20. Juli 1896

Ich skizzierte die vielen reizenden Boote, die unaufhörlich vor unseren Fenstern auf dem Fluss fahren, und dann machten wir eine schöne Spazierfahrt an einen Kanal, auf welchem viele merk­würdig gebaute und beladene Hausbote tief ins Land hineinfahren. Von weitem sieht man sie kommen, und da die vielgekrümmte Wasserfläche durch die Ufer verdeckt ist, scheint es, als bewegten sich die Segel auf dem Lande. Fedrige Bambusdickichte stehen auf den Dünen, im Schlamm am Ufer lagen große schwarze Wasserbüffel, und der Himmel war von zartem Abendrot überhaucht, das sich im Wasser widerspiegelte. Es war ein schöner ruhiger Moment, den man gern fixiert hätte. Es gibt solche Augenblicke, wo das Leben plötzlich still zu stehen scheint, und sich in träumerisches Beschauen verwandelt. Aber wie kurz sind sie! Besonders in diesen ersten chinesischen Tagen hört und sieht man doch so vieles, dass man zu keiner rechten Ruhe kommt. Das wenigste ist dabei wirklich erfreulich, und sowohl Edmund wie ich haben manchmal ein beklommenes Angstgefühl über seine hiesige Tätigkeit, wo er mit der Arbeit ansetzen soll, und was ihm wohl gelingen wird. Mir fällt ein altes Kindergebet ein: „Gib Herr Vollbringen und Gelingen."

Abends gab Herr Stuebel eine große Abendgesellschaft von 120 Personen, bei der wir die Notabilitäten der deutschen Kolonie kennen lernten. Mir machen die hiesigen Deutschen einen sehr guten Eindruck. Es scheinen unabhängige Leute zu sein, die das Bewusstsein haben, auf sicherer Grundlage zu stehen.

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