20. Februar 1897

Es ist plötzlich ganz frühlingsmäßig geworden. Luft und Himmel sind göttlich, so dass man lange Ausflüge machen möchte, aber in den Straßen taut und stinkt es derartig, dass man doch am besten zu Hause bleibt. Sobald es hier schön wird, empfindet man mehr als je das Gefängnismäßige . . .

Heut erzählte Herr Detring, bei den Chinesen ginge das Gerücht, der Kaiser von Russland käme nach Peking, was mich lebhaft an Indien erinnerte, wo auch immer am Horizont der indigenen Phantasie der Zar in einem großen Schlitten am Horizont auftauchte. Dies Bild scheint in ganz Asien in der Imagination der Leute zu spuken. So viel ist sicher, dass ein Russe, über dessen Bedeutung die Chinesen sich offenbar große Illusionen machen, nach Peking kommt, um dem Kaiser von China den Andreasorden zu überreichen.

Ich schrieb an Kiderlen [Gesandter in Kopenhagen]:

„Lieber Herr von Kiderlen! Ich habe Ihnen schon längst einmal schreiben wollen; die ersten Eindrücke von China waren aber so schauerlich, dass ich es verschob, in meiner da­maligen Idee, mit der Zeit vielleicht günstiger urteilen zu können. Da sich aber meine Auffassung dieses Landes stets verfinstert und sich die wenigen Lichtblicke, auf die wir gehofft hatten, in nichts auf­lösen, so will ich nicht länger zögern, Ihnen ein Lebenszeichen zu geben, welches Sie im günstigsten Fall in zwei Monaten erhalten. Diese Tatsache charakterisiert an sich dieses Land, welches in gewollter Abgeschnittenheit von der übrigen Welt stumpfsinnig weiter­lebt, während es durch einen Eisbrecher im Hafen von Tientsin oder durch die seit Jahren geplante Bahn in den Süden in ununterbroche­ner Kommunikation mit dem übrigen Erdball sein könnte. Aber das wollen die Chinesen nicht und sie sind trotz ihrer bitteren Erfahrungen fortschrittfeindlicher denn je, hassen alles Fremde und Reformen, und Eisenbahnen müssen ihnen aufgedrungen werden, nicht als seien dies Vorteile für sie selbst, sondern Zugeständnisse für fremde Nationen.

Wie grauenhaft alle Lebensbedingungen in dieser Barbarenstadt sind, können Sie sich gar nicht vorstellen, denn selbst wer die entsetzlichsten schmutzigsten orientalischen Dörfer gesehen, ahnt nicht, was Peking ist. ,Je rentre dans la grande cloaque', soll ein vom Urlaub zurückkehrender Europäer gesagt haben, als er sich wieder vor den Anblicken und Düften der Straßen Pekings befand, und besser wird diese Stadt nie geschildert werden.

Wir leben hier wie in einem Gefängnis in die Gesandtschaften eingeschlossen, und was man in den Straßen sieht, ist so unanständig, und was man riecht, so widerlich und gesundheitsgefährlich, dass nur ausgeht, wer durchaus muss.

In die paar Gärten, die es in Peking gibt, darf kein Europäer eintreten, alle Sehenswürdigkeiten sind uns verschlossen, und um auf die Umfassungsmauer der Stadt zu gelangen, haben uns die Chinesen nur einen Aufgang eröffnet, der so weit abseits liegt, dass sich auch das von selbst verbietet.

Der Europäer ist hier eben ein missachtetes, gehasstes Wesen, wenngleich er Gesandter heißt. Die Chinesen schließen sich von uns ab, soviel sie nur irgend können, und da keiner von ihnen eine europäische Sprache ordentlich kann, so fehlt jede Möglichkeit, sich persönlich gut mit ihnen zu stellen und sie zu beeinflussen.

Mein Mann empfindet das sehr, denn er hat gerade die Gabe, sich bei Menschen beliebt zu machen, und für die ist hier nicht der geringste Raum. Chinesen verstehen nur die Dollar- oder Kanonensprache. Im übrigen befindet man sich einer großen starren Mauer gegenüber, gegen die alle europäischen Gedanken und Argumente spurlos abprallen, und zwischen den Europäern und Chinesen besteht eine derartige Anschauungskluft, dass sie nie zu überbrücken sein wird.

Was sie auch früher gewesen sein mögen, heute sind die Chinesen schmutzige Barbaren, welche keine europäischen Gesandten, wohl aber europäische Herren brauchten — je eher, je besser! Die Russen und Franzosen haben das längst eingesehen, und rücken hier unaufhaltsam von Sibirien und von Tonking aus vor. Dass der ganze Norden Chinas russisch werden wird, ist wohl eine Tatsache, und ich glaube, es wäre ganz verkehrt, etwa unsere Forderungen in der Gegend von Amoy nicht auszusprechen, um dadurch ein russisches Vordringen im Norden zu verhindern, denn der ist ihnen sowieso verfallen.

