Zu Weihnachten 1896 über den Gelben Fluss

Eugen Wolf (Im Innern Chinas, 1896)

Gar mancher Tag im letzten Monat des alten Jahres, aber ganz besonders der Heilige Abend, an dem ich im Treibeis auf dem Gelben Flusse saß, war bemerkenswert. Auch den 20. Dezember habe ich noch recht deutlich im Gedächtnisse. Hui. wie pfiff uns bei heftigem Nordwestföhn der Schnee um die Ohren. Zwischen Kao-thsun und Khi, in einer Gegend so flach wie ein Pfannkuchen, einer Gegend, in der man überhaupt nur stecken bleiben kann, wenn man ganz besonderes Pech hat und Eugen Wolf heißt, mussten wir uns innerhalb vier Stunden viermal aus dem Schnee ausgraben, die sechs Maultiere losschirren, einen Pfad um die Wagen herum für sie bahnen, am rückwärtigen Teile des Wagens anspannen, um den Wagen rückwärts zu ziehen und wieder frei zu bekommen. 

Dicht bei einem der Dörfer war uns ein solches Malheur passiert. Ich bot jedem der Bauern, die helfen wollten - sie sollten nur Schnee schaufeln -, einen Tael Silber, eine Summe, mit der er einen Monat vergnügt leben kann. Umsonst! Sämtliche Bauern hatten sich das Wort gegeben: "Wir sehen zu, wir lachen den Fremden aus, wir verspotten ihn, wir reiben uns die Hände, aber helfen, nein, um keinen Preis. Die Wagen des Fremden müssen ja im Schnee stecken bleiben, er wird mit den Pferden, Maultieren und seinen Leuten abziehen, und dann haben wir es leicht, wir teilen uns den Raub, und. wenn die Sache untersucht wird . . . wer weiß, wann und ob dies je geschieht, dann weiß keiner von uns etwas davon. Dies war ohne Zweifel das Raisonnement dieser freundwilligen Landbevölkerung, mit der uns, wie es in meinem chinesischen Passe zu lesen steht, "Bande der Freundschaft" verbinden. Schöne Bande! Dabei musste man ruhig Blut und kalte Nase behalten; man durfte es sich nicht merken lassen, wie es innerlich kochte und wallte, wie einem die Galle austrat, wie man sich zurückhalten musste. Beim ersten Aufheben der Peitsche fuhren die vielen hundert Menschen wie die Funken eines vom Wind erfassten Lagerfeuers auseinander, die feige Rasselbande. Hier musste also diplomatisch verfahren werden, brauchte ich doch einen Wegweiser, der, ob gutwillig oder unter Anwendung von Gewalt - wenn ich ihn erst einmal beim Zopfe hätte, würde sich alles andre finden -, uns aus der Tinte, vielmehr aus dem Schnee half auf weniger verschneites Terrain. In einem chinesischen Dorfe überwintern, das ging ja noch, wenn es zum Äußersten kam, aber auf freiem Felde! 

Ich kroch in einen der Wagen hinein. Dies war das Zeichen für die Bevölkerung, näher zu kommen; dann setzte ich mich, den langläufigen, sechsschüssigen Armeerevolver unter dem Pelzmantel umgeschnallt, auf das Vorderteil des Wagens, zündete meine Pfeife an und unterhielt mich mit "Schuster". Neugierig wie der Affe ist ja der Chinese, eine Eigenschaft, die ich dieses Mal zu meinem Vorteile auszunutzen entschlossen war. Er muss doch wissen, was der erste fremde Teufel, den er zu Gesicht bekommt, raucht, wie er raucht, woraus er raucht, woraus die Pfeife besteht, aus welchem Futteral er den Tabak holt, wie er die Pfeife anzündet, womit er sie anzündet, wie er ... Kladderadatsch - da war ich auch schon mit einem mächtigen, von der Not beflügelten Salto mortale vom Wagen unter die Menge gesprungen, hatte mir den Zopf des längsten Kerls, den ich fassen konnte, um die linke Hand und das Handgelenk gedreht, mit der Rechten den - natürlich gesicherten - Revolver gezogen, dessen dunkelblaues, kaltes Rohr ich ihm an die Backe hielt. Es war schnell gegangen, aber noch viel schneller war von der Bevölkerung keine Maus mehr zu sehen, nur einzelne Mützen, die abgeflogen, und einzelne Schuhe, die stecken geblieben waren, lagen auf dem Schnee. 

