig" nur die Gouverneure. Provinzialrichter und Provinzialschatzmeister. Der Schatzmeister war davon der ursprünglich alleinige und höchste Verwaltungsbeamte, der Gouverneur ein schließlich sesshaft gewordener Missus dominicus (früher oft Eunuch). Diese beiden Beamten: für Finanz und Justiz, waren allein vorgesehen, alle ändern „Ressorts" unoffiziell. Auch der unterste (hsien =) Beamte, dessen offizieller Name „Hirt" bedeutet, hatte zwei Sekretäre: für Justiz und für Finanzen. Der über ihm stehende Präfekt (des „fu") hatte immerhin noch übersichtliche oder doch konkret angebbare Funktionen (Wasserwege, Landwirtschaft. Stuterei. Korntransport, Unterbringung der Soldaten, allgemeine Verwaltung im polizeilichen Sinn), galt jedoch wesentlich als Überwachungs- und Durchgangsbehörde für die Korrespondenz nach oben. Die Funktionen des untersten Beamten dagegen waren schlechterdings enzyklopädisch: er war schlechthin für alles da und verantwortlich. Besondere „Taotai's" waren bei den großen Provinzialbehörden für die Salzgabelle, den Wegebau usw. angestellt. Sonderbeamte mit Aufträgen und Kompetenzen ad hoc kamen hier wie in allen Patrimonialstaa-ten vor. Über den Begriff eines „Juristen" in China (Kenner der Präzedenzien) und die Advokatur s. Alabaster, Notes and Commentaries on Chinese Criminal Law (mir jetzt nicht zugänglich gewesen).
55) Daraus ist auch das „Brunnensystem" mit seinem von 8 Quadraten umgebenen Mittelfeld des Staats erwachsen.
56) Er hieß amtlich: ..Kanal der Tribut-Transporte". S. darüber P. Dom. Gandar S.J., Le canal imperial. Var. Sinol. Heft4, Schanghai 1894.
57) Die Aufzeichnungen und Quittungen darüber sind teilweise in den von Aurel Stein gesammelten Urkunden aus Turkestan (kurz vor und nach Chr.) erhalten. Täglich 3 Schritt schritt stellenweise die Nutzbarmachung des Trockenlandes vor. (Chavannes, Les documents chinois decouverts par Aurel Stein dans le sable du Turkestan oriental, Oxford 1913.)
58) Bei Chavannes p. Xl ff. a. a. O. Oft fast lebenslang dauert der Dienst: die Frauen entbehren der Gatten und es ist besser, die Söhne gar nicht erst aufzuziehen.
59) Es ist durchaus unsicher, ob dabei, wie meist angenommen wird, klimatische Veränderungen mitbeteiligt waren. Es genügt an sich der Verfall des Fronsystems. Denn in diesen Gebieten konnte der Boden nur dann bestellungsfähig erhalten werden, wenn die Frage der „Kosten" überhaupt nicht auftauchte. Seine eigene Vollexistenz konnte ein Arbeiter nie aus ihm herauswirtschaften, sondern nur die nackte Nahrung, vielleicht selbst diese nur bei bestimmten Kulturen. Der Boden wurde offenbar trotz sicher gewaltiger Zuschüsse urbar erhalten nur im Interesse der Verproviantierung von Garnisonen und Gesandtschaften mit schwer transportfähigen Gütern.
60) P. D. Gandar. S. J. Le canal imperial (Var. Sinol. 4, Schanghai 1894) p. 35.
61) Sogalt unter den Ming bis 1471 die Vorschrift: dass der Transport des Getreides zur Hauptstadt je zur Hälfte von dem Heere und von der Zivilbevölkerung zu beschaffen sei. In jenem Jahre wurde verfügt: dass das Heer allein diese Fronden zu beschaffen habe. (Yu tsiuan tung kian kang mu, Gesch. der Ming-Dynastie des Kaisers Kian Lung, übers, v. Delamarre, Paris 1865, p. 351.)
62) S. die oben S. 140. Anm. 15, wiedergegebenen Abrechnungen der Zentralregierung aus dem 10., 11. und 14. Jahrhundert. Im ganzen sollen - nach der Annalistik - die Natural-Abgaben je nach der Entfernung von der Hauptstadt so abgestuft gewesen sein, dass z. B. die erste Zone Getreide mit Stroh, die zweite nur Getreide und so jede folgende spezifisch hochwertigere, also in höherem Grade arbeitsintensivere, Güter schickte. Das ist durchaus glaubhaft und stimmt mit anderen Nachrichten überein.
63) Vgl. die von Chavannes a. a. O. edierten Funde A. Steins aus der Zeit von 98-137 n. Chr. Der Sold der Offiziere, fraglich: ob auch der Soldaten, wird in Geld gezahlt (Nr. 62), Monturen für letztere wenigstens teilweise für Geld gekauft (Nr. 42). Vollends das (freilich wesentlich spätere) Ausgabejournal eines Buddhatempels (ebenda Nr. 969) zeigt volle Geldwirtschaft: Miete der Handwerker, die im Lohnwerk beschäftigt werden, ebenso alle anderen Ausgaben in Geld. Gegenüber diesem Zustand trat später ein starker Rückschlag ein.
64) Seiden- und Porzellanlieferungen der kaiserlichen Manufakturen an den Hof allein im Jahre 1883 (Peking Gazette vom 23.1., 24. L. 27.1., 30.1., 13. 6., 14. 6.) für zusammen 405000Taels (Selbstkosten!). Dazu traten dann die Naturallieferungen der Provinzen, die mindestens teilweise (Seide, kostbares Papier usw.) für Hofzwecke, daneben (Eisen, Schwefel usw.) für politische Zwecke verwendet wurden. Die Provinz Schansi petitionierte 1883 (Peking Gazette vom 15.12.) vergebens um Zu- Geld-Setzung, da sie die zu liefernden Naturalien (außer Eisen) selbst erst kaufen müsse.