Welchen großen Vorteil die Franzosen und Russen hier vor uns haben, dass sie Grenzen besitzen, von denen aus sie drohen und Forderungen stellen können, erweist sich bei jeder Gelegenheit, wo sich die Chinesen ihnen gegenüber etwas zuschulden kommen lassen, und sie dann sofort von ihrer festen Basis aus einen Schritt vorwärts gehen können. Wir sind den Chinesen zu weit weg, und wenn wir nicht unsre Position in Ostasien auf die Stufe derjenigen Hollands oder Belgiens herabsinken lassen wollen, müssen wir hier eine Station erwerben, von der aus wir dann auch für unsere Industriellen Eisenbahnen in das Land hinein verlangen können. Von der bloßen Gesandtschaft aus kann man mit den Chinesen nicht mit Erfolg arbeiten.

Wir müssen uns unsern Platz an dem großen chinesischen Trog erwerben, an dem die besten Plätze von den Russen und Franzosen schon genommen sind. Fressende Völker sind ja noch weniger anmutig wie — nach Byron — essende Damen, nachdem wir aber in Ägypten den Engländern dabei zugeschaut und hier Russen und Franzosen in voller Kautätigkeit finden, möchten wir endlich mitmachen dürfen.

Der Gedanke an diese Möglichkeit hat uns ja allein dazu veranlasst, in dieses furchtbare Land zu ziehen, und wir würden alles Schreckliche hier ja gern ertragen, wenn wir sie dafür aus einer Möglichkeit zur Wirklichkeit werden sehen. Als wir in so überstürzter Weise vorigen Sommer von Berlin abreisen mussten, dachten wir, dass es sich um ganz besonders dringende Aufgaben handele, — die Aufgaben sehen wir ja nun, allein uns fehlt der Glaube, denn mein Mann hat doch allmählich den Eindruck bekommen, dass man in Berlin nicht recht will und mit dem Gedanken einer Flottenstation nur kokettiert.

Lieber Herr von Kiderlen, in Darmstadt oder Karlsruhe lässt es sich wahrscheinlich auch ohne besondere Ziele ganz gut leben, aber in Peking ist die Existenz nur auszuhalten, wenn man von dem Bewusstsein getragen wird, wirkliche Aufgaben zu verfolgen, über die man die tausend Entbehrungen vergisst, die man hier täglich erduldet. Zum Verzweifeln aber ist es, wenn man daran irre wird.

Ein deutscher Gesandter hat es ja hier ohnedies schwerer, als alle andern. Die Franzosen und Russen helfen und stützen sich durch dick und dünn, wir dagegen stehen hier ganz isoliert, denn die Freunde haben längst vergessen, dass wir mit ihnen gegangen sind, und haben wohl verstanden die Erinnerung daran bei den Chinesen zu verwischen, und unsrerseits ist ja auch nichts geschehen, um sie wachzuhalten. Italien und Österreich sind durch kindliche Dolmetscher hier vertreten, und wir haben von diesen Alliierten um so weniger Hilfe zu erwarten, als wahrscheinlich kein Chinese je von der Tripleallianz gehört hat.

Die einzige Möglichkeit, hier etwas zu erreichen ist durch the good will von Russland. Dagegen ist es unmöglich anzukämpfen, und so widerlich die Russen auch gerade hier sind und so sehr Zweiter-Klasse-Beamte sie hier herausschicken, so wird man doch nur durch sie zu etwas gelangen. Heute noch wurde auf der englischen Gesandtschaft geäußert: ,There is nothing to hinder them from marching into Peking today.'

Ich frage mich oftmals, warum wir nach dem geliebten Kairo gerade nur vor die Alternative des furchtbaren Tanger und des schrecklichen Peking gestellt worden sind. Wir sehen hier alles so hoffnungslos an, dass wir uns sehnen, so bald als möglich fortzukommen, und, falls Japan jetzt frei wird und man, wie schon früher einmal, an uns für dort denken sollte, wir gern bereit wären hinzugehen. Wir hätten dort doch ein menschliches Dasein, könnten uns im Freien bewegen, hätten europäische Ärzte und könnten unsre Kinder hinkommen lassen.

Wir denken oft mit Sehnsucht an die hübschen Tage in Hamburg bei Ihnen, und ich hege ein besonderes grief gegen das Schicksal, welches es nicht zuließ, dass wir Sie in Kopenhagen besuchten... Mein Mann empfiehlt sich Ihnen in dankbarer Freundschaft, und ich bleibe Ihre aufrichtig ergebene E. H."

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