Der Mann - sein edler Name war Chang - war versteinert. Für den Augenblick konnte ich den Zopf ruhig bammeln lassen; er vermochte es nicht, zu fliehen. Dann wurde der Pferdeknecht beordert, Herrn Chang eine Schlinge um den Zopf zu winden und aufzusitzen. Von der Bevölkerung rührte sich niemand mehr, Herr Chang wurde am Gängelband geführt und brachte uns auf bessere Wege. Außerhalb des Marktfleckens Kiu wurde er losgebunden und empfing eine Schnur (1000 Stück) Cash (Wert ungefähr 2 1/2 Mark) Führerlohn. Er bedankte sich recht höflich, wünschte uns glückliche Reise und hoffte, wir würden ihn auf der Rückreise in seinem Dorfe aufsuchen. Dann sagte er zu meinem Pferdeknechte: " Was waren die andern doch für dumme Kerle, ich war der einzige Vernünftige, ich blieb ruhig stehen, um deinem Herrn den Weg zu zeigen." Jawohl!! Wie man sieht, ist das Reisen im Inneren Chinas kein Kinderspiel. Man muss sehr vorsichtig verfahren und kann leicht in große Schwierigkeiten kommen, namentlich in großen Städten. 

An jenem Abende schrieb ich in mein Tagebuch: Gott sei Dank, auch dieser Tag ist vorüber! Vater Dressel Unter den Linden mit deiner saftigen Rinderbrust, Fritze Toepfer in der Dorotheenstrasse mit dem ewig ungesalzenen Kaviar, Kaiserhof mit der Bouillabaisse, die da mundet, als wäre sie soeben aus Marseille angekommen, ich habe im Laufe des Dezembermonats 1896 so manches Mal an Euch gedacht. Nur einmal wieder auf eine Stunde beim kleinen Franz Pfordte in Hamburg sitzen zu können, am schneeig-weißen, mit feinen Gläsern gedeckten Tische, gewaschen, gekämmt, rein angezogen! dann wollte ich gern wieder hinaus in den Schmutz, in die Entbehrung, in ungewaschenem Topfe Mortons schmieriges, australisches Hammelfleisch dämpfen und es von eiskalten Eisentellern, während das Fett gerinnt, herunterwürgen ! Doch ich bitte den Leser wegen dieser Abschweifung vom Thema um Entschuldigung. Es soll nicht wieder vorkommen, zudem bin ich gar kein solcher Gourmand. Neuer Hering mit frischen Pellkartoffeln und a Massl Pschorr hätten es auch getan! 

Gestern oder vorgestern, ich glaube, es war, als wir durch Tschang-te ritten, grinsten mich am nördlichen Stadttore aus einem Lattenverschlage in der Grosse eines Kanarienvogelbauers zwei frisch abgeschnittene Menschenköpfe an; sie waren friedlich nebeneinander placiert, das Gesicht nach außen, nach Norden. Durch die Latten hindurch flatterten die aufgelösten Zöpfe im Winde. Der blutige Verschlag und das Blut, das auf den Schnee geträufelt war, ließen darauf schließen, dass der chinesische "Monsieur de Paris" erst heute früh, vielleicht auch gestern Nachmittag, sein "Werk vollbracht haben konnte. Es waren Räuber, die man zum Tode verurteilt hatte. Der Verurteilte wird in einem großen Holzkäfige, in dem er gefesselt sitzt, angebracht, das Urteil wird verlesen, er kniet nieder mit der gleichen Ruhe, mit der unsereins niederknieen würde, um einen aufgegangenen Schuhriemen zu befestigen, der Henkersknecht fasst den Zopf, zieht ihn vorn über den Kopf, damit der Delinquent nicht nach rückwärts schnellen kann, und . . . die Sache ist gemacht. Man wird nicht von mir verlangen, dass ich Einzelheiten mitteile, besonders da ich keiner chinesischen Hinrichtung beigewohnt habe. Es war mir in Hongkong allerdings Gelegenheit dazu geboten; die chinesische Bevölkerung soll sich aber, wie man mir sagte,' bei solchen Gelegenheiten so tierisch benehmen, dass ich auf das Schauspiel Verzicht leistete. 

