Als der Gelbe Fluss sein Bett verließ...

Ernst Tiessen (China, 1902)

So ist das hydrographische Bild der Gegenwart: in manchen Linien auffallend und geradezu unverständlich, wenn nicht die Tatsachen einer mehrtausendjährigen Vergangenheit zu Hilfe gerufen werden. Es wurde des Ausspruchs gedacht, demzufolge über keinen Fluss der Welt mehr geschrieben wäre als über den Huanghe. Trifft diese Behauptung zu - und wir haben keinen Grund daran zu zweifeln -, so wird sie allein durch den Unterlauf des Stromes in der Grossen Ebene, seine ungeheuren Überschwemmungen und Wanderungen gerechtfertigt. Wir können noch eine andere treffende Äußerung aus der Literatur heranziehen: "Die Geschichte des Gelben Flusses, seiner Verlegungen und Verwüstungen ist die Geschichte von China selbst, und der Ruin, den er dem Land immer wieder zugefügt, hat ihn berühmter gemacht, als es der "Jiang" durch seine Tugenden hat werden können." Dieser Satz ist in seinem ersten Teil etwas übertrieben, aber er kennzeichnet den fast. maßlosen Respekt, den der Huanghe infolge seines Einflusses auf die Geschicke des Landes von Seiten der Chinesen selbst und ihrer Geschichtsschreiber als auch aller .Kenner der Verhältnisse genießt. Könnte doch ein Volk auf einem mit tätigen Vulkanen besetzten Boden kaum mehr in Unsicherheit und dauernder Gefahr schweben als die Millionen von Bewohnern und Bebauern der Grossen Ebene im Bereich des Gelben Flusses! Und wo findet dieser Bereich seine Grenzen? - Wenn wir die Geschichte darum befragen, so gibt sie uns die Antwort: innerhalb der Ebene nirgend außer ganz im Norden und ganz gegen Südwest, denn sonst gibt es vielleicht wenig größere Bezirke, die niemals von Wassern, die ans dem Huanghe stammten, überschwemmt gewesen sind, durch sie Zerstörungen erlitten haben.

Der Oberlauf und Mittellauf des Stromes ist seit langer Zeit immer in annähernd denselben Bahnen geblieben, abgesehen von den verhältnismäßig geringfügigen Verschiebungen droben in der mongolischen Steppe. Zwar sind anders lautende Vermutungen geäußert worden: A. David wollte ihn durch die vulkanischen Ereignisse am Rande der Mongolei abgesperrt und dort zu einem gewaltigen See aufgestaut, Pumpelly vielleicht gar weiter durch die Schlucht des Yanghe und dann des Hunhe direkt durch das Gebirge zur Ebene von Peking und zum Meere fließend wissen; Williamson leitete seinen ehemaligen Lauf durch die in das Tafelland von Schaanxi eingesenkten Becken; aber diese Hypothesen waren lediglich der Meinung zu Liebe entstanden, dass die Lössmassen in den fraglichen Gebieten nur als Folge von Überschwemmungen durch den Gelben Fluss erklärt werden könnten, und haben einer vertieften Einsicht weichen müssen. Der veränderliche Lauf des Huanghe beginnt vielmehr erst da, wo er aus der west-östlichen Engschlucht zwischen Schaanxi und Henan austritt, oder genauer da, wo auch im Süden der natürliche Damm lössbedeckter Höhen weicht. Hier ist der Ansatzpunkt, für all die verschiedenen Richtungen zu suchen, in denen der Strom seine launischen Gewässer bald hoch nach Norden, bald nördlich oder südlich um das Gebirgsland von Shandong herum ausgestrahlt hat.