65) S. darüber die noch immer in vielem brauchbare Arbeit von Blorim Nouv. Journ. Asiat. 3 Ser. 6, 1838.
66) Diese Zahlen sind allerdings höchst wenig vertrauenswürdig. Denn es ist zu bedenken, dass die Beamten der Zeit vor dem Steuerkompromiß von 1713 ein Interesse daran hatten, die Zahl der Steuerpflichtigen (es bestand damals Kopfsteuer!) in den Berichten zu verringern oder stabil zu halten, was seit der Fixierung der Steuerquoten fortfiel (s.u.). Seitdem lag es umgekehrt im Interesse der Beamten, mit großen Volkszahlen zu glänzen. Denn die Volkszahlen interessierten seitdem nur noch die Götter selber, denen sie mitgeteilt wurden, - sie bewiesen also, wo sie hoch waren, das Charisma des betreffenden Beamten. Noch manche Zahlen des 19. Jahrhunderts (z. B. die abnorme Vermehrung der Bevölkerung in der Provinz Se tschuan) sind höchst verdächtig. Immerhin berechnet Dudgeon (Population of China, J. of the Peking Oriental Society III, 3,1893) die Volkszahl von 14 Provinzen für die 80er Jahre auf 325 Millionen.
67) dass dies der Sinn der Maßregel war. geht schon aus der sonst ganz widersinnigen Formulierung hervor: dass fortan eine bestimmte Anzahl von Einheiten in der betreffenden Provinz „steuerpflichtig", alle übrigen aber „steuerfrei" sein sollten und tatsächlich bei den periodischen Volkszählungen so angeführt wurden. Natürlich waren nicht etwa eine entsprechende Anzahl Einwohner frei von Steuern, sondern: diese Anzahl wurde den Beamten nicht als steuerzahlend angerechnet. Die Unterscheidung der beiden Kategorien bei den Zählungen wurde denn auch bald - 1735 - von den Kaisern als zwecklos aufgegeben.
68) Alle Projekte direkter Steuern der letzten 30Jahre scheiterten schon daran, dass sie vor allem Steuern auf die Mandarinenpfründen hätten sein müssen. Die patrimoniale Auffassung der Beamteneinkünfte trat von jeher besonders plastisch in der Wirkung der Totentrauer eines Beamten zutage.
Dem uralten Sinn der Trauer entsprechend, wie er in China in deren Familien besonders eindeutig erhalten blieb, diente diese der Abwendung des Zorns und Neides des Totengeistes gegen diejenigen, welche sich nach seinem Tode als Erben seinen Besitz angeeignet haben. Abgesehen also davon, dass ihm ursprünglich bedeutende Bruchteile seiner Habe (einschließlich von Witwen- und anderen Menschenopfern) in den Hades mitgegeben wurden, mussten die Erben geraume Zeit das Totenhaus und die Berührung der Besitztümer meiden und ärmlich gekleidet in einer anderen Hütte wohnen, sich auch des Genusses ihres Besitzes enthalten. Das Amt nun wurde so sehr nur als „Pfründe" und die Pfründe so sehr nur als Privatbesitz des Pfründners gewertet, dass ein trauerpflichtiger Todesfall den Rücktritt vom Amt zur unbedingten Folge hatte. Die fortwährenden massenhaften Vakanzen zahlreicher Ämter, die zeitweise Unverwendbarkeit zahlreicher Beamten, die Aufstauung von durch Trauer amtlos gewordenen Anwärtern waren eine, zumal bei Seuchen, politisch höchst lästige Kalamität. Abwechselnd verboten die Kaiser im Staatsinteresse die allzulange Dauer der Trauer und schärften, in Angst vor den Geistern, sie wieder ein, beides bei Prügelstrafe. Noch Li Hung Tschang wurde beim Tode seiner Mutter vergebens von der Kaiserin in scharfer Form gemahnt, statt des Rücktrittes nur Urlaub zu nehmen (Peking Gazette vom 1. 5. 1882).
69) Einflussreiche Leute zogen daher stets die Zahlung in Naturalien vor und setzten sie durch.
70) Es erinnert dies etwa an die Besteuerung der von dem gewählten Haupt der obsiegenden Partei ernannten Beamten durch die Bosses für sich und die Parteikassen in den Vereinigten Staaten, nur dass diese im ganzen fest bestimmt war.
71) Jamieson, Parker. S. die Berechnungen und Schätzungen des letzteren in „Trade and Admini- stration of the Chinese Empire" p. 85 ff.
72) Diese Auffassung tritt besonders deutlich in dem in der Peking Gazette vom 11.1. 95 abgedruckten Reskript hervor. Es wird getadelt, dass gewisse (Unter-)Beamte die Pfründen länger als 3 Jahre behalten, so dass andere Anwärter nicht „drankommen".
73) Dies geht aus mannigfachen Reskripten hervor. So etwa in der Peking Gazette vom 23. 3. 1882: ein Beamter in Kanton hat in wenigen Monaten 100000 Taels mehr als gewöhnlich (NB.!) zusammengebracht. Ein gemieteter Schreiber in Fuh kien konnte sich die Präfektenstelle in Kiangsu kaufen. Zollbeamte hatten Einnahmen von 100-150000 Taels jährlich.
74) Über diesen vgl. z. B. E.H. Parker, China, her history, diplomacy and commerce (London 1901). „Er ist ein 2000-Zentner-(Reis-)Mann" (bezieht jährlich eine Rente dieses Wertbetrages) war die übliche Klassifikation eines wohlhabenden Mannes.