Am 21. Dezember legten wir in 8stündiger Reise nur 85 Li zurück; wir mussten mittags gegen 3 Uhr wegen zu starken Schneefalles Halt machen und in Ling-sching-tien, einem elenden, schmutzigen Neste zwischen Wei-hui und Sin-hiang (Honan), über Nacht bleiben. In Wei-hui hatten wir in aller Eile gefrühstückt. Von dieser Stadt aus führt der Hauptverkehrsweg, die sogenannte "Kaiserstrasse", über Kai-feng. der Hauptstadt von Honan, südlich. Diesen Weg wollten meine Fuhrleute auch einschlagen. Dann wären wir aber weiter nach Osten, in ein großes Inundationsgebiet des Hwang-ho gekommen, während ich den Gelben Fluss weiter nach Westen, etwa da, wo der gewaltige Strom Tsin sich auf dem linken Ufer des Hwang-ho in den letzteren wirft, überschreiten wollte, weil ungefähr in jener Gegend erstens mehrere Verkehrsstrassen aus allen Richtungen der Windrose zusammenkommen, und weil zweitens ebendaselbst mehrere schiffbare Nebenflüsse des Gelben Flusses in diesen münden. Nach reiflichem Betrachten der Karte musste ich mir sagen, dass eine Eisenbahn erstens das Inundationsgebiet zu vermeiden, zweitens den größten Verkehrsanschluss zu erreichen trachten müsse, das demnach die beabsichtigte Bahn des Gelben Flusses etwa zwischen dem 113. und dem 114. Längengrad zu schneiden hätte. 

Später, einen Tag vor meiner Abreise nach Hankow, erfuhr ich, dass eine amerikanische Eisenbahnkommission daselbst gekommen sei, mit der Absicht von Hankow aus auf der Route nach Peking, wie ich sie genommen, zu reisen. Es scheint demnach, dass ich den Weg, den die Eisenbahn nehmen wird, instinktiv eingeschlagen hatte. Meine Fuhrleute hingegen kümmerten sich wenig oder gar nicht um die Zukunft Chinas und die in Aussicht genommene Eisenbahn, mit der ich ihnen drohte, sobald die Dinge tagsüber schief gingen, was wohl meistenteils der Fall war. Sie wollten partout nach Kai-Feng und fuhren mich, nachdem ich meinen Willen, mehr nach Westen zu gehen, durchgesetzt hatte, an jenem Tage verschiedentlich fest. Wir übernachteten in der Kärrnerscheune, durch deren ungeheizten, großen Raum der strenge Nordwest grausam kalt blies. Die Lehmpritschen, auf denen Krethi und Plethi, Kärrner, Fuhrleute, Diener, Pferdeknecht, Wirt und meine Wenigkeit schliefen, waren nicht mehr, wie weiter im Norden die Khans, heizbar; es wurden auf der Erde Flackerfeuer aus feuchten Strohbündlen unterhalten, deren beissender Rauch meine Tränensäcke zu ununterbrochenem Rinnen zwang. Die salzigen Zähren froren auf den Backen und im Schnurrbart fest.

Die meisten der Kärrner waren Opiumraucher, und das Geräusch des Raucheinziehens hörte die Nacht über nicht auf. War ein Kärrner opiumvoll, wo wachte auch schon ein andrer wieder auf, streckte und reckte sich, gähnte, so laut er konnte, verrichtete seine Bedürfnisse vor seinem Lager in der Scheune, rückte sich die Opiumlampe zurecht, drehte ein kleines Kügelchen, schmolz es behutsam an der Lampe, putzte mit einem stricknadeldünnen Stift die Öffnung der Pfeife aus, setzte das geschmolzene Kügelchen auf und legte sich dann auf die Seite, um seine drei Züge zu tun. Er rauchte meist drei Pfeifen hintereinander, welches Vergnügen etwa eine Stunde in Anspruch nahm. Alsdann war wieder ein Kärrner aufgewacht, der die gleichen Bedürfnisse hatte. Das Opium war schlechter Qualität, denn die Kärrner verdienen nur ganz geringen Lohn. Sie würden aber eher auf das Essen verzichten als auf ihr Opium, das sie immerhin mit einem Tael (über drei Mark) pro Unze bezahlen müssen. Ich hätte, nur um schlafen zu können und dadurch über die Geruchsmischung von Opium, Knoblauch und Fäkalien hinweg zu kommen, in jener Nacht ebenfalls Opium geraucht, wenn ich mich nicht lebhaft erinnert hätte, dass ich mich einst in Südkalifornien, mit chinesischer Dienerschaft reisend, an einem wunderschönen Orte in der Sierra Madre dem Opiumgenusse versuchsweise hingegeben hatte und am andern Tage mit einem solch wahnsinnigen Brummschädel aufgewacht war, dass mir Hören und Sehen vergangen waren. Ich hatte mich damals erst nach mehreren Tagen wieder am Genüsse der Landschaft erfreuen können. 

