19. März 1897

Ich schrieb an Mumm:

„Lieber Herr von Mumm, haben Sie tausend Dank für Ihren liebenswürdigen Brief vom 1. Es war mir eine besondere Freude, von Ihnen zu hören, denn ich bin seit Wochen krank, lebe abwechselnd im Bett und auf der Chaiselongue, da ich das hiesige Klima absolut nicht vertrage, und habe noch nie ,the joylessness of life' so ganz realisiert wie während dieses entsetzlichen Winters in Peking, umgeben von der grauen, trostlosen Hässlichkeit und Armseligkeit, und dabei belastet durch das erdrückende Gefühl der Abgeschnittenheit, des Gefängnishaften. Wenn ich unser Exil überhaupt überlebe, so werde ich an Peking nur mit schauderndem Frösteln zurückdenken über all das Grauenhafte, was ich hier habe sehen müssen. Wenn man im Grab an Peking zurückdächte, müsste das Totsein an Reiz gewinnen. Man erlebt hier ungeschriebene Kapitel aus Dantes In­ferno. Ein Inferno, wie eine kalte nordische, armselige, trostlose, grau in graue Phantasie es träumen könnte! Es kann keinen zweiten so abschreckenden Ort geben, den die arme Sonne bescheinen muss, sonst würde sie das Geschäft aufgeben. Wie gern täten auch wir das!

Lieber Herr von Mumm, wozu sind wir eigentlich hierher geschickt worden? Für die schwächliche, ängstliche Politik, die man offenbar hier treiben will, passte doch Baron von Schenk unendlich viel besser; denn er ward rund und fett, indes man hier über Deutschland die Achseln zuckte, was uns nicht schlafen lässt. Mein Mann ist doch wirklich zu schade für dieses kindische Kokettieren mit Flottenstationsplänen und nervös-ängstliche Fallenlassen aller Vorsätze, sobald eine Schwierigkeit entstehen könnte.

Bei der ersten Gelegenheit, wo es mein Mann so weit gebracht hatte, dass wir handeln konnten, und es hier allgemein erwartet wurde, wird von Berlin abgeblasen. Und wegen welcher nichtiger Vorwände, weil Russland sofort ganze Provinzen annektieren würde! Als ob es damit, wenn es überhaupt Wert darauf legte, auf uns zu warten brauchte!

Diese ganze Weisheit basiert auf einem Gespräch des Fürsten Radolin mit Graf Cassini, in dem dieser geäußert hat, wir sollten es doch wie Russland und Frankreich machen und einfach zugreifen. Dahinter wird mit großer Schlauheit gesucht, Cassini wollte uns hineinhetzen, um selbst Provinzen schlucken zu können, und wir kommen uns sehr klug vor, indem wir sagen: ,Nun gerade nicht, ein Russe hat es geraten, folglich muss es schlecht sein!' Aber so liegt es nicht. Wenn Russland wollte, könnte es den ganzen Norden Chinas besetzen; das liegt aber nicht in seinen vorläufigen Plänen. Auf Jahre hinaus wird es hier Eisenbahnen bauen, Banken gründen, Schulen einrichten und das Land so viel sicherer und ohne Aufsehen absorbieren. Es ist ja in der glücklichen Lage, warten zu können, weil es eine zielbewusste Politik betreibt und Schritt für Schritt nach dem Persischen Golf und den östlichen eisfreien Meeren vorgeht, und es ist auch immer sicher, dafür die nötigen Mittel zu finden, weil es ja nicht von einem gedankenlosen Reichstag abhängt. Gewaltsame Annexionen großer Provinzen wünschen sich weder die Russen noch die Franzosen, dazu sind die Chinesen ein zu schwer verdauliches und unassimilierbares Futter.

Was aber alle hier besitzen und was jeder, der dies Land mit seinen Possibilitäten kennt, auch für Deutschland wünschen muss, ist, eine Tür in Händen zu haben, die nach China hineinführt. Und da es nicht eine lange Landgrenze sein kann, wie Russland und Frankreich sie haben, muss es eben ein deutsches Gegenstück zum englischen Hong­kong sein. Solange wir hier nicht festen Fuß gefasst haben, werden wir nie in Ostasien au serieux genommen werden.

Wir sind gern nach Peking gegangen, solange man glauben konnte, dass es sich hier um besondere Aufgaben handelte, für die man meinen Mann speziell als geeignet hielt. Da das aber nicht der Fall ist, so kann ich nur sagen, dass es eine unnötige Grausamkeit ist, verheiratete Leute an diesen furchtbaren Ort zu schicken. Kinder den Gefahren eines Pekinger Aufent­haltes auszusetzen, wäre ein unverantwortliches Unrecht..."

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