Die ältesten glaubhaften Nachrichten über die Vergangenheit des Gelben Flusses stammen wiederum aus der berühmten "Tributrolle des Yu", dem Yugong, und sind zuerst von Biot nach einem chinesischen, von Karten begleiteten Werk aus dem Jahre 1705 übersetzt und erläutert, dann durch Pumpelly und besonders durch v. Richthofen auf ihre geographische Bedeutung hin untersucht worden. Wäre diese vier Jahrtausende alte Urkunde nicht erhalten, so würde nur eine unsichere Vermutung darüber bestehen können, dass der untere Huanghe einmal eine so abweichende Laufrichtung genommen hätte, wie sie im Yugong berichtet wird. Danach floss der He zur Zeit des Kaisers Yan, also wenigstens noch um das Jahr 2000 v. Chr., wahrscheinlich nur wenig über die Einmündung des Jin-Flusses hinaus in dem heutigen Bett gegen Osten, dann aber in nordöstlicher Richtung gegen Weihuifu, wo er den oben geschilderten Lauf des jetzigen Wei ho erreichte und für eine, Strecke von etwa 50 km in seiner nördlichen Richtung verfolgte. Wo der Wei he nunmehr weiter nach der Stadt Damingfu abweicht, setzte der alte Huanghe die Nordrichtung fort, zwischen Damingfu und dem mehr westlich gelegenen Changdefu hindurch nach dem Sumpf Dayin, der noch auf den neuesten chinesischen Karten östlich der Stadt Shundefu verzeichnet ist. Auf dieser und der weiteren Strecke nahm er, nur 20-30 km vom Taihangschan entfernt, sämtliche von Schaanxi herabkommenden Flüsse in sich auf. Dann, heißt es im Yugong, "sich ausbreitend wird er die neun he", d.h. er teilte sich in neun Arme, die sich vielleicht unweit der Gegend von Tianjin wieder vereinigten, v. Richthofen hat aus der Ausbreitung einer großen Überschwemmung 1871-73 auf das von diesen "neun He" in Besitz genommene Gebiet Schlüsse gezogen; das damalige Hochwasser bedeckte eine ungeheure Fläche von Tianjin westlich bis gegen Baodingfu und Chengdingfu, südwestlich bis zum Dalu-Sumpf.4) Der östlichste der neun Arme floss wohl wieder im Bett des heutigen Weihe-Unterlaufs. Diese Zerspaltung verliert ihr Wunderbares, wenn man beachtet, dass gegenwärtig mehr als neun Wasserläufe auf diesem Gebiet zu finden sind. Selbstverständlich musste der alte Huanghe auch auf dieser Strecke seines Laufs alle aus dem Gebirge kommenden Flüsse in sein Bett zwingen, vornehmlich also den Hutouhe und den Hunhe sowie die ganze Schar der zwischen diesen beiden größten Strömen in die Ebene gelangenden Gebirgswasser. Aber auch bei dem heutigen Lauf des Baihe machte der Gelbe Fluss noch nicht halt, wandte sich nicht in der Richtung auf die jetzige Baihe-Mündung zum Meere, sondern stieg, den Weißen Fluss zu seinem Nebenfluss degradierend, noch weiter nordöstlich hinauf und ergoss sich vielleicht erst östlich der Stadt Yongpingfu, also sogar jenseits der Luanhe-Mündung ins Meer, nahezu in der Breite von Peking (40. Grad). Die Stelle, an der er das heutige Bett des Baihe überquerte, ist noch heute nachzuweisen, falls die oberhalb Tianjin erkennbaren, W-0 gerichteten merkwürdigen Dämme nicht anders gedeutet werden können.