Pferde und Maultiere standen in derselben Scheune an den Wagenrädern festgemacht, bissen und schlugen einander aus Futterneid oder um sich warm zu halten: die Wirkung blieb für mich dieselbe. Noch in der Dunkelheit wurde angespannt, kurz nach. 5 Uhr bei Laternenschein abgefahren und unter schwerem Schneesturm Sin-hiang, eine Kreisstadt am rechten Ufer des Wei-Flusses, um 10 Uhr erreicht. Ich wollte dem Wetter trotzen und weiter kommen,  konnte ich doch höchstens noch zwei Tagemärsche vom Gelben Flusse entfernt sein. Ich ritt deshalb mit der Absicht, erst abends zu frühstücken, um die hohen Ringmauern Sin-hiangs nach Südost herum direkt südlich dem Hwang-ho zu; durch die Strassen der Städte und Dörfer war seit einigen Tagen nicht mehr durchzukommen, man musste um sie herum fahren; denn die Einwohner kehrten allen Schnee von den Dächern und vor ihren Türen mitten auf den Fahrweg, der durch vier und oft mehr Fuss hohe Schneewälle absolut unpassierbar geworden war. Doch schon einen Kilometer außerhalb der Ringmauern musste ich umkehren, wollte ich nicht im Schnee stecken bleiben. 

Um 11 Uhr landete ich in einer elenden Kneipe in der Vorstadt, wir hatten in 5 Stunden nur 10 Kilometer hinter uns gebracht. Am nächsten Morgen wehte ein so bitterkalter, schneidender Nordwest, dass ich erst um 8 Uhr aufbrechen Hess. Einer unsrer Fuhrleute - so behauptete der Wirt - hatte seine Rechnung nicht bezahlt. Der "Wirt gebärdete sich wie besessen und wollte das Hoftor nicht aufschließen, bis ich den Revolver zog; dann rief er brüllend wie ein Grunzochse die Nachbarn zu Hilfe, die sich wohl hüteten, bei dieser Kälte ihre Betten zu verlassen. Es blieb mir nichts andres übrig, als mit Fuhrmann und Wirt nach dem Yamen (der Ortsbehörde) zu ziehen, wo die Herren ebenfalls noch in den Federn lagen. Nachdem ich konstatiert, dass dies ein neuer Prellversuch, ein Squeeze-Pidjin schlimmster Sorte war, das zwischen Fuhrmann und Wirt zu meinen Ungunsten versucht werden sollte (die beiden teilen sich dann den Extraraub), teilte ich links und rechts vom Pferde herunter Hiebe aus, wodurch die Karre ins Rollen kam und ich warm wurde. Wir fuhren querfeldein über Stock und über Stein - vielmehr Schnee - durch den kleinen Ort Siou-ki-tsi ohne Aufenthalt, übernachteten in Kang-thsun, wo mich etwa 500 Menschen begafften und mir das Dasein versauerten.

In mein Tagebuch schrieb ich: "Was wird der Morgen bringen? Dieu seul le sait!" Wang-lu-tien wurde am nächsten Tage, dem 24. Dezember 1896 - den Tag werde ich in meinem Leben nicht vergessen -. mittags 12 Uhr passiert. Wir sollten nur noch 10 Kilometer vom Gelben Flusse entfernt sein; ich ließ daher weder die Pferde füttern noch sonstigen Aufenthalt eintreten, wollte ich doch den Heiligen Abend in Yungtse, einem der Karte nach südlich des Hwang-ho gelegenen größeren Orte, in möglichst guter Stimmung verbringen, aus unterwegs abgerissenen Cypressenbündeln ein Weihnachtsbäumchen putzen, der Heimat gedenken und mich freuen, dass ein wichtiger Abschnitt meiner Reise hinter mir liege. Doch erstens, es kommt anders, Zweitens, wie man's denkt. Ich ritt voraus und konnte von weitem den Gelben Fluss in der Nachmittagssonne glitzern sehen; das bedeutete Eis, und was für welches. 