Dieser weit nach Norden gerichtete Lauf des He blieb bis gegen das Jahr 600 v. Chr. bestehen, jedoch soll sich bereits zur Zeit der Shang-Kaiser (bis 1122 v. Chr.) weiter im Süden ein Arm gegen den Ji-Fluss, also in der Richtung auf Jinanfu abgezweigt haben. Dies wäre dann die älteste Überlieferung von einem Mündungsarm des Gelben Flusses, wie er ihn auf den Karten der Gegenwart zeigt. Der Umfang der Katastrophen, die der Strom in jenem entlegenen Altertum über den nördlichen Teil der Grossen Ebene heraufbeschworen hat, entzieht sich unserer Kenntnis, jedenfalls muss er ein gewaltiger gewesen sein. Beruhte doch der unauslöschliche Ruhm des Ministers Yu auf der ersten Erkundung, Regulierung und Eindämmung des unteren He, soll ihn doch diese Leistung als würdigen Erben des Kaiserthrons qualifiziert haben. Unter den Shang- und Zhou-Kaisern waren bereits besondere Beamte zur Überwachung des Stromes bestellt, und eine große Zahl von Urkunden, so die Ermahnung eines "Fürsten von Ji" aus dem Jahre 678 v. Chr. an eine Versammlung der verbündeten Reichsgrossen zur Beaufsichtigung der Flüsse, beweist, dass die Tücken des Gelben Flusses das Volk und seine Herrscher in fortgesetzter Unruhe erhielten. Der erwähnte Aufruf hatte wahrscheinlich nur geringen Erfolg, denn schon im Jahre 602 unter der Regierung des Zhou-Kaisers Tangwang erfolgte ein großer Ausbruch des Flusses, der seinem Unterlauf seit den Zeiten Yu's zum ersten Male eine endgültig veränderte Gestalt gab, denn von nun an kehrte der Huanghe nie mehr zu der im Yugong geschilderten Richtung zurück. Der Fluss besaß damals jedenfalls einen Mündungsarm nördlich vom Shandong-Gebirge etwa in der heutigen Lage, außerdem einen zweiten, der zwar noch weit nach Norden hinaufstieg, aber östlich von dem früheren Lauf lag und schon in der Gegend der jetzigen Baihe-Mündung das Meer erreichte. Dieses Drängen nach Osten, das den Huanghe unwiederbringlich aus der alten Laufrichtung ablenkte, hatte sehr wahrscheinlich seine Ursache in den vom Schansx-Plateau herabkommenden Flüssen, die mit ihren Schuttmassen den Wassern des großen Stromes den Weg verlegten und ihn zwangen, sich von der Mauer des Taihang-Gebirges weiter zu entfernen. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sollen sich Durchbrüche in der Gegend von Huaijingfu ereignet haben, die den späteren Lauf gegen Südost vorbereiteten, sicher aber erfolgte damals eine Abweichung aus der Umgebung von Kaifengfu nach Osten. Beglaubigt ist ferner die Tatsache, dass etwa 100 Jahre später (um 250 v. Chr.) ein heftiger Ausbruch nach SO erfolgte, der den Gelben Fluss in den Huaihe leitete, sodass er also zum ersten Male seine Bahn auf die Südseite des Berglandes von Shandong verlegte. Dieser Arm wurde um das Jahr 132 v. Chr. in das nördliche Bett zurückgeleitet, das wahrscheinlich mit wechselndem Verlauf zunächst immer bestehen blieb. 

Im Jahre 11 nach Christus trat die zweite große Änderung seit den Zeiten Yu's ein: der nördliche nach der Baihe-Mündung gerichtete Lauf, der in seinem Bestand wahrscheinlich schon seit längerer Zeit schwankend geworden war, wurde von den Wassern des Huanghe verlassen und ist von ihnen nur noch einmal nach 1000 Jahren (1048-1194) vorübergehend in Besitz genommen worden. In der langen Zeit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts blieb der Kanal vom Eintritt in die Ebene bis gegen Damingfu beständig und ergoss sich von hier aus in verschiedenen Richtungen nach dem Meerbusen von Zhili, bald nahe dem Punkt der heutigen Mündung, bald mehr oder weniger weiter nördlich. 

Ein dritter und zwar sehr durchgreifender Wechsel trat 1194 ein. Schon seit sehr alten Zeiten, haben wir gesehen, hatte sich an jenem Strahlungspunkt, wo der Huanghe die Ebene völlig betritt und wo alle Laufverlegungen ihren Ansatz genommen haben, die Tendenz entwickelt, den Fluss nach S oder SO ausbrechen zu lassen. Die nördlich angelagerte Ebene von Huaijingfu wurde durch den Schutt der aus dem Hochland von Shanxi kommenden Gewässer immer mehr erhöht, und besonders der größte dieser Flüsse, der Jinhe, mag das Seinige dazu getan haben, um den schon von sich aus unbeständigen Strom zu stören und nach Süden abzudrängen. Schon vor dem Beginn unserer Zeitrechnung hatte der Huanghe einmal diesen Weg mit solcher Energie betreten, dass er seinen Lauf für mehr als 100 Jahre bis zum System des Huaihe durcharbeiten konnte. Er schien sich aber bei dem Gelingen dieses Versuchs beruhigen zu wollen, sicherlich tat auch die Bevölkerung alles, um der Wiederholung einer solchen Katastrophe vorzubeugen. Die auf den Fluss gerichtete Aufmerksamkeit musste aber durch die unaufhörlichen und meist unglücklichen Kämpfe der chinesischen Song-Dyuastie gegen die nördlichen Grenzvölker in verhängnisvollem Grade beeinträchtigt werden, und diesem Umstände ist wohl mindestens zum Teil der Eintritt der Umwälzung von 1194 zuzuschreiben. Der Gelbe Fluss liess alle seine früher nach N und NO innegehabten Arme im Stich und schlug wieder einmal eine ganz neue Richtung ein, indem er von Kaifengfu ab seinen Lauf noch weiter annähernd 0 oder OSO fortsetzte. Er vermied diesmal eine Vermischung mit den Zuflüssen des Huaihe und behielt die neugewählte Richtung über Xuzhoufu bis zum Norden des Hongce-Sees bei, dann den nächsten Weg zum Meer einschlagend. 