Als ich an der Böschung des Flusses hielt, der hier etwa zweimal so breit wie der Rhein bei Köln ist, bot sich mir das Schauspiel, dass auf beiden Ufern der Fluss vielleicht 500 Meter nach der Strommitte fest zugefroren war. Der noch offene Teil des Wassers trieb mächtige Eisschollen von einer auf europäischen Flüssen ungekannten Größe und Dicke, ineinander gekeilt, sich aufeinander und übereinander schiebend, beim Aneinanderprallen unheimliche Töne von sich gebend, die wie von brechendem Kristall oder Korallen über die Eisfläche zu mir heraufklangen. Der Strom trieb trotzdem noch mit großer Geschwindigkeit. 

Ich musste alles versuchen, um heute noch auf das linke Ufer zu kommen, denn mein Verweilen konnte einen Zeitverlust von mehreren Tagen, vielleicht Wochen zur Folge haben; zudem war am Flusse außer einigen elenden Schifferwohnungen keine Unterkunft in Form einer Fuhrmannswirtschaft zu finden. Ich hätte also zurück gemusst! Zurück durch all den Schnee und Morast, zurück in die ekelerregenden Löcher, in denen ich seit 18 Nächten kampierte! Zurück nach Peking, wo man mir von der strengen Winterreise wohlmeinend abgeraten hatte! Meine Karawane war um 2 Uhr am Flusse angekommen. Ich ließ die Wagen bis hart an die Böschung heranfahren, die Maulesel ausspannen und die Pferde losgurten. Der Pferdeknecht musste im Dörfchen nach Reisstroh für die hungrigen Tiere Umschau halten, während ich mich um ein Fährboot bekümmerte. Aber sie waren alle - es lagen 16 große Boote auf dem linken Ufer - fest eingefroren. Stromabwärts, etwa 1000 Meter von der eigentlichen Überfahrtsstelle, lag noch ein Boot, groß genug, um 3 Karren, 9 Tiere und 6 Menschen auf einmal aufzunehmen, denn ich durfte es nicht wagen einen meiner Wagen oder einen Teil der Leute zurückzulassen. Das Boot lag hart am Ufer in einem kleinen Wirbelstrom, der das Festsetzen des Eises bisher verhindert hatte. Schiffer waren erst nach längerem Umherirren und Rufen zu finden. Sie erklärten es als ein Ding der absoluten Unmöglichkeit, die Überfahrt auch nur zu versuchen, der Untergang des Schiffes und von Mann und Maus würde das unzweifelhafte Resultat solch frevelhaften Beginnens sein. Um keinen Preis - und wenn ich auch noch so viel Silber mit mir führe - wollten sie das Risiko übernehmen. Der Strom sei zu gefährlich, das Eis würde die Fähre zerdrücken, aber selbst wenn das nicht einträte, so würde uns der Strom so weit nach Osten versetzen, dass sie 21 Tage brauchen würden, um, sich gegen den Strom am festen Eise entlang stoßend, ihre Heimat wieder zu erreichen. Warum gerade 21 Tage und nicht 12 oder 19 oder 24? Darauf blieben sie mir die Antwort schuldig. Allein die Schiffer waren im Rechte. Der Verkehr war seit mehreren Tagen aufgehoben, kein Mensch wagte sich mehr über den gefährlich rasenden Hwang-ho mit seinen Gletscherpartien. Die Höfe der Fährbootpächter (die Fähren sind kaiserliche, werden aber verpachtet) waren gepfropft voll mit Kaufmannsgütern, und in den elenden Häuschen der Schiffer waren mehrere Mandarinen niederen Ranges untergebracht. Das Los hatte sie nach dem Süden versetzt zu einer Zeit, wo Reisen kein Genuss ist; aber sie saßen und warteten ruhig und ohne Verdruss. Sie hatten ja Zeit! Hier war guter Rat teuer. Der Versuch, hinüberzukommen, musste jedenfalls gewagt werden. Es war ein va banque-Spiel, denn auf meine wiederholte Frage "sag mir's, lieber Schifl'smann, ehrlich, ist's denn wirklich so gefährlich", erhielt ich immer die gleiche, diesmal wirklich ehrliche Antwort - eine Seltenheit in China -, es würde sich kein Schiffer bereit finden, den Tanz mit dem Eise zu wagen. 

Mittlerweile war es halb 4 Uhr geworden, in einer Stunde fing es an zu dunkeln, in Deutschland zündete man die Lichter des Weihnachtsbaumes an. Es hatte sich viel Fußvolk eingestellt, darunter auch das Hilfspersonal, das gegen Vergütung die Karren über Planken auf die Boote bringt und die Tiere an der Außen-Bordwand der Fähre festmacht. Dagegen hatten sich die Schiffer mittlerweile verflüchtigt, sie ahnten wohl, dass der fremde Teufel Teuflisches im Schilde führte. Das Hilfspersonal ließ sich bewegen, die Karren und Tiere über vereiste Planken die abschüssige Böschung hinab auf das Boot gleiten zu lassen, wobei das meinem Dolmetscher gestellte Tier - das Leibpferd des kurz vor meiner Ankunft in Peking an Dysenterie verstorbenen italienischen Gesandten Bardi - in die eisigen Fluten stürzte, unter dem Boote auf kurze Zeit verschwand und nur mit der größten Anstrengung und Lebensgefahr für mich - denn bei Gefahr lässt jeder Chinese glatt los - gerettet werden konnte. Das arme Tier hat an jenem Tage, über und über mit Eis bedeckt, acht Stunden auf offenem Boote gestanden. Um der Bootsleute habhaft zu werden, ließ ich ihnen sagen (sie in ihrer "Wohnung zu überraschen, wäre ein vergebliches Bemühen gewesen), dass ich ohne ihre Hilfe abstoßen und mich treiben lassen würde, bis ich das jenseitige Ufer erreichte; dann würde ich das Boot dem Strome preisgeben. Sofort erschien der Besitzer des Bootes, der aber nicht zum Führerpersonal gehörte, und schimpfte mit den Hilfsarbeitern, dass sie die Karren eingeladen. "Ja, das haben wir getan, um unser Geld zu verdienen, denn wir wissen sehr wohl, dass man nicht übersetzen kann," war ihre - recht chinesische - Antwort. - Nun hatte ich aber gerade den Mann, den ich brauchte, nahm ihn bei der Krawatte, zog ihn über die Planke ins Boot, ließ von meinem Pferdeknecht das Ankerseil, mit dem das Schiff am Ufer festgelegt war, losbinden, zog den Revolver und erklärte, wenn schon Mann und Maus untergehen solle, so müsse er samt seinem Schiffe mit untergehen, denn ich sei fest entschlossen, ihn mitzunehmen, es sei denn, er stelle sofort zwei Schifferknechte, wogegen ich den sonst üblichen Überfahrtspreis verzehnfachen würde. Die zwei Schiffsknechte kamen nach langem Zögern und nach mehrfachem Revolverziehen, dem sich mein Dolmetscher und der Missionar mit seinem rostigen Lefaucheux-revolver, worin zu kleine Patronen steckten, anschlossen. 

Es war nach 4 Uhr, die Sonne ging blutrot unter, als wir unter dem Geheul der am Ufer versammelten Menge abstießen. An ein direktes Überkommen war nicht zu denken. Auf der andern Seite Eis in etwa 500 Meter Breite, auf dem Wagen und Pferde eingebrochen wären; zudem erfasste uns der Strom sofort, umgab uns mit seinen dicksten Eisschollen und trieb uns mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 12 Li die Stunde abwärts. Pferde und Menschen hatten seit 6 Uhr früh nichts im Magen, die Kälte auf dem Flusse war bärenmäßig, die Tiere waren unruhig und mussten am Kopfe festgehalten werden, um uns stockdunkle Nacht, unter uns knirschte und schob das Treibeis, trieb uns der Strom. Der Magen knurrte zum Unwohlwerden, die Hände erstarrten vom Zügelhalten, die Füße wurden gefühllos. Wann und wo wir landen konnten, das wussten uns die Schiffer nicht zu sagen. Wie Gott will, ich halt' still. So trieben wir am Heiligen Abend bis spät in die Nacht hinein den Hwang-ho hinunter, den die Chinesen die Sorge Chinas nennen, in dunkler Nacht die Sehkraft aufs äußerste anspannend, um zu erspähen ob auf dem rechten Ufer nicht eine kleine Bucht oder ein Vorsprung zu entdecken sei, der eisfrei geblieben war. Das Eis schob sich dichter und dichter zusammen, je später und je kälter es wurde; wir trieben in einem Eispanzer, der immer höher wurde, das alte Fahrzeug krachte in allen Fugen, die Tiere wurden ungeduldiger und ängstlicher mit der Nacht und stampften auf den lose zusammengefügten Dielen, so dass ich befürchten musste, eines der Tiere könne durchbrechen und die ändern würden in der Panik auf die eine Seite des Bootes drängen, das, da alles Decklast war, sich auf die Seite legen und umkippen musste. Eine Rettung hätte ich in den Eisfluten gar nicht versucht. Mit solchen Gedanken saß ich stundenlang auf einer drei Zoll breiten Außenbordsdiele und hielt zwei meiner Pferde am Zügel. Ich musste dabei wohl ein bisschen eingeschlafen sein, denn es gab plötzlich einen Ruck, wir saßen fest und Gott sei Dank - am rechten Ufer des Gelben Flusses - an einer eisfreien Böschung, die allerdings sehr steil, beinahe senkrecht war und aus wild durcheinander gepolterten Sandsteinquadern bestand. 