Es würde uns weit über unser Ziel hinausführen, wenn wir die Folgen dieser ungeheuren Verschiebung untersuchen wollten, und wir wollen uns nur daran erinnern, dass dadurch die Hydrographie der nördlichen Grossen Ebene ein wesentlich verändertes Aussehen erhalten musste. Die ehemaligen Nebenflüsse des unteren Huanghe, die Gewässer aus dem Nordchinesischen Gebirgsrost, aus dem Plateau von Shanxi und vom Nordabhang des Berglandes von Shandong hatten schon früher oder spätestens mit dieser letzten Umwälzung ihre Selbständigkeit insofern wiedererlangt, als es ihnen nun überlassen blieb, allein für sich oder untereinander vereinigt ihren Weg zum Meere zu suchen, allerdings doch abhängig von dem Bett und den Veränderungen des Bodens, die der Gelbe Strom in seinen früheren Bahnen geschaffen hatte. Dagegen richtete dieser nun unter den Flüssen weiter südlich, im besonderen am Südabhang des Shandong-Berglandes eine Verwirrung an, die nur durch eine wesentliche Umgestaltung aller betroffenen Wasserläufe gelöst werden konnte. 

Der so geschaffene Zustand ist derjenige, den die europäischen Reisenden aus Erfahrung zuerst kennen gelernt haben. Marco Polo, mit dessen Reisen eigentlich die Erkundung von China begann, traf am Ende des 13. Jahrhunderts den Huanghe schon in dieser Laufrichtung nördlich des Hongce-Sees; alle späteren Forscher fanden dieselben Verhältnisse vor. Nur als die europäische Wissenschaft sich mit dem Studium der chinesischen Literatur zu befassen anfing, konnte sie erfahren, dass Das nicht immer so gewesen; dass der Gelbe Fluss vielmehr in seinem Unterlauf in der Vergangenheit eine Unbeständigkeit bewiesen hatte, wie sie in der gesamten Erdkunde ohne Vergleich war und ist. Grosse Überschwemmungen kamen selbstverständlich weiterhin vor, aber im Großen und Ganzen schien sich der Gelbe Fluss zu einer fast konservativen Gesinnung bekehrt zu haben. So blieb es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, bis zur letzten großen Verlegung des Huanghe, die die Menschheit bisher erlebt und in ihren Annalen verzeichnet hat. 

Die Geschichte dieser letzten Umwälzung ist in mehrfacher Hinsicht interessant und kennzeichnet besonders scharf den gewaltigen Abstand, der noch vor 50 Jahren China von der übrigen Welt trennte (der übrigens heute wohl nicht viel geringer geworden ist), und wirft gleichzeitig ein grelles Licht auf die sonderbaren Zustände im Reich der Mitte. Die europäischen Gelehrten und Reisenden hatten verschiedentlich die Frage erörtert, ob wohl der Gelbe Fluss seinen Lauf nochmals ändern werde. Karl Ritter war durch seine Studien über die Vergangenheit des Stromes zu der Meinung gekommen, dass dieser zunächst noch weiter nach Süden wandern, dann aber wohl in die älteren Bahnen nach Norden zurückkehren würde. Der französische Missionar Huc hatte aus seinen eignen Beobachtungen einen ähnlichen Schluss gezogen: "Das gegenwärtige Bett des Gelben Flusses liegt in den Provinzen Henan und Jiangsu auf über 200 Meilen Länge höher als fast die ganze unermessliche Ebene, die sein Tal bildet. Wenn dieses Bett fortgesetzt durch die enormen Schlammmassen, die der Fluss herabschwemmt, weiter erhöht wird, so kann man für eine nahe Zukunft eine schreckliche Katastrophe voraussehen, die Tod und Vernichtung über die diesem furchtbaren Fluss benachbarten Gegenden verbreiten wird." 

Bald nachdem Huc diese Worte niedergeschrieben hatte, trat die Katastrophe in der Tat ein: der Fluss verließ das seit über 6 1/2 Jahrhunderten benutzte Bett und wandte sich der seit langer Zeit verlassenen Bahn nach NO wieder zu. Man muss die Grosse dieses Naturereignisses zu verdeutlichen suchen: ein Fluss verlegt seinen Unterlauf auf etwa 500 km Länge nach einer neuen Mündung, die um vier Breitengrade (450 km) von der bisherigen entfernt ist! Vergeblich versuchen wir, uns die Möglichkeit einer solchen hydrographischen Revolution auf europäischem Boden vorzustellen; wir müssten uns, von den vorhandenen Hindernissen der Bodengestaltung selbstverständlich absehend, etwa denken, dass die Elbe noch innerhalb Böhmens plötzlich aus ihrer Bahn bräche und der Gegend der Weichselmündung zuflösse, während ihr ganzes jetziges Bett innerhalb Deutschlands austrocknete. Man nehme hinzu, dass das gesamte von der Katastrophe betroffene Gebiet so dicht bevölkert ist wie kaum ein Bezirk in Deutschland, und male sich nun die Folgen aus, die für Land und Volk eintreten müssen. Mit der etwa gewonnenen Vorstellung wollen wir nun das Bild der Tatsachen vergleichen, die bezüglich der letzten derartigen Umwälzung in der großen chinesischen Ebene überliefert sind. Während der sommerlichen Flut im Jahre 1851 durchreißen die Wasser des Huanghe unterhalb Kaifengfu (bei Longmenkou == Mund des Drachentors) den Damm des Nordufers und ergießen sich teilweise in die Ebene; im folgenden Jahre erweitert sich der Dammbruch so weit, dass sich der Wasserstand in dem bisherigen Unterlauf stark vermindert; 1853 stürzt sich das gesamte Wasser des Flusses in die neue Richtung. Noch merkwürdiger müssen die Veränderungen auf die Bevölkerung am bisherigen Unterlauf des Flusses gewirkt haben. Die Leute aus der Stadt Huai'anfu (östlich des oft erwähnten Hongce-Sees) fanden den sonst wegen seiner starken Strömung nur unter Mühe und Gefahr mit Fährbooten zu kreuzenden Strom in der zweiten Hälfte des Jahres 1852 plötzlich zum Durchwaten seicht, und im Frühling des folgenden Jahres gehen die Reisenden trockenen Fußes durch das Bett; seitdem ist es, wie es in einem chinesischen Bericht heißt, "trocken wie Staub". Auch weiter oberhalb bei der Stadt Xuzhoufu, wo der Fluss über l km breit war und eine so starke Strömung besaß, dass die Boote bei der Überfahrt 2-3 km stromab getrieben wurden, verminderte sich das Wasser binnen kurzer Zeit derart, dass Kinder hindurchwaten konnten. Eine sehr ausgedehnte Landfläche musste von dem Ereignis in schwere Mitleidenschaft gezogen werden. In der Gegend, über die der Strom seine Wasser unerwartet und unaufhaltsam ergoss, fielen ungezählte Menschenleben, angemessenes Hab und Gut den Fluten zum Opfer; die von dem neuen Lauf getroffenen Flüsse und Kanäle wurden aus ihrem Gleichgewicht gebracht, die Schifffahrt besonders auf dem Grossen Kanal, der nordsüdlich von Tianjin zum Yangtse führt, wenigstens zeitweise unterbunden. Nicht geringer war der Einfluss in den südlicheren Gegenden der Ebene, wo nun plötzlich die starke Wasserader versiegt war. Wenn sie auch der Schifffahrt nennenswerte Dienste unmittelbar niemals zu leisten vermocht hatte, so hatte sie doch dem südlichen Teil des Grossen Kanals eine wesentliche Wassermenge zugeführt, deren Fehlen nicht nur für die Schifffahrt, sondern auch für die in China höchstentwickelte künstliche Bewässerung der Felder fühlbar werden musste. 

Nach dem Eintritt einer Katastrophe von solcher Tragweite muss sich dann doch wohl eine starke Erregung aller Bewohner der Grossen Ebene, ihrer Regierung, ja, des ganzen Reichs bemächtigt haben! - die Nachricht: "der Gelbe Fluss ist aus den Fugen geraten" wie ein Lauffeuer über die Welt hingeeilt sein! 0 nein! die Tatsachen lauten ganz anders. In dem chinesischen Reichsanzeiger, der "Staatszeitung" in Peking, geschah des gewaltigen Vorgangs, der Millionen von Staatsbürgern aufs nachhaltigste betroffen hatte, zunächst gar keine Erwähnung. Im Jahre 1856(!) war in dem Blatt die kurze Andeutung zu lesen: "Der über den Unterlauf des Huanghe gesetzte Beamte berichtet, dass von den 22 seiner Aufsicht unterstellten Kreisen 9 völlig trocken gelegt seien", und erst noch später beschäftigte sich ein kaiserliches Edikt mit dem bösen Omen: "Der Fluss fließt nicht mehr wie bisher" und spricht die Erwartung auf weitere Aufklärung aus. 

Noch länger dauerte es natürlich, bis die Kunde nach Europa drang. Erst 1854 kamen unbestimmte Gerüchte zu den Ohren der Europäer in Schanghai, denen zu Folge sich die Wasser des Gelben Flusses allmählich vermindert hätten, und dabei liegt Schanghai nur 250 km von der alten Mündung des Huanghe entfernt, und es steht in lebhaftem Verkehr mit dem von diesem gekreuzten Kaiserkanal. Ein dort anwesender Engländer machte einige Zeit darauf eine Reise nach dem Gelben Fluss und fand zu seiner höchsten Überraschung das Bett gänzlich trocken und sandig; er beschreibt die höchst eigenartige Szene, wie der alte Flusslauf nun von unzähligen Reisenden als Strasse benutzt wurde. Dabei war es fürs erste gar nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung zu bringen, wohin die Wasser des Stromes verschwunden waren; die eingeholten Erkundigungen ergaben widersprechende Berichte. 

Es ist überhaupt schwer festzustellen, wie und wann der neue Lauf des Huanghe zuerst von einem Europäer gesehen und als solcher erkannt worden ist; auch können wir uns nicht auf die Einzelheiten dieses fesselnden Kapitels einlassen. Wenige bezeichnende Tatsachen seien noch hervorgehoben: Bei dem Konflikt von England und Frankreich mit China hatte Lord Elgin 1858 den Auftrag bekommen, die Mündung des Huanghe zu blockieren, die an der vermeintlichen Stelle seit mindestens fünf Jahren nicht mehr vorhanden war. Während des weiteren Verlaufs des Krieges geschahen wohl die ersten sicheren Feststellungen über die Existenz und die Richtung des neuen Laufs, aber von einigen der damals in China weilenden Europäern wurde wiederum auf das entschiedenste bestritten, dass der Gelbe Fluss die frühere Mündung des Ji-Flusses in Shandong in Besitz genommen hätte. Eine eigentliche, planmäßige Erforschung des neuen Laufs fand erst Ende 1868 durch Ney Elias statt, und erst seit 1870 erschien der untere Huanghe in seiner veränderten Richtung auf den in Europa gezeichneten Karten. 

Die Gründe für diese erstaunlich langsame Verbreitung der Kenntnis von einem so ungewöhnlichen und großartigen Naturereignis sind jedenfalls sehr mannigfache gewesen. Mit ihrer mutmaßlichen Erörterung können wir uns nicht beschäftigen und wollen nur daran erinnern, dass gerade in den Jahren während und nach der Katastrophe die Taiping-Rebellion auf den Provinzen der Grossen Ebene mit schwerer Hand lastete und überall heillose Verwirrung und furchtbare Verwüstungen anrichtete. Auch der Umstand, dass der Dammriss des Gelben Flusses in der Gegend von Kaifengfu nach 1851 nicht durch gemeinsame Arbeit der Bevölkerung wieder geschlossen wurde, sondern so lange vernachlässigt blieb, bis der Strom sein gesamtes Wasser in die neue Richtung ergossen hatte, wird aus dem Einfluss der drohend angewachsenen und immer weiter nach Norden vorgedrungenen Revolutionsbewegungen zu erklären sein. 

Die Chinesen haben noch nach dieser Zeit verschiedentlich Gelegenheit gehabt zu beweisen, dass sie in einer Zeit politischer Ruhe mit ihrem Gelben Fluss wohl fertig zu werden verstehen. Zwar sind sie nicht imstande gewesen, Ausbrüchen und Überschwemmungen vorzubeugen, wohl aber neue vollständige Verlegungen des Laufs zu verhüten und durch gewaltige Dammbauten den zügellos gewordenen Strom wieder in die vorgezeichnete Bahn zurückzuzwingen. Zweimal hat der Huanghe seit seiner letzten Laufveränderung in großem Massstabe den Versuch gemacht, abermals andere Pfade einzuschlagen, beide Male an der Stelle, wo unterhalb der mehrfach erwähnten Fähre von Sishuixian auch auf der südlichen Seite das Steilufer in die vollkommene Ebene übergeht und wo demnach der Strom zuerst freien Weg nach Süden bekommt, um einem von Norden her geübten Druck auszuweichen. Hier (114° 5') ereignete sich während des Hochwassers 1868 ein Dammbruch und verursachte eine Flut, die sich im folgenden Jahr in weit größerem Umfange wiederholte. Die überschwemmte Fläche soll eine Ausdehnung von etwa 10 000 qkm besessen haben; der Verlust an Menschenleben war wegen der geringen Tiefe des Wassers nicht erheblich, enorm dagegen der Schaden durch die Versandung des Ackerbodens. Damals gelangte zweifellos Wasser aus dem Gelben Fluss in den Yangtsekiang, nämlich zuerst in den Guluhe, dann in den Shahe, weiter in den Huaihe und in den Hongce-See, schließlich in den zum Yangtse führenden Kaiserkanal. Trotzdem es damals und auch noch später eine Streitfrage bildete, ob man den Huanghe mit größerem Nutzen in seinem nördlichen oder in seinem südlichen Bett festhalten würde, entschied man sich für das erstere, und so wurde der große Dammriss bis zum Februar 1870 mit einem Aufwand von angeblich 2 Millionen Taels (7 Millionen Mark) wieder geschlossen. 

Im Frühherbst 1887 aber brach der unbändige Strom fast an derselben Stelle (114°) nochmals aus und richtete diesmal eine so entsetzliche Verwüstung an, wie sie angeblich seit langer Zeit ihresgleichen nicht gehabt hatte. Durch das Hochwasser wurde eine Fläche von fast 20000 qkm schwer, eine weitere von 30000 qkm mehr oder weniger geschädigt; mehrere tausend Ortschaften sollen überflutet gewesen sein, etwa 7 Millionen Menschen nach den chinesischen Berichten, in Wahrheit wohl immerhin noch l-2 Millionen, ihren Tod in den Fluten gefunden haben. Die Wasser nahmen denselben Weg wie 1868-69, nämlich durch den Guluho und Shahe zum Huaihe und schließlich zum Yangtse. Wiederum wurde die Verwaltung und Bevölkerung des Flusses Herr, und im Januar 1889 war der Damm wiederhergestellt, der Gelbe Fluss in seine 1851-53 gewählte Richtung zurückgelenkt. Mit der Erwähnung dieser wichtigsten Tatsachen aus den letzten Jahrzehnten schließen wir die historische Erörterung über den Huanghe, um auch unsererseits einer Überflutung durch den Gelben Fluss einen Damm entgegenzusetzen [...]