Ich kletterte aus dem Boot, so gut die erstarrten Beine den Körper noch tragen konnten, das heißt, ich glitt als erster auf allen vieren über eine ausgelegte Planke ans Ufer, fiel zwischen die Quadern, schlug mich blutrünstig und zog mich an den Steinen nach oben. Dann setzte ich mich im freien Felde auf meinen Schafspelz nieder und dankte der Vorsehung, dass mir das Wagnis geglückt war. Aus einem 8 Li entfernten Dorfe holte der Schiffer Bekannte; die Wagen wurden über zwei Dielen ruckweise und unter Hebelanwendung aufs freie Feld geschafft;, die Maulesel sprangen geschickt, wie Maulesel es sind, von selbst aus dem Boote und, ohne sich zu verletzen, über die Quadern ans Land. Die Pferde dagegen, die unter der Kälte - trotzdem sie aus der Mongolei stammen. - viel mehr gelitten hatten, fielen zwischen die Quadern und so unglücklich, dass ich vor Entsetzen aufschrie. Am ändern Tage lahmten sie zwar etwas, zeigten aber außer Fellabschürfungen keine Spur von Verletzung. Wie war ich froh, südlich des Gelben Flusses zu sein, des Stromes, der, wo auch und zu welcher Jahreszeit man ihn übersetzt, dem Reisenden stets Schwierigkeiten bietet, bald durch Eis, bald durch meilenweite Überschwemmungen, oder weil er zu reißend geworden, oder, wie weiter westlich, weil er die Brücken mit fortgenommen hat. Wir waren einen halben Grad östlich getrieben, wie sich am nächsten Morgen herausstellte. Schiffsknechte und Schiffsbesitzer wurden königlich bezahlt und meinten dann, sie könnten doch noch nach der Heimat zurück, ehe der Strom ganz zuginge, aber es wurde wohl 2 Tage Wolf im Schafspelz. in Anspruch nehmen; auf dem linken Ufer waren es 2l Tage gewesen! 

Um Mitternacht kamen wir in einem Dörfchen Namens Lai-tong-tschai an, zu müde und zu kalt, um den Versuch zu machen, im Hofe des Gasthauses - im einzigen Zimmer schliefen an die zwanzig Kulis - ein Feuer anzuzünden und eine Tasse Tee zu kochen. Aber für die Pferde wurde das mitgeführte Reisstroh noch geschnitten, sie wurden gefüttert und getränkt, die armen Tiere hatten ihr Fressen wohl verdient. "Schuster" bekam die beiden kleinen Cakes, die ich seit der Frühe in der Tasche hatte, als Mittag- und Abendbrot; der arme Hund schien genaue Kenntnis aller Vorgänge zu besitzen, er schien sie mitzufühlen und mich zu bedauern, denn er klagte in jener Nacht nicht wie sonst, wenn er sein Fressen zu spät bekam. Eine Tafel Schokolade, das war alles, was mir seit 7 Uhr in der Frühe zur Verfügung stand; sie schmeckte wie ein gutes Mahl. Mein Dolmetscher hatte in einer chinesischen Garküche noch eine Mahlzeit gefunden, an der ich mich der Unappetitlichkeit wegen jedoch nicht beteiligen konnte. Dann legten wir uns in den offenen Wagen auf das Gepäck und schlummerten, in unsre Pelze eingewickelt, in den ersten Weihnachtsfeiertag hinüber. Das war mein Heiliger Abend